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Schriften - Dits et Ecrits

Wir haben das Vergnügen, heute Michel Foucault bei uns zu haben. Wir waren etwas ungeduldig, bis er kam, und etwas beunruhigt über seine Verspätung, aber er ist da. Ich stelle ihn Ihnen nicht vor, es ist der ‚echte' Michel Foucault, der von Les mots et les choses, der der Dissertation über den Wahnsinn.

Klaus Englert | 08.07.2002
    Nach der Vorstellung durch Jean Wahl betritt also der "echte" Michel Foucault das Podium des ehrwürdigen Collège de France. Er beginnt seinen Vortrag über das unheilvolle Beziehungsgeflecht von Vernunft und Gewalt:

    Es ist bekannt, daß sich die abendländischen Staaten seit der Antike auf die Vernunft berufen haben und daß gleichzeitig das System der Macht ein System der Gewaltherrschaft war, blutig und barbarisch. (...) Dazu sage ich: Kann man davon ausgehen, daß diese blutige Gewaltherrschaft irrational ist? Ich würde sagen nein. Und ich glaube, daß es in der Geschichte des Abendlandes wichtig ist, daß man Herrschaftssysteme gefunden hatte, die von äußerster Rationalität sind. Es hat lange gedauert, bis man dahin kam. Dazu gehört ein ganzes Ensemble von Zielsetzungen, Techniken und Strategien: In der Schule, bei Militär und in der Fabrik herrschen Disziplin. Das sind äußerst rationale Herrschaftstechniken. Ganz abgesehen von der Kolonisation. In ihrer blutigen Gewaltherrschaft ist die Kolonisation eine wohlüberlegte, gewollte, bewußte und rationale Herrschaftstechnik. Vernunft ist eine blutige Macht.

    Diese Rede Michel Foucaults ist in einer vierbändigen Werkausgabe veröffentlicht, die weit mehr als 3.000 Seiten umfaßt. Vor acht Jahren erschien die vollständige französische Edition, herausgegeben von dem Philosophen François Ewald und Daniel Defert, dem langjährigen Lebensgefährten Foucaults. Trotz des riesigen Umfangs haben die beiden strenge Auswahlkriterien angewandt. Zunächst ließen sie sich von Foucaults Nachlaßverfügung leiten, die eine "posthume Veröffentlichung" untersagte. Ebenfalls wurden Hauptwerke wie Les mots et les choses und die nicht zur Veröffentlichung bestimmten Vorlesungen im "Collège de France" ausgeklammert. Es bleiben Artikel, Rezensionen, Interviews und Vorworte, die Foucault bis zu seinem Tod im Jahre 1984 zur Publikation freigab. Und davon gibt es eine fast unüberschaubar große Menge.

    Zudem bringt Daniel Defert in einem einleitenden biographischen Abriß so manchen Auszug aus seiner Korrespondenz mit Foucault unter. Lobenswert ist besonders eine nach Jahren wieder zugänglich gemachte Schrift des Mediziners und Philosophen: Seine Einleitung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers Traum und Existenz. Dieser Aufsatz von 1954, der deutlich die existentialistischen Einflüsse des jungen Michel Foucault belegt, steht am Anfang des 1. Bandes der deutschen Werkausgabe. Die 1.075 Seiten, die allein die Zeitspanne bis 1969 umfassen, lassen den verblüffenden Arbeitseifer erahnen, den Foucault täglich für seine Vorträge, Bücher, Aufsätze und Artikel aufwandte. Sie zeigen auch, wie wichtig ihm die in vielen Ländern gegebenen Interviews waren, mit denen er in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit eingegriffen hatte. Das gilt vor allem für Deutschland, Italien und die Vereinigten Staaten, aber auch für Brasilien, wo ein Buch über "Wahrheit und Rechtsformen" erschien. Daniel Defert meint dazu:

    Ich kann mir nicht vorstellen, daß heute französische Intellektuelle derart intensive geistige Kontakte zu anderen Ländern mit ihren verschiedenen politischen und kulturellen Traditionen pflegen. Dies macht die Rezeption Foucaults in der Welt verständlich. Nehmen wir das Beispiel Japan. Er hatte ein enges Verhältnis zu den Japanern, da er ihre Kultur kannte. Das gleiche gilt für die Vereinigten Staaten, wo er alles andere als ein Gastprofessor war.

    François Ewald, Foucaults enger Weggefährte, beschreibt, daß die nun veröffentlichten kleineren Arbeiten gegenüber den Hauptwerken durchaus einen eigenen Wert darstellen:

    "Foucault hat in seinen Interviews, seinen Vorlesungen und Artikeln unablässig das, was er geschrieben hatte, wieder aufgegriffen, verändert und im Sinne eines Werks oder zumindest eines Denkens weitergeführt.

    Ähnlich hat auch Michel Foucault den Stellenwert seiner nun publizierten kleineren Arbeiten beschrieben. In einem Interview für eine italienische Zeitschrift charakterisierte er sie als Reflexionen über ein gerade veröffentlichtes Buch, aber auch als ein Zwischenbericht über ein work in progress. Mit den Artikeln und Interviews gibt Foucault also Einblick in sein geistiges Laboratorium. Er selbst sprach von einer Experimentierwerkstatt, in der die Versuchsanordnungen nach Bedarf ausprobiert werden. Foucault bekannte, daß sich diese Haltung auf die eigenen Projekte auswirkte. Aber auch auf das eigene Ich:

    Ich denke niemals völlig das Gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind, Erfahrungen im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. Ich habe meine Bücher immer als unmittelbare Erfahrungen wahrgenommen, die mich von mir selbst wegreißen und die verhindern, daß ich mir gleich bleibe.

    Der Sammelband richtet sich vor allem an den Leser, der sich von den Hauptwerken wie Histoire de la folie à l'âge classique oder Les mots et les choses eher einschüchtern lässt. Ein 1966 für die Literaturzeitschrift "La Quinzaine littéraire" gegebenes Interview bietet sogar einen doppelten Vorteil: Es gibt einen vorzüglichen Einblick in Foucaults Gedankengebäude und es expliziert gleichzeitig die grundlegenden Thesen, die erst drei Jahre später in Archäologie des Wissens erscheinen werden. Am Ende dieser "Archäologie", die viele für sein wichtigstes Werk halten, hat Foucault eine Konklusion geschrieben, die sich beim Lesen als ein fiktiver Dialog zwischen Sartre und Foucault selbst entpuppt. In dem Gespräch wird der Dissens zwischen beiden als Generationen- und Paradigmawechsel beschrieben. Einige Jahre zuvor heißt es:

    Die Generation von Sartre war couragiert und großzügig, sie besaß eine Leidenschaft für das Leben, die Politik und die Existenz. Wir aber haben etwas vollkommen anderes, eine andere Leidenschaft entdeckt: eine Leidenschaft für den Begriff und für das, was ich ‚System' nenne. Zu allen Zeiten waren die Menschen in der Weise, wie sie dachten, schrieben, urteilten und sprachen, waren sie in ihrem ganzen Verhalten von einer theoretischen Struktur, einem System beherrscht, das sich mit den Epochen und Gesellschaften ändert - das aber in allen Epochen und Gesellschaften vorhanden ist. (...) Wir denken im Inneren dieses anonymen Denkens. (...) Die Aufgabe der heutigen Philosophie und der theoretischen Fächer besteht darin, dieses Denken vor dem Denken manifest zu machen, dieses System vor dem System. Denn es bildet den Grund unseres Denkens.

    1966: das war das Jahr, in dem Foucault den berühmten Ausspruch prägte: "In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken". Und er verkündete mit nietzscheanischem Optimismus: "Man kann sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." Diese Äußerungen, über die sich ganze Philosophengenerationen die Köpfe zerbrochen haben, sind in dem vorliegenden Sammelband in ihrer Genese genau nachvollziehbar. Foucault kommt immer wieder auf seinen Heros Nietzsche zu sprechen, der unablässig die Selbstermächtigung des Subjekts kritisierte. Der den Menschen brüskierte, der sich anschickte, die Stelle Gottes einzunehmen. Für die gegenwärtige Philosophie zieht Foucault daraus die folgende Konsequenz:

    Es ist heute unsere Aufgabe, uns endgültig vom Humanismus loszusagen. Diese Arbeit wird notgedrungen eine politische sein, (...) denn alle Regime im Osten und Westen verhökern ihre miserablen Waren im Tempel des Humanismus. (...) Es bringt mich gegen den Humanismus auf, daß er sich als ein Paravent geriert, hinter dem sich das reaktionärste Denken verkriecht, hinter dem sich die abscheulichsten und unglaublichsten Bündnisse zusammenschließen.

    Das war Mitte der sechziger Jahre eine beißende und kompromißlose Humanismus-Kritik. Zwar hatten schon Nietzsche und Heidegger das souveräne Subjekt der abendländischen Geistesgeschichte vom Thron gestoßen. Aber Foucault wollte ihm den endgültigen Todesstoß versetzen. Deswegen untersuchte Foucault nicht den Menschen, sondern lieber die menschliche Rationalität. Er untersuchte, wie die Rationalität instrumentalisiert wurde, um die Subjekte gefügiger zu machen. In seiner Rede hatte Foucault die Entwicklung der Rationalität mit der Ausbildung der Disziplin in Schule, Armee und Fabrik in Verbindung gebracht. Dabei ging er sogar so weit, die Vernunft - französisch "raison" - unter Generalverdacht zu stellen:

    Im Deutschen hat ‚Vernunft' eine weitere Bedeutung als das französische ‚raison'. Der deutsche Begriff umfaßt eine ethische Dimension. Im Französischen besitzt er dagegen eine instrumentelle, technologische Dimension. Im Französischen ist die Vernunft die Folter.

    Natürlich war diese Gleichsetzung für den deutschen Hörer eine Provokation. Aber Foucault hat seit seinem Buch über die Einschließung der Wahnsinnigen von 1961 nachgewiesen, daß das Wissen zum Zwecke der besseren Überwachung eingesetzt wurde. Er zeigte, daß man den Internierten zusehends zum Objekt einer positivistischen Wissenschaft degradierte, und daß gleichzeitig der Arzt die Ordnung, die Autorität und die Züchtigung verkörperte (Histoire de la folie, S.485, 525). Für Foucault ist dies das Modell der großen Einsperrung im 17. Jahrhundert, - ein Modell, das bereits bei den Leprakranken angewandt wurde. In seinem Buch Überwachen und Strafen von 1975 zeigte er schließlich auf, daß die Behandlung der Pestkranken diese zweiteilende Grenzziehung zwischen Gesunden und Kranken überwand: Es galt nun das Modell der inneren Trennungen, der Verzweigung der Macht, der in die Tiefe gehenden Überwachungen (ÜS, S.254). Diese grundlegende Verbindung von Rationalität und Macht kommentiert Foucault in einem Interview:

    Mir geht es um die Analyse eines bestimmten Typs von Machttechnik, die in Institutionen, wie etwa Irrenanstalten und Gefängnissen, an politische und gesellschaftliche Strukturen gebunden ist. (...) Ich beschäftige mich nicht mit der Geschichte der Institutionen oder der Ideen, sondern mit der Geschichte dieser Rationalisierung, wie sie sich in diesen Institutionen und in der Lenkung dieser Menschen ausprägt. Die Rationalität ist das Gefährlichste an der Gewalt, die in der Rationalität ihre tiefste Verankerung findet. Man solle nicht glauben, daß uns die Vernunft von der Gewalt befreit. Im Gegenteil, beide sind durchaus miteinander vereinbar. Mir geht es nicht darum, der Vernunft den Prozeß zu machen, sondern das Wesen dieser Rationalität aufzuklären.

    In seiner Rede macht Michel Foucault deutlich, daß das Gefängnis seine eigene Rationalität hervorbringt:

    Im Gefängnis wird die anfangs bestehende Mikro-Delinquenz in eine Makro-Delinquenz verwandelt. Das Gefängnis produziert und fabriziert Delinquenten, professionelle Delinquenten. Man möchte sie sogar haben, weil sie nützliche Delinquenten sind: Sie revoltieren nicht. Sie sind nützlich, manipulierbar - sie sind manipuliert.

    Aus dieser Analyse der Rationalität gewinnt Foucault die ethische Dimension seiner Arbeit:

    Ich möchte gerne die Geschichte der Besiegten schreiben. Es ist ein von vielen geteilter Wunsch: Denen das Wort geben, die es bis heute nicht besitzen, die durch die Geschichte zum Schweigen verurteilt sind, durch die Gewalt der Geschichte, durch die Herrschafts- und Ausbeutungssysteme.

    Es ist immer wieder erstaunlich, selbst in den kleinen Arbeiten Foucaults das aufzuspüren, was er schon 1954 als die "ursprünglichen Formen des Denkens" bezeichnet hatte. So beschrieb er 1962 in der Rezension "Ein so grausames Wissen" die Urform rationaler Gewaltausübung: Den Käfig, der das menschliche Subjekt zum absoluten Objekt degradiert:

    Der Käfig ist eine Figur ohne jegliche Vermittlung: Das Objekt, ausgeliefert dem Subjekt. Die Ohnmacht, ausgeliefert der Macht. Der Käfig impliziert ein triumphierendes Wissen, das über das sklavische Unwissen herrscht. Mit dieser Einschließungstechnik beginnt die Epoche eines instrumentellen Wissens, das sich der gewissenhaften Ordnung einer technischen Verfolgung angleicht.

    Diese Formulierung findet sich 13 Jahre später in Überwachen und Strafen wieder. Allerdings hat sich inzwischen das Analysespektrum ausgeweitet. Foucault beschreibt in diesem Buch das offenbar perfekte Überwachungsssystem: Die panoptische Anlage, die lückenlos den gesamten Raum gliedert und überwacht. Damit wird die individualisierende Gestalt des Käfigs überflüssig. Denn das Panopticon kann man in den unterschiedlichsten Institutionen anwenden: Es garantiert eine perfektionierte Machtausübung über Sträflinge, Kranke, Schüler, Arbeiter, Bettler und Müßiggänger.

    Liest man die Hauptwerke oder die in dem Sammelband vereinigten kleineren Schriften, dann könnte man meinen, Foucault sei ein unverbesserlicher Pessimist und Zyniker. Nichts von allem. Gerade an einigen Stellen der Interviews zeigt sich das andere Gesicht des Michel Foucault:

    Ich würde sagen, das Bewußtsein von der Schwierigkeit der Bedingungen ist nicht notwendig Pessimismus. Gerade als Optimist sehe ich um so klarer die Schwierigkeiten. Man könnte auch sagen: Weil ich die Schwierigkeiten sehe - und sie sind enorm -, ist eine Menge Optimismus notwendig, um sagen zu können: Beginnen wir von neuem! Dieser Neuanfang muß möglich sein. Die Analyse, die Kritik neu beginnen - nicht einfach die Analyse der sog. ‚kapitalistischen' Gesellschaft, sondern die Analyse des machtvollen gesellschaftlichen und politischen Systems, das man in den kapitalistischen und sozialistischen Ländern vorfindet. Diese Kritik ist heute zu leisten. Natürlich ist das eine enorme Aufgabe. Aber man muß damit anfangen, heute und mit viel Optimismus.