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Schrieb Verdi noch eine zweite komische Oper?

Eine immer aktuelle politische Geschichte ist Verdis Oper "Simon Boccanegra". Für unsere Zeit gibt es eine Menge zu deuten. An der Englischen Nationaloper in London hat sich das Stück der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov vorgenommen.

Von Jörn Florian Fuchs | 09.06.2011
    Die Handlung ist einfach kompliziert. Oder einfach und zugleich kompliziert. Wir sind im 14. Jahrhundert und erleben den ungewöhnlichen Aufstieg des ehemaligen Freibeuters Boccanegra zum Dogen von Genua. Das dauert nicht einmal dreißig Musiktheaterminuten, danach überspringt Verdi 25 Jahre relativ ruhigen Regierens, um in den restlichen eineinhalb Opernstunden Boccanegras Fall zu zeigen - und die Versöhnung zweier bis aufs Blut verfeindeter alter Männer. Es ist der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum (oder, wenn man die Profession Boccanegras bedenkt, krimineller Unterschicht), die sich wie ein blutroter Faden durch das Stück zieht. Natürlich geht nichts ohne Binnen-Intrigen und Liebesgeschichten, dazu kommt eine etwas wirre Familienzusammenführung: Boccanegra hatte nämlich mit der inzwischen verstorbenen Tochter seines adligen Kontrahenten ein Kind, das als verschollen galt. Nachdem Amalia nun auftaucht, will sie in höhere Stände heiraten, statt einen Plebejer zu ehelichen, wie es der Vater wünscht. Stracks rächt sich letzterer und vergiftet den Dogen. Starker Tobak, das alles!

    Der aktuell als Überflieger im Opernbetrieb gehandelte Russe Dmitri Tcherniakov lässt das Mittelalter sein und versetzt den Prolog ins Nordamerika oder Großbritannien der Sechziger Jahre. In einer Edward-Hopper-Bar sitzen zu Beginn Männer in grauen Trenchcoats, aus einer Limousine steigen zwei sinistre Gesellen, diskutieren ein wenig und kommen wie nebenbei zum Entschluss, Boccanegra solle Herrscher werden. Dieser nimmt an, die Mantelträger jubeln und verstreuen sich in hyperrealistischen Häuserschluchten. Zur hier eher grüblerischen Musik Verdis (man spielt die zweite Fassung der Oper) passt diese Atmosphäre à la Mad Men recht gut. Es folgt ein Zwischenvorhang mit einer kurzen Zusammenfassung des Geschehens als Leuchtschrift, ein Stilmittel, das Tcherniakov noch öfters einsetzt. Und nun der technische Clou des Abends, auf dem Vorhang flimmert eine Projektion des vorherigen Bühnenbilds, als sich der Vorhang öffnet, verkleinert diese sich immer weiter und wird zu einem an der Wand hängenden Gemälde. Davor lümmelt sich Amalia in einen Sessel, mit freier Schulter, im Minikleid. Links sorgt ein großes Milchglasfenster für trübes Licht, von rechts kommt bald der unerwartete Papa herein und nun wird's leider sentimental, kitschig und unfreiwillig komisch. Wir sind in den Achtziger Jahren angelangt, in schmucklosen Konferenzsälen wird über Machterhalt und Machtverlust debattiert, zeitweise auch ein wenig ungelenk gekämpft. Ab und an taucht die alte Straßenzeile samt Hopper-Bar als Einblendung auf, wohl eine Art Erinnerungsflash. Wenn echte Emotionen gefragt sind, zwischen Vater und Tochter oder Tochter und Liebhaber, lässt Tcherniakov die Protagonisten überpathetisch agieren, was im Publikum öfters Lacher hervorruft. Besonders missglückt sind die Auseinandersetzungen im Schlussakt, da grummelt Boccanegras Noch-Feind Fiesco im Bürostuhl vor sich hin, während der eigentlich bereits halb tote Doge wie auf Drogen herumrennt und sich ein Hütchen aus Zeitungspapier aufsetzt. Amalia eilt im weißen Glitzer-Brautkleid hinzu, ihr Beinahe-Gatte trägt einen schnieken Anzug von der Stange. Man vertilgt Sandwiches, rennt durcheinander, laboriert an inneren Krämpfen und Zuckungen. Und wenn gar nichts mehr hilft, dann geht es zum fröhlichen Stühleumwerfen, was umwerfend banal wirkt. Nach dem Tod des Dogen dämmert Fiesco langsam ein, das Brautpaar indes beginnt einen furchtbaren Streit mit Jammern, Schreien und Schluchzen. Warum, weiß wohl keiner so genau, auch nicht Tcherniakov, der beim leicht buhigen Applaus recht ratlos wirkte.

    Musikalisch stand der Abend unter einem guten Stern. Edward Gardners Verdi-Zugang ist straff, konzentriert, zugleich sehr atmend und auch das Ensemble rund um Bruno Caproni als Boccanegra machte seine Sache ausgezeichnet.