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Schreiben und Musik, Störung und Stille

Der zweite Text einer Trilogie des Autors Rainer Wieczorek ist erschienen: die "Tuba-Novelle". In der Novelle erzählt er über den Zusammenhang von Schreiben und Musik, dabei nehmen Beckett und eine Tuba die Hauptrollen ein.

Von Bettina Hesse | 27.09.2010
    "Nicht stören! - Er schreibt."

    So beginnt die Tuba-Novelle, unmittelbar eintauchend in den Prozess künstlerischer Produktion, doch geht es nicht um die Befindlichkeiten eines Essayisten, es geht um mehr. "Nicht Stören, er schreibt" ist Programm! Der Protagonist sitzt mit Blick auf die Grasnarbe im Souterrain seiner Wohnung und will einen Essay über Beckett in Ussy schreiben. Nach Ussy-sur-Marne zog Beckett sich zurück, wenn ihm Paris zu viel wurde, in diesem Refugium durchlebte der Nobelpreisträger auch fundamentale Schreibkrisen. Neun Monate hat nun der Autor Zeit für seinen Essay, finanziert durch ein Stipendium. Doch beim vorsichtigen Verfassen erster Probeseiten ertönt plötzlich aus dem spanischen Haus gegenüber eine Tuba. Tonleitern. Staccato-Übungen. Pralltriller.

    "Er wollte schreiben und hörte doch immer nur zu."

    Dieses Dilemma entwickelt eine eigene Dynamik. Anstatt über seine zunehmende Schreibhemmung zu lamentieren, spielt der Stipendiat lieber mit dem Öffnungswinkel des Fensters und sinniert darüber, wie man mit weit geöffnetem Fenster vielleicht über Robert Walser schreiben könnte, für die Beschäftigung mit Beckett aber die Fenster verrammelt sein müssten, wie im Endspiel.

    So beginnt der Essayist, jede Ablenkung oder Störung durch das Tuba-Spiel zu reflektieren und mit der Zeit konstruktiv zu nutzen, um seinem Gegenstand Beckett näherzukommen. Wie die Töne des Tubisten zu ihm durchdringen, so bemüht er sich, seinen Stoff zu durchdringen, und begreift, was die Kunst des Essayisten ausmacht, nämlich:

    "Einen Tatbestand genauer erfassen zu können, als der Verstand es tut."

    Die anfängliche Abwehr der Übungsläufe, die das Schreiben unterbrechen und immer mehr zum Versiegen bringen, verwandelt sich allmählich in ein Verstehen der produktiven Dynamik zwischen Störung und Stille, zwischen Unterbrechung und Nachdenken, bis es einem Sich-Versenken in die Materie, dem assoziierenden Einfühlen in Becketts Lebens- und Arbeitssituation in Ussy freien Lauf lassen kann. Gleichzeitig tauchen Erinnerungen an den eigenen Vater und dessen musikalische Ambitionen auf. Als der Tubist dann bei Hindemith angelangt ist, sind dem Essayisten wesentliche Einsichten über den Cello übenden Vater gelungen und zudem ist er Beckett in dessen Reduziertheit gefolgt.

    Dass dieses innige Wechselverhältnis zwischen Tönen und Schreiben schließlich zu einer Art Abhängigkeit führt, verwundert nicht. Beim erstaunten Musikalienhändler ersteht der Protagonist sogar ein silbernes Tuba-Mundstück aus New York und legt es auf seinen Schreibtisch, in der Hoffnung, dass es einmal das Buchcover zieren wird.

    An dieser Stelle werden Erzähler und Autor eins: Das Cover der "Tuba-Novelle" ziert tatsächlich ein ebensolches Mundstück, es funkelt auf der Grafik eines überdimensionalen Bassschlüssels. Die Reflexion über den künstlerischen Entstehungsprozess - hier als der Raum, der sich zwischen der Basslinie des Tubisten und der Beckett affinen, kargen Melodie des Essays auftut -, ist bei Rainer Wieczorek ein zentrales Motiv. Es verbindet diese Novelle mit dem ersten Text seiner gedanklich wie sprachlich bestechenden Trilogie: "Zweite Stimme". Dort ging es um einen Künstler, der mit seinen ungewöhnlichen Aktionen selbstbestimmte Arbeit leistet, während sein Freund und Archivar versucht, die Einmaligkeit und Integrität dieser Kunst durch ein Unter-Verschluss-Nehmen zu erhalten.

    Es taucht die Frage auf, warum Rainer Wieczorek für seine Texte anstelle des Romans die Novellen-Form wählt?

    "Der Roman, der verliert sich leicht in der Welt, hat viele Spielorte, großes Personal, und das ist ein Akt der Sammlung, der hier in dieser Novelle stattfindet. Und da ist eine Form, die nur einen Ort kennt, vielleicht nur eine oder zwei Personen, da war für diese Sammlung die Novellenform genau das Richtige, und liefert gleichzeitig auch einen Gegenpart zu unserer Zeit mit ihrem schneller, höher, weiter."

    Die Novelle zeichnet sich ja auch durch eine Neuigkeit, eine unerhörte Begebenheit aus. Musikalisch betrachtet: Enthält die Tuba-Novelle diesen Paukenschlag?

    "Den Paukenschlag haben wir hier auch, aber er ist invertiert, er ist in Stille verwandelt."

    Die "Tuba-Novelle" lebt von den raschen Schnitten und einem wunderbaren Doppelsinn der Sprache. "Spielräume" heißt eins der Kapitel und bringt, wie viele andere, die wesentlichen Motive sprachspielerisch auf den Punkt, besser gesagt Kontrapunkt: wie der Wunsch, in der Störung Musik auszumachen und damit die Verstörung zu überwinden; oder das "Aufmachen" zum Beckettschen auratischen Kosmos hin, ähnlich der Durchlässigkeit gegenüber der Erinnerung an den eigenen Vater, der nie gestört werden wollte. Der genaue Umgang mit der Sprache bildet das Gerüst, er liefert gewissermaßen die Notenlinien für die Musik des Textes, der durch und durch musikalisch ist.

    Die Widmung im Buch lautet "Musik ist Erinnerung", stimmt diese Behauptung?

    "Ja. Musik ist ja oft nur ein Träger von Erlebnis-Engrammen, entscheidend ist ja, was haben wir mit der Musik erlebt, und es ist wie ein Speicher, und wenn wir nicht darauf vorbereitet sind und das Richtige erleben, dann wird dieser Speicher oft wieder freigegeben. Die Engramme werden wieder dem Erleben zugeführt."

    Am Ende ist es das Pianissimo, mit dem der Protagonist, sich völlig dem Klang der Tuba überlassend, Beckett nähern kann, bis er beim Tacet ankommt: ein Schweigen für Beckett. Ein Schweigen zwischen zwei Buchdeckeln, das einen Titel trägt und damit zitierfähig wird. Davon erzählt die Tuba-Novelle klangvoll, feinsinnig und beredt.


    Rainer Wieczorek, Tuba-Novelle, Dittrich Verlag 2010, 120 Seiten, 14,80Euro