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Schriftsteller, Lektor und Publizist
Zum Tode von Fritz J. Raddatz

Fritz J. Raddatz, der heute gestorben ist, war immer wieder Gegenstand offener und heimlicher Aggressionen. Er schien sich besonders gut für Kritik, auch für Tratsch und Klatsch zu eignen, da er selbst ein besonders auffälliger Akteur in dieser kulturellen Szene war und einige Fehler als Autor und Feuilletonchef der ZEIT gemacht hatte. Mit dem Erscheinen seiner Tagebücher 2010 änderte sich dies schlagartig.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 26.02.2015
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    Der Journalist und Autor Fritz J. Raddatz, aufgenommen am 17.09.2010 in Hamburg. Der langjährige Feuilletonchef der Wochenzeitung "Die Zeit" ist am 26.02.2015 im Alter von 83 Jahren gestorben, teilte der Rowohlt-Verlag in Hamburg mit. (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
    Fritz J. Raddatz war einer der umstrittensten Autoren von Romanen und Erzählungen, von Essays und Biografien. Er hatte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert, war stellvertretender Cheflektor des Ostberliner Verlags "Volk und Welt", übersiedelte 1958 in die Bundesrepublik, war stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags und Feuilletonchef der ZEIT.
    Tagebücher veränderten sein Leben
    Der 1931 in Berlin geborene Autor hatte noch 2010 seine Tagebücher der Jahre 1982 - 2001 vorgelegt: das Dokument einer lebenslangen Überempfindlichkeit für Verletzungen und Kränkungen und des Gefühls, von fast allen, auch den meisten Freunden, in irgendeiner Weise missbraucht worden zu sein. Daher die ständige Bereitschaft, sich von den anderen zu distanzieren und sich selbst von Grund auf infrage zu stellen.
    Vor diesem Hintergrund schien der 2011 herausgekommene Band "Die Tagebücher in Bildern" von den Bildern her wie aus einer anderen Welt zu kommen: Geradezu überwältigend ist eine Atmosphäre der Begegnungen in Freundschaft und herzlicher Verbundenheit. Die beigefügten Tagebuchaufzeichnungen verstärken oft noch diesen Eindruck:
    "Maria Ledig-Rowohlt: Ich habe ihn geliebt. So wunderbare Abende wie gestern der bei Grass oder vor drei Tagen bei Wunderlich, nach denen man durchaus das Gefühl hat, Freunde zu haben. Den Abend sehr amüsant und berlinisch verlebt."
    Existenzielle Bedrohungen
    Die Tagebuch-Auszüge beschönigen nichts - die kritischen Distanzierungen werden nicht ausgespart -, aber die Tagebücher im Ganzen offenbaren doch eine andere Welt: Voller existenzieller Bedrohungen und Todesahnungen, eine Welt, von Akteuren bevölkert, die uns im Kulturbetrieb als Helden vertraut sind und die hier großenteils monströs erscheinen, getrieben von Ruhmsucht, Neid und maßloser Selbstbezogenheit.
    Ohne die Kenntnis der Tagebücher hätte man von den Porträts, die Raddatz zeigen, das Bild eines immer nur charmanten, sich in Gesellschaft federleicht und selbstsicher bewegenden Herren, einmal in der Haltung eines Yves Saint Laurent zwischen zwei Diven, in Dandy-Pose neben dem versteinert wirkenden Rolf Hochhuth, in vollendeter Eleganz Hildegard Knef die Hand küssend, dann wechselnd in die Rolle eines verlebt-jungenhaften Piraten und Abenteurers.
    Umgeben von Ego-Monstern
    Wüsste man nichts von Raddatz' Entlarvungen der ihn umgebenden Ego-Monster, würde man glauben, dass sich alle lieben und einander aufmerksam zuhören. Bei genauerem Hinsehen aber - und so habe ich es auch immer wieder erlebt - wird eines deutlich: Neugierig den anderen zugewandt ist nur Raddatz, selbst dem manieriert süffisanten Enzensberger oder dem nur ans eigene Werk denkenden Grass. "ICH-ICH-ICH-Gerede" nennt er dies.
    "Ganz exzessiv so bei Grass. Es gab wunderbare gemeinschaftliche, gemeinsame Abende, an denen er auch an meiner Arbeit teilnahm, und dann mitten in dem Abend drehte sich wie ein Schiff vom Winde die ganze Atmosphäre und es geht nur noch Ich Ich Ich Ich."
    Es zeichnete Raddatz aus, dass er sich an den befreundeten Autoren und ihren Werken abarbeitete, auf exemplarische Art und Weise an Grass, wie dies der 2009 erschienene Band "Günter Grass. Unerbittliche Freunde. Ein Kritiker. Ein Autor" beweist. Sie kritisieren sich gnadenlos und sie schätzen einander, sie streiten sich und bewahren immer den Respekt voreinander.
    Rückzug und Selbstaufgabe
    Allen Begegnungen, von denen Raddatz in seinen Tagebüchern so ausführlich erzählt hat, ist eine Gegen- und Unterströmung (die jeder, der mit ihm eng befreundet war, oft schmerzlich erfahren hat) eigen: der Wunsch nach Rückzug bis hin zur völligen Selbstaufgabe als einer öffentlichen Person des kulturellen Lebens. Die Tagebücher erzählen die Geschichte der eigenen hoch dramatisierten Welterfahrung. Zuweilen fragt er sich, ob es richtig war, die eigene Intimsphäre ausgebreitet zu haben.
    "Manchmal bereue ich, dass ich es überhaupt publiziert habe. Das geht auch immer hin und her, dass ich sage, so, ich habe mich nie irgendeiner Sache geschämt oder geniert. Warum soll ich das nicht auch öffentlich zugeben, zumal es ja ernste und sehr reflektierte Passagen, übrigens auch über die Person und das Individuum Fritz Raddatz in den Tagebüchern gibt."
    Weltgewandter Verleger
    Raddatz' Drama war auch, dass seine bedeutsame innovatorische Leistung als stets neugieriger und weltgewandter Verleger und als Feuilletonchef heute weitgehend vergessen sind. Er gehörte einer Generation von Redakteuren an, die für junge Autoren geistige Mäzene darstellten, wie sie es heute nicht mehr gibt. Sein Drama bestand aber auch darin, dass er als Romancier von der deutschen Kritik nicht wirklich anerkannt worden ist. Tag und Nacht schlägt er sich mit dem Vorwurf der "Verintellektualisierung seiner Prosa" herum. Die 2011 erschienene Neuausgabe seiner Erzählung "Ich habe dich anders gedacht" gibt Gelegenheit, das meist sehr abschätzige Urteil seiner Kritiker und Raddatz' Selbsteinschätzung zu überprüfen.
    Diese Ich-Erzählung ist geradezu ein Feuerwerk der Sinne: Alles, was die Hauptfigur Achim Moesgaard im Berlin der Dreißigerjahre erfährt, erfährt sie über die starken visuellen Eindrücke vom Gesicht der Mutter, von der angsteinflößenden Haltung des Vaters und, dazu im Gegensatz, von der Erscheinung des jüdischen Onkels Sami, eines "Fabelwesens mit Augen". Er hat das Leben seines Neffen "anders gedacht".
    Der heranwachsende Junge zieht aus dem Feixen und dem Gelächter, den Erniedrigungen und Kränkungen seiner Kameraden die Konsequenz, ein Streber und dann ein Sieger zu werden, sich dem "Jagdfuchs" genannten Sportlehrer anzuschließen und sich das Nazi-Braunhemd mit Schulterklappen anzuziehen.
    "Ich will dazugehören. Ich will einer von ihnen sein. Ich will der Beste sein. Ich will bewundert werden. Ich will siegen."
    An dieser Stelle fügt sich der individuelle Wille nahtlos ein in die nationalsozialistische Siegerideologie. In diesem Herrenmenschen-Kollektiv fühlt sich der Gekränkte geachtet, der Kleine ganz groß. Jeder kann Olympiasieger werden. Und dennoch fühlt der Einzelne auch weiterhin seine geheimen Sehnsüchte und Ängste:
    "Jeder Körper stößt mich ab. Ein ziehender Ekel. Leib ist Instrument. Ich fasse mich selber nicht gerne an."
    Es ist die große Stärke dieses Buches, die beiden Parallelwelten - die anziehende, von der Bürgerwelt nicht verhinderte Wahnwelt des Nationalsozialismus und die Angst- und Sehnsuchtswelt des Heranwachsenden - darzustellen, wie sie nebeneinander her sich entwickeln und sich teilweise nahtlos ineinander verschränken.
    Irrungen, Wirrungen, Täuschungen
    Gleichzeitig verwandelt sich die eigene Familie in ein Horrorkabinett: Die Mutter erstarrt in "fratzenhafter Abwesenheit", der Vater ignoriert ihre "abgesunkene Wirrnis", der Bruder ist gefallen. Und der Ich-Erzähler? Er liebt den klaren, metallenen Klang der Sirenen; sie bedeuten für ihn Leben und er wünscht sich, die "Sirene" wäre männlich. In sich stetig steigernden Wort-Kaskaden von einer Wucht, wie wir sie aus Hans Henny Jahnns Prosa kennen, wird das eigene Haus als eine "Taifun-Wolke aus Schrei" beschrieben. Irrungen, Wirrungen, Täuschungen und Enthüllungen - alles wird von Raddatz so expressiv erzählt, dass er sich selbst und den Kritikern den Vorwurf einer "verintellektualisierten" Prosa widerlegt.
    Überblickt man heute das Werk von Raddatz, dann lernen wir ihn in diesem Fall als den literarischen Autor eines besonders ausdrucksstarken "Lehrstücks deutscher Geschichte" kennen; in seinen Essay-Sammlungen "Das Rot der Freiheitssonne wurde Blut" und "Schreiben heißt, sein Herz waschen" als engagierten Verteidiger einer Literatur, die inmitten der Welt und der Geschichte und einer moralischen Verantwortung ihren Ort hat; in den "Tagebüchern" als den in Kränkungen sich verzehrenden, vom Gefühl des großen Scheiterns beherrschten Autor, dennoch festhaltend an der Erfahrung des Glücks.
    "In jedem Menschen ist auch eine Art Lebenszittern, wie Thomas Mann das mal sehr schön ausdrückte. Es ist ja nicht nur Seelenschau bei mir und nicht nur Katastrophismus, sagen wir mal, es gibt ja auch durchaus Momente auch in diesem Tagebuch, nicht nur in meinem Leben, die glücklich oder erfüllt oder von Schönheit gar trunken sind."
    Meisterliche Autobiografie
    Fritz J. Raddatz hat immer aus dem Gefühl der Nähe zu einem Gegenstand, einem Ort, einer Landschaft, einem geschichtlichen Geschehen oder einer Person geschrieben. Er ließ sich erst einmal berühren, bevor er in Distanz ging. Daher der Schwung und die Emphase des Anfangs seiner Texte.
    So beginnt seine Biografie über Gottfried Benn:
    "Paukenschlag, Magnesiumblitz und Donnerpolter: Da sprang einer auf die Bretter, die die Welt bedeuten."
    Oder seine meisterliche Autobiografie Unruhestifter mit kurz einsetzenden biografischen Verortungen: "Da saß ich", "Da lebte ich", "Da war ich", hinführend zu ersten Selbstbestimmungen:
    "Ein Irrläufer in verzagendem Hochmut, der seine Traurigkeit in Trotz
    ummünzte. Auf mich hat sich nie etwas gereimt."
    Es ist seine tiefe Verbundenheit mit geschichtlichen Prozessen, und es ist die spielerische Freude an Formulierungen, Analogien und Bildern, die den Leser seiner Bücher von Anfang an zum Mitreisenden machen. Fritz J. Raddatz zeigt sich in seinen Reise-Texten wie auch in seinen Biografien, seiner Autobiografie und seinen "Tagebüchern" als ein gleichermaßen von der Beobachtung des Gegenwärtigen wie von der Erinnerung an die Geschichte, bis in kleinste Details hinein, geprägter Autor.
    Ein Autor, der Rechenschaft ablegen wollte von dem, wozu Kunst und Literatur - allein Kraft der Worte und Zeichen, der Striche und Farben - in der Lage sind und wie sie entstehen. Bis zuletzt mischte er sich mit seinen Beiträgen, vor allem in der "Zeit" und der "Welt", in laufende Debatten ein, trotz seiner großen gesundheitlichen Probleme, wie einer zunehmend schwachen Sehkraft und drohenden Erblindung.