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Schriftsteller Hassan Blasim
Das Eigene im Fremden erkennen

Hassan Blasim hat mit seinen Kurzgeschichten unter dem Titel "Der irakische Christus - The Iraqi Christ" vor einem Jahr den wichtigsten englischen Preis für ausländische Literatur gewonnen. Der irakische Filmemacher, Schriftsteller und Blogger ist der erste arabische Autor, der den Independent Prize for Foreign Fiction erhielt.

Von Brigitte Neumann | 16.11.2015
    Dieses Buch erscheint genau zum richtigen Zeitpunkt. Es hilft zu verstehen, was da gerade passiert: In diesem Jahr werden rund eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen, viele davon aus dem Nahen Osten - Irak, Afghanistan, Syrien. Was haben sie hinter sich? Die Kurzgeschichten des 42-jährigen Irakers Hassan Blasim können bei der Beantwortung dieser Frage weiterhelfen, denn sie spielen an der Bruchstelle zwischen einer monströs gewordenen Außenwelt und der Innenwelt seiner Figuren, die versehrt oder vollkommen aus dem Lot geraten ist. Sie handeln von Krieg und Flucht und wie die Menschen versuchen, ihre Erfahrungen auch seelisch zu überleben.
    Krieg und Flucht
    Der Blogger, Filmemacher und Schriftsteller wählt dafür einen spürbar an Garcia Marquez' magischem Realismus geschulten Stil. Und macht in dieser Form den hiesigen Lesern ein Angebot, nämlich das Eigene im Fremden zu erkennen, eine innere Verwandtschaft mit den nach Europa strebenden Menschen. Hassan Blasim:
    "Das ist eine große Frage für Europa. Viele Leute haben Angst vor diesen vielen Flüchtlingen. Und Angst davor, mit dieser großen Tragödie in Berührung zu kommen."
    Die Angst vor Flüchtlingen
    Die Iraker werden seit 35 Jahren von Kriegen heimgesucht. Kriege wie "aus der Kopiermaschine", heißt es in der Erzählung "Tausendundein Messer" – 1980 der Iran-Irak-Krieg; dann Saddam Husseins Überfall auf Kuwait, gefolgt von harten Wirtschafts-Sanktionen des Westens, die die irakische Mittelschicht zerstörten; 2003 die Besetzung des Iraks durch eine internationale Streitmacht; die Hinrichtung Saddams 2006, Wechsel zu einer von Iran unterstützten schiitischen Regierung, Formierung der sunnitischen Terrororganisation "Islamischer Staat". "Das konfessionelle Geköpfe" heißt es in einer der Stories von Hassan Blasim, es fing damals schon an.
    Etwas mehr als die Hälfte seiner 24 Erzählungen handelt vom Krieg, die anderen von der Flucht nach Europa und der meist schwierigen Eingewöhnung hier. In Blasims Fall gab es ein Happy End.
    "Ich lebe jetzt seit 10 Jahren in Finnland. Und ich liebe es hier. Ich komme aus dem Krieg. Hier ist es so unglaublich friedlich und dann diese großartige Natur. Es ist ein wunderbares Land. Mein Sohn ist hier geboren. Er ist nun acht Jahre alt. Nach zehn Jahren habe ich so etwas wie Wurzeln ausgebildet hier in Finnland. Meine Freundin ist hier. Ich habe Arbeit. Ich bin glücklich."
    Immer auf der Suche nach einem Ort
    Vier Jahre dauerte Blasims Odyssee durch Europa als sogenannter Illegaler, immer auf der Suche nach einem Ort, wo man ihm erlaubte zu bleiben. Derweil sammelte er Geschichten, selbst erlebte und solche, die ihm zugetragen wurden, wie die unter dem Titel "Ein LKW nach Berlin". Ein serbischer Schlepper packt 35 junge Iraker in seinen fast luftdicht verschlossenen Anhänger, fährt auf einen Acker und macht sich davon. Die Männer krepieren unter Umständen, die kein Horrorfilm je zeigen würde. Der Erzähler dieser Geschichte deutet nur die Geräusche, die nach außen dringen, als wäre er ein Insekt, das an der Außenwand des Lasters klebt. Seinem Bericht schickt er folgenden Satz voraus:
    "Für mich ist die Welt äußerst fragil, furchterregend und unmenschlich. Sie braucht nur eine kleine Erschütterung, und schon zeigt sie ihre hässliche Fratze und ihre Urtierhauer."
    Die meisten von Blasims Geschichten sind Rahmenerzählungen. Eine Person, manchmal mit Namen Hassan Blasim, beschreibt einführend die Umstände eines Ereignisses, einer Begegnung. Dann lässt er Kriegs-Opfer oder Flüchtlinge aus der Ich-Perspektive berichten. Oft handelt es sich um traumatisierte Menschen, wie zum Beispiel den auf der Flucht vergewaltigten Jungen, der ganz auf sich gestellt, mit seinen schrecklichen Erinnerungen nicht mehr leben kann und den Freitod wählt. Oder, eine der besten Geschichten, "Die Albträume des Carlos Fuentes": Ein Iraker erhält Asyl in den Niederlanden, wechselt seinen Namen, heiratet eine Holländerin, lernt die Sprache akzentfrei, arbeitet fleißig, fügt sich lückenlos ein, aber nach ein paar Jahren beginnt das Grauen.
    Blasims Geschichten sind Rahmenerzählungen
    Jede Nacht kommen die Gespenster seiner Vergangenheit über ihn. Er kann sie nicht mehr abschütteln. In einer weiteren Geschichte erfahren wir von einem Bagdader Ambulanzfahrer, der in Malmö, Schweden, vor dem Anhörungskomitee sitzt und in großer Hast von seiner Entführung durch den IS erzählt. Die Milizionäre hätten ihn geschlagen und gezwungen, für Youtube Videos zu posieren und politische Forderungen an die Adresse westlicher Imperialisten zu verlesen – ein halbes Dutzend abgeschnittener Köpfe vor sich auf dem Tisch. Die Kurzgeschichte heißt "Archiv und Wirklichkeit", denn:
    "Jeder, der ins Aufnahmezentrum für Flüchtlinge kommt, hat zwei Geschichten: Eine, die der Wirklichkeit entspricht, und eine andere, die fürs Archiv gedacht ist. Die Geschichten, die fürs Archiv gedacht sind, werden von den Neuankömmlingen erzählt, um als Flüchtling aus humanitären Gründen anerkannt zu werden. Die eigentlichen Geschichten aber bleiben in der Brust der Flüchtlinge verwahrt. Das heißt aber nicht, dass die Grenzen zwischen beiden Narrativen leicht zu ziehen sind. Die beiden können sich bis zur Unkenntlichkeit vermischen."
    Die Schweden bringen den spürbar entgleisten Asylbewerber in eine psychiatrische Klinik, wo er dem Arzt seine wahre Geschichte anvertraut. Sie beginnt mit dem flehentlich vorgetragenen Satz: "Ich möchte gern schlafen."
    "Man wird verrückt, wenn man diese ganze Gewalt um sich herum sehen muss. 15 Jahr in einem Gefängnis eingesperrt zu sein und gefoltert zu werden, das macht einen verrückt. Das ist ganz klar. Der Mensch wird ziemlich schnell verrückt. Wir fragen uns aber auch, wie wir diese ganze Gewalt überhaupt bisher überleben konnten. Wir leben in einer verrückten Welt. Die Europäer glauben vielleicht, dass sie vor dieser Art Verrücktheit gefeit sind, aber denken Sie an den Krieg in Bosnien und Serbien. Und wie das mit Russland ausgeht, ist auch noch nicht ausgemacht... Wir sind nicht sicher!"
    Infernalische Wirklichkeit
    Ein wenig seltsam wirken sie alle, die Unglücklichen, von denen Hassan Blasim erzählt. Denn, und das wird beim Lesen allmählich klar, das Seltsam-Werden ist die angemessene Reaktion der menschlichen Seele auf eine infernalische Wirklichkeit. Entsprechend wählt Blasim einen surrealen Erzählton, der das Bodenlose, die Auflösung der Realität, die Existenz in Angst und Schrecken und ohne verlässliche Bezugspunkte, ja - die Absurdität des Lebens in der "täglichen Blutmühle" Irak, wie Blasim schreibt, nachzeichnet.
    Wer gestern noch Freund war, kann heute schon zum Feind geworden sein, denn der Hunger macht Menschen zu Ungeheuern. Wo gestern noch ein Krankenhaus, ein Hotel, ein Basar stand, kann heute alles in Trümmern liegen. Gewalttäter diktieren die Regeln im Land. Und die Toten nisten sich in der Seele der Lebenden ein, die vor Angst und Scham davongekommen zu sein, irrewerden. Niemand, der unter diesen Zuständen leben muss, kommt heil davon, sagt uns Hassan Blasims Buch.
    Die Lektüre seiner Kurzgeschichten unter dem Titel "Der Verrückte vom Freiheitsplatz" stellt einige Anforderungen an den Leser, aber weniger an seine Offenheit für den Stil des magischen Realismus' oder an seine Kenntnisse der Verhältnisse im Irak, es sind eher Anforderungen an seine Mitmenschlichkeit. Keine Kleinigkeit, weil sich im Lauf der Lektüre die Einsicht durchsetzt: Die Würde dieser Menschen, die aus dem Krieg zu uns kommen, sie ist untrennbar mit der unseren verbunden.
    Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Kurzgeschichten Kunstmann Verlag In der Übersetzung aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, 256 Seiten, 19,95 Euro