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Schriftsteller Walter Benjamin
Freitod aus Angst vor der Gestapo

Vor 75 Jahren nahm sich der jüdische Schriftsteller Walter Benjamin das Leben. Ihn trieb die schiere Not: Denn nach einer beschwerlichen Flucht sollte er zurück nach Frankreich geschickt werden, wo die Gestapo auf ihn wartete. "Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt", schrieb er in seinem Abschiedsbrief an Theodor W. Adorno.

Von Christian Linder | 26.09.2015
    Walter Benjamin
    Walter Benjamin (1892–1940) (dpa / picture alliance / Heinzelmann)
    Als Bertolt Brecht die Nachricht erhielt, dass Walter Benjamin in der Nacht des 26. September 1940 auf der Flucht vor der deutschen Gestapo in dem spanischen Grenzort Port Bou Selbstmord begangen hatte, sprach er den toten Freund in einem Gedicht an:
    "Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben / Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten."
    Dass Benjamin, als Jude, Kommunist und Intellektueller von den Nationalsozialisten verfolgt und seit 1933 in Paris in der Emigration lebend, an eine nicht nur äußerliche, sondern auch innerliche Grenze gestoßen war, wusste er selbst. Knapp sechs Wochen vor seinem Selbstmord schrieb er an Theodor W. Adorno:
    "Die völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz. Ich bin verurteilt, jede Zeitung wie eine an mich ergangene Zustellung zu lesen. Und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören."
    Nachdem die Gestapo seine Pariser Wohnung mitsamt Bibliothek und Manuskripten beschlagnahmt hatte, blieb Benjamin trotz anfänglichen Zögerns nichts anderes übrig, als dem Rat Adornos und Max Horkheimers als Vertreter des nach Amerika übergesiedelten Instituts für Sozialforschung zu folgen und ebenfalls Amerika als letzten Fluchtpunkt ins Auge zu fassen. Mit einem vom Institut besorgten Emergency-Visum der Vereinigten Staaten sollte die Ausreise von Marseille nach Spanien und weiter nach Lissabon führen, wo das Schiff nach Amerika wartete. Es fehlte Benjamin nur ein französisches Visum für die Ausreise nach Spanien, das die Vichy-Regierung auf Gestapo-Anweisung deutschen Emigranten verweigerte.
    Heimliche Überquerung der Grenze
    Deshalb musste er heimlich die Grenze überqueren. Für diese abenteuerliche Flucht über die Pyrenäen gibt es eine Augenzeugin, Lisa Fittko, eine deutsche Jüdin, die in Südfrankreich lebte und auf Schmugglerpfaden Emigranten nach Spanien geleitete. Benjamin hatte von ihr gehört und bat um Hilfe.
    "Er war tatsächlich 48 Jahre alt – was mir heutzutage sehr jung vorkommt –, aber damals sah ich ihn als einen alten Mann, auch weil er ein bisschen schwerfällig war. Er war ja auch schon seit Monaten auf der Flucht."
    Wer dieser am 15. Juli 1892 in Berlin geborene Schriftsteller Walter Benjamin war und dass er, nachdem zu seinen Lebzeiten neben Essays und Kritiken nur zwei Bücher im Rowohlt-Verlag erschienen waren, "Einbahnstraße" und "Ursprung des deutschen Trauerspiels", dass er, Jahrzehnte nach seinem Selbstmord als einer der bestimmenden europäischen Intellektuellen und Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts erkannt werden würde, dessen Arbeiten als Schlüsselwerke einer neuen, materialistischen Kunsttheorie gelesen wurden, und die Nachkriegsgeneration an die Moderne anschloss – das konnte Lisa Fittko damals natürlich noch nicht einmal ahnungsweise wissen.
    Frühmorgens ging die kleine Emigrantengruppe, zu der Benjamin gehörte, los. Er werde wegen eines Herzleidens nur langsam gehen können, hatte Benjamin Lisa Fittko vorher mitgeteilt. Unterwegs ein Tümpel, das Wasser gelb und stinkend. Benjamin wollte unbedingt daraus trinken. Er dürfe nicht daraus trinken, warnte Lisa Fittko, er könne Typhus bekommen. Er müsse aber von dem Wasser trinken, beharrte Benjamin, sonst halte er den für ihn beschwerlichen Marsch über die Berge vielleicht nicht durch.
    "Da hat er angefangen, von seinem Manuskript zu sprechen. Er hatte nämlich eine Tasche, so eine Aktentasche mit sich, und ich hatte ihn schon vorher gefragt: Kann ich Ihnen helfen beim Tragen, aber warum haben Sie das eigentlich mitgenommen? Und da hat er mir erklärt, dass das sein letztes Manuskript ist und dass er glaubt, dass das die wichtigste Arbeit seines Lebens ist und er wird sich davon nie trennen."
    Weiterreise wurde verhindert
    In Port Bou angekommen, erfuhr Benjamin, dass aufgrund einer neuen Verfügung aus Madrid das französische Ausreisevisum, nach dem die spanischen Grenzbeamten normalerweise nie gefragt hatten, nötig und zugleich das Visum für die Durchreise nach Portugal ungültig geworden war. Die Gruppe sollte deshalb am nächsten Tag nach Frankreich zurückkehren.
    In dieser ausweglosen Situation nahm Benjamin sich mit einer Überdosis Morphiumtabletten das Leben. Seine Leiche verschwand in einem Massengrab. Auch die Tasche mit dem geheimnisvollen letzten Manuskript blieb verschwunden.