Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Schröder

Rainer Burchardt | 06.09.1998
    DLF: Herr Schröder, die Zahlen der Demoskopie sind einigermaßen konstant - zum Vorteil der SPD, zu Ihrem Vorteil. Ein möglicher Kanzler Schröder kommt immer mehr in Sicht. Der Unterschied zu früher ist auch, daß keine großen Änderungen da sind. Ist die Wahl für Sie schon gelaufen?

    Schröder: Nein, das ist sie nicht. Die Parteien werden näher aneinanderrücken, das gleiche wird mit den Kandidaten passieren. Es müßte ja schon mit dem Teufel zugehen, wenn diejenigen, die Union wählen wollen, nicht wenigstens auch sagen: 'Na ja, dann nehmen wir halt Herrn Kohl in Kauf.' Also, da wird sich noch etwas bewegen. Ich denke, die Voraussetzungen für einen Sieg der SPD sind gut. Das macht uns selbstbewußt, aber nicht überheblich. Gezählt wird am 27. September, bis dahin ist nichts entschieden.

    DLF: Der noch amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl hat kürzlich gesagt, 'die Trendwende am Arbeitsmarkt sei in Sicht, und im übrigen sei der Aufschwung auf breitester Ebene da'. Sie selbst haben kürzlich diesen Aufschwung als den Ihren reklamiert. Erstens: Hat Kohl recht? Und zweitens: Bleiben Sie bei Ihrer Auffassung?

    Schröder: Zunächst ist es so, daß Kohl sich ja nie besonders um ökonomische Fragen, um Fragen der Gesellschafts-, der Innenpolitik in Deutschland gekümmert hat. Er ist ja doch reichlich entrückt, beschäftigt sich mit seiner Rolle als europäischer Staatsmann. Die Union schiebt ihn ab in die 'Weltklasse', demontiert ihn aber gleichzeitig. Also, die Voraussagen von Helmut Kohl zu ökonomischen Fragen, die sollte man nicht allzu ernst nehmen. Es gibt - das ist kein Zweifel - in einigen Branchen - denken Sie an die Automobilindustrie, denken Sie an die Werkzeugmaschinenbauindustrie, auch an andere Bereiche - zarte Hinweise dafür, daß es auch auf dem Binnenmarkt nach vorne gehen könnte. Meine Intervention hatte den Grund, daß ich deutlich machen wollte: Dies Gerede über Aufschwung, das kennen wir ja schon in langen Jahren - das war 94 so und kam dann nicht. Wer also will, daß das, was es an wirtschaftlicher Erholung auch auf dem Binnenmarkt gibt - was sich andeutet -, wer will, daß das nachhaltig gemacht wird, der muß eine neue Regierung wählen. Das war der Grund meines Hinweises, und gelegentlich überspitzt man in solchen Auseinandersetzungen, damit man gehört wird. Das ist ja Ihnen auch nicht ganz unbekannt.

    DLF: Stichwort 'Demontage von Kohl durch eigene Parteifreunde': Rechnen Sie noch damit, daß - etwa nach der Bayernwahl - noch ein neues Personalkarussell in der Union in Schwung kommt, möglicherweise Helmut Kohl dann einen Zeitpunkt für eine Inthronisierung von Schäuble bekannt gibt, vielleicht sogar in einer großen Koalition?

    Schröder: Ich kann das nicht ausschließen. Aber man muß sich mal fragen: Was steckt eigentlich dahinter? Dahinter steckt ja der Versuch wichtiger Leute in der Union, gleichsam sich von Kohl wegzurobben. Man hat zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Leute in Deutschland sagen: 16 Jahre sind genug. Er hat seine Verdienste, die sollen ihm auch nicht geschmälert werden. Aber jetzt ist er verbraucht, seine Regierung ist verbraucht. Und in der Situation gibt es ein paar ganz schlaue Taktiker in der Union. Die sagen: Dann rücken wir Kohl doch durch diese Diskussion mal in den Hintergrund, vielleicht fällt dann nicht auf, daß es um die Alternative geht: 4 Jahre weiter Kohl mit allem, was das an Stillstand bedeutet - oder wirklich Aufbruch mit einer neuen Regierung. Also, diese Debatten um seine Person würde ich nicht allzu ernst nehmen. Sie sind nur ein Zeichen der Erkenntnis bei wichtigen Teilen der Union, daß es mit ihm nicht mehr geht. Aber er hat gesagt: 'Ich will es noch einmal wissen - für volle 4 Jahre', das kann man zu Recht als Drohung auffassen, man sollte die Drohung ernst nehmen, und wer Stillstand überwinden will, der muß nun diese Regierung abwählen.

    DLF: Wenn das geschieht - möglicherweise, alle Zeichen deuten darauf hin -, der Wähler ein Votum abgibt, das für eine große Koalition unter SPD-Führung spricht: Welchen Vizekanzler würden Sie bevorzugen, Herrn Schäuble oder Herrn Rühe?

    Schröder: Ich habe aufgehört, mich über Personen im anderen Lager zu verbreiten. Ich habe ja aus meinem Herzen keine Mördergrube gemacht, aber ich finde, diese Personaldebatte ist jetzt auch genug geführt, genauso die Koalitionsdiskussion. Ich habe von Anfang an gesagt: Es gibt diese beiden Möglichkeiten - rot/grün ohne PDS oder eine große Koalition. Viel interessanter ist, was in diesem Wahlkampf geschieht: Kohl sagt: "Ich will einen Lagerwahlkampf führen". Was steckt eigentlich dahinter? Lagerwahlkampf . . .

    DLF: . . . Er sagt genau: Richtungswahlkampf . . .

    Schröder: . . . ja, und die anderen ergänzen und sagen 'Lagerwahlkampf'. Das heißt doch, das Volk in zwei Lager aufzuteilen: In die Guten, in die Bösen. Ist das eigentlich die Aufgabe eines Bundeskanzlers? Ich glaube, er hat sich um die Einheit verdient gemacht, aber sozial und wirtschaftlich hat er das Volk in seiner Regierungszeit gespalten. Und jetzt setzt er einen drauf: Die Spaltung im Wahlkampf zu vertiefen um des Machterhalts willen. Das ist nicht Aufgabe des Bundeskanzlers. Aufgabe des Bundeskanzlers ist, zu integrieren, mehr an Einheit zu stiften, aber nicht, Spaltung zu betreiben.

    DLF: Herr Schröder, die Unionspolitiker führen sich ein wenig so auf, wie in früheren Zeiten Sozialdemokraten - auch gerade in entscheidenden Zeiten vor Wahlen. Ist im Augenblick die Parole 'Ruhe ist die erste Genossenpflicht' bei Ihnen ausgegeben worden, denn es fällt ja schon auf, daß die SPD sich geschlossen hinter Sie stellt, was vor Ihrer Nominierung ja - in dieser Stärke jedenfalls - nicht sichtbar war?

    Schröder: Das ist richtig. Das folgt der Erkenntnis, daß man einen Führungsanspruch nur formulieren kann, wenn die Menschen das Gefühl haben: Die stehen zusammen. Wie soll man, wenn man selber nicht zusammensteht, den Anspruch erheben, die Menschen zusammenzubringen, die sich nicht jeden Tag mit Parteipolitik beschäftigen? Deswegen ist das die Bedingung für Erfolg und wird freiwillig geleistet, nicht unter Zwang.

    DLF: Welche Rolle würde Oskar Lafontaine im Falle eines SPD-Wahlsieges spielen können, was wünschen Sie?

    Schröder: Das werden wir besprechen, wenn es so weit ist. Ich habe immer gesagt, ich wünschte mir, daß er im Kabinett mitarbeitete, denn es gibt ja ganz ganz wenige mit seinen Qualitäten. Aber es kann sein, daß wir miteinander besprechen müssen, daß auch eine andere Position angemessen ist. Das hängt vom Wahlergebnis ab und von den Konstellationen, die sich einstellen - und letztlich auch davon, was er für sich selber reklamiert. Ich finde, jemand, der so sich sehr um die Einheit in der SPD verdient gemacht hat - ohne ihn wäre das alles gar nicht denkbar -, der hat auch das Recht, Wünsche zu äußern und Vorlieben zu benennen. Diese beiden Möglichkeiten gibt es. Wir werden gemeinsam besprechen, was die vernünftigste ist.

    DLF: Besteht aber nicht auch doch wieder die Gefahr, daß nach der Wahl - und möglicherweise gerade dann, wenn es nicht ganz so klaren Wahlsieg gibt -, die alten Vorbehalte gegenseitig wieder aufflackern und die SPD dann sozusagen zurückfindet zur alten Form der Zerstrittenheit?

    Schröder: Wir wollen es ja nicht nur werden, wir wollen es auch sein, und zwar nicht um der Partei willen, sondern um der Aufhebung der sozialen Spaltung in Deutschland willen. Und weil das so ist, wissen wir, daß die Bedingung, es zu werden, Geschlossenheit ist - aber auch die Bedingung, es zu sein und zu bleiben, Geschlossenheit ist. Das weiß man in der SPD, das weiß man vor allen Dingen in der Führung der SPD. Deswegen wird sich an dieser Geschlossenheit nichts ändern.

    DLF: Sie amtieren im Augenblick auch als ein Präsident, nämlich als Bundesratspräsident. Und Edmund Stoiber, Ihr bayerischer Kollege, hat hier - auch in einem Interview der Woche im Deutschlandfunk - kürzlich gesagt, es müßten im Prinzip die Länderkompetenzen neu geregelt werden, insbesondere auch in bezug auf den Finanzausgleich; es gibt da ja auch die Klage von Baden-Württemberg und Bayern. Und zum anderen müßte auch die Abgrenzung zwischen Rechten von Bundestag und Bundesrat neu geregelt werden. Stimmen Sie ihm da zu?

    Schröder: Im Prinzip schon, was die Abgrenzung der Rechte angeht. Es ist übrigens ein Prozeß, der ja in der Verfassungskommission des Bundesrates begonnen hat, der zu ersten Ergebnissen in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat geführt hat. Es geht letztlich darum, daß aufgrund der größeren Sachnähe der Länder, das, was man unten tun kann, nicht im nationalen Maßstab getan werden muß. Insofern - man nennt das Subsidiaritätsprinzip - das stärker zu betonen, auch bezogen auf die Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel, das ist richtig. Da habe ich gegen den Kollegen Stoiber nichts einzuwenden . . .

    DLF: . . .wäre dann nicht aber konsequent zu Ende zu denken und eine Neugliederung der Bundesländer notwendig . . .

    Schröder: . . . als jemand, der nicht betroffen wäre - Niedersachsen ist, was die Einwohner angeht, fast doppelt so groß, wie die denkbaren, die dann einen 'Nordstaat' bilden könnten -, muß man da immer zurückhaltend sein. Zum Beispiel was Bremen und Hamburg angeht - 1000 Jahre alte Stadtrepubliken -, die haben eine eigene Identität. Ich beschäftige mich mehr damit, die Politik zu koordinieren, denn die Verfassungslage ist so, daß sie ein Votum der Bürgerinnen und Bürger braucht, um so etwas zustande zu bringen. Das ist zwischen Brandenburg und Berlin schon gescheitert. Und im größeren Umfang sehe ich Schwierigkeiten. Nein, wir koordinieren Infrastrukturen, wir koordinieren die Hafenpolitik, die Verkehrspolitik und haben uns in Verträgen über schulpolitische Fragen geeinigt. Das funktioniert ganz gut. Also, Länderneugliederung: Ich hätte nichts dagegen. Aber als einer, der davon profitiert, muß ich etwas zurückhaltender sein. Das andere, was Herr Stoiber angesprochen hat, ist die Finanzverteilung. Zwischen den Ländern ist das gar kein Problem, jedenfalls für Niedersachsen kein Problem. Wir würden davon nicht profitieren, wenn das anders wäre. Insofern könnte mir das gleichgültig sein. Ich muß aber auch an die neuen Länder denken. Was Stoiber und Teufel da machen, geht natürlich zu 80 Prozent zu Lasten der neuen Länder, ist die Aufkündigung der Solidarität zwischen alten und neuen Ländern. Und das kann man nicht machen. So lange die Lebensverhältnisse nicht annähernd gleich sind, braucht es dieser Transfers. Und da müssen auch die Länder - wir im übrigen auch - ihren Beitrag zu leisten. Das wird wohl von Herrn Stoiber übersehen. Bayern hat jahrelang wirklich Löwenanteile vom Bund bekommen, und es ist ein bißchen kleinkariert, wenn sie jetzt sagen: 'Schönen Dank, das haben wir eingesackt, aber wie es den anderen geht, das interessiert uns nicht'.

    DLF: Vielleicht noch ein Wort zu Bundesrat - Bundestag. Die Regierung und die Union wirft Ihnen ja im Prinzip vor - den Sozialdemokraten nämlich -, über den Bundesrat Blockadepolitik betrieben zu haben, insbesondere in Sachen Steuerreform. Ist es hier nicht in der Tat so, daß die Dominanz, die parteipolitische Dominanz - über den Bundesrat ausgespielt - einzugrenzen wäre?

    Schröder: Nein, wenn wir die "Steuerreform", die da geplant worden ist, gemacht hätten, hätte das zwei Ergebnisse gehabt: Wir hätten die Bildung nicht mehr finanzieren können, die innere Sicherheit - alles Länderaufgaben -, denn zu unseren Lasten wollte der Bund Geschenke verteilen. Vor allem war diese Steuerreform inhaltlich völlig ungerecht. Sie belastete im Verhältnis die kleinen und durchschnittlichen Einkommen und entlastete die ganz großen. Dieses Maß an Ungerechtigkeit in der Steuerpolitik kann man aus staatspolitischen Gründen nicht akzeptieren. Deswegen würde ich hier nicht von 'Blockade' reden, sondern von 'Korrektur ins Auge gefaßten Unsinns' der Bundesregierung und der Bundestagsmehrheit. Das zu korrigieren ist Aufgabe des Bundesrates in der Machtverteilung, die verfassungsrechtlich angelegt ist.

    DLF: Bleiben wir noch ganz kurz bei den Ländern. In Bayern wird gewählt 14 Tage vor dem Bundeswahlgang. Wie schätzen Sie den Stellenwert dieser Bayernwahl ein? Kann das ein Signal für den 27. September geben?

    Schröder: Zunächst zum Wahlziel. Die SPD hat gesagt: 'Wir möchten gerne, daß die CSU nach unten geht und wir nach oben'. Es wird sich zeigen, ob das Ziel zu erreichen ist. So oder so: Es bleibt eine Landtagswahl unter sehr spezifischen, sehr eigenen Voraussetzungen, und deswegen würde ich das nicht überbewerten. Es wird ein interessantes Datum sein. So oder so wird man daraus Konsequenzen ziehen, noch mehr zu arbeiten, aber der Charakter bleibt der einer Landtagswahl. Man darf die bayerische CSU ja auch nicht mit der CDU verwechseln. Verglichen mit der Verankerung der bayerischen CSU in der Bevölkerung ist die CDU ein ziemlich lahmer Haufen, und von daher hat es Renate Schmidt schon schwerer, als ich es zum Beispiel in Niedersachsen hier gehabt habe am 1. März. Da gab es ja umgekehrte Verhältnisse, wie wir wissen. Und angesichts der wirklichen Verankerung dieser Partei müssen unsere Leute einen Zahn zulegen, wenn ich das mal so sagen darf. Aber ich denke, das sehr rationale, sehr zurückhaltende Wahlziel - die anderen sollen herunter, und wir rauf - das läßt sich realisieren. Ich hoffe es jedenfalls.

    DLF: Herr Schröder, es gibt nicht wenige politische Beobachter, insbesondere - ich sage mal - 'unter der Käseglocke in Bonn', die sagen: 'Wenn es in der CSU tatsächlich dazu kommt, daß das Wahlziel von Edmund Stoiber, das da heißt: 50 Prozent plus, nicht erreicht wird, der amtierende Bundeskanzler möglicherweise dann doch noch - Sie haben das Wort gewählt - demontiert würde von seinen eigenen Leuten, das heißt also, in diesen 14 Tagen sich noch personalpolitische Konsequenzen ergeben.

    Schröder: Das kann sein, ich weiß es nicht, und ich denke auch nicht über die Situation der anderen nach. Sichtbar ist, daß man beginnt, Helmut Kohl in den Hintergrund zu drängen, weil er als Galionsfigur nun nicht gerade sehr vielversprechend ist. Das ist ein erstaunlicher Vorgang mit einem amtierenden Kanzler, den man auf den Plakaten als Weltklasse anpreist, und den man in der Realität auf die Kreisklasse reduziert. Ob die Union die Kraft und den Mut hat, den Kanzlersturz zu vollenden, das wird man sehen. Ich mag darüber nicht spekulieren. In jedem Fall bleibt es die Partei, die die soziale Deformierung unserer Gesellschaft zu verantworten hat, bleibt es die Partei, die für die Arbeitslosigkeit verantwortlich ist, die für die Ausbildungsnot der Jugendlichen verantwortlich ist. Also, aus dieser Verantwortung kann sie sich schwer wegschleichen, gleichgültig, wer an der Tete ist, wie man so sagt.

    DLF: Herr Schröder, in dieser Woche haben sich die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft - man kann es so sagen - faktisch hinter die Regierungspolitik gestellt, man kann es auch so formulieren, sich in den Wahlkampf für Helmut Kohl eingeschaltet, und - mit Adresse Gerhard Schröder, Hannover - gesagt: 'Mit uns jedenfalls ist ein Beschäftigungspaket - wie Sie es vorhaben, ein Beschäftigungspakt - nicht zu machen'. Ist damit erstmals eine Störung zwischen Ihnen und der Wirtschaft eingetreten?

    Schröder: Nein, überhaupt nicht. Man muß sich einmal fragen, was 'die Wirtschaft' ist. Von denen, die da in Berlin zusammengekommen sind, weiß man, daß sie fast alle das Parteibuch der CDU in der Tasche haben, bezahlte Funktionäre sind, die sich als Lautsprecher der Bundesregierung betätigen. Das kennt man aber schon. Anders als früher nehme ich das nicht besonders ernst, ich ärgere mich auch nicht darüber. Ich habe nichts anderes erwartet. 'Die Wirtschaft' sind andere. Die Wirtschaft sind diejenigen, die arbeiten gehen und die Produkte herstellen, die Wertschöpfung wirklich machen. Die Wirtschaft sind die hunderttausende ordentliche Handwerksmeister, die kleinen und mittleren Unternehmer, aber sind auch diejenigen, die die großen Konzerne lenken. Und von denen habe ich Kritik an den Positionen der SPD, auch denen im Startprogramm der SPD, nicht gehört. Das ist ja auch kein Wunder. Nehmen Sie mal die Lohnfortzahlung: Wir haben gesagt: 'Das korrigieren wir'. In den großen Betrieben - 70 Prozent aller Beschäftigten sind längst durch Verhandlungen zwischen den Unternehmensleitungen und den Gewerkschaften im Genuß der vollen Lohnfortzahlung. Also, 'die Wirtschaft' ist nicht Herr Henkel, das glaubt er nur. Seit er bei IBM nicht mehr tätig sein darf, meint er, er wäre jetzt 'die Wirtschaft' - aber das ist nicht so.

    DLF: Wollen Sie denn gegen diese Wirtschaftsführer einen Beschäftigungspakt durchsetzen als neuer Bundeskanzler, wenn es denn dazu käme?

    Schröder: Wenn die sich weigern, wird man das tun mit denjenigen, die die Wirtschaft wirklich sind, also die die Unternehmen leiten. Aber die werden sich ja gar nicht auf Dauer weigern. Das ist jetzt auch ein bißchen Wahlkampfgeklingel, die haben ihre Vorlieben für die CDU, für die jetzige Koalition, ja nie verschwiegen. Deswegen regt mich das auch nicht so sehr auf, weil ich auch ganz sicher bin, daß diejenigen, die das im Fernsehen beobachten und das Lamento dieser Verbandsfunktionäre hören, daß die Wählerinnen und Wähler schon genau wissen, aus welcher Ecke der Wind weht und Interessen unterscheiden können.

    DLF: Das Stichwort 'große Steuerreform' ist wieder in den Wahlkampfsog geraten. Es war ja eine ganze Zeit lang bemerkenswert ruhig geworden. Glauben Sie, daß eine große Steuerreform, wie die Sozialdemokraten sie anstreben, auch in einer großen Koalition durchsetzbar wäre?

    Schröder: Das weiß ich nicht. In jedem Fall muß sie gemacht werden, wie wir sie anstreben. Es muß eine Konstellation gefunden werden, die das ermöglicht, denn es geht hier um zwei Dinge: Ganz zentral geht es um die Frage der Gerechtigkeit in der Steuerpolitik. Die ist auf den Hund gekommen in Deutschland. Im Verhältnis zahlen die durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer das Vierfache - im Verhältnis - zu dem, was die oberen Einkommensbezieher bezahlen für notwendige Finanzierung der Einheit. Das kann so auf Dauer nicht bleiben, da muß Gerechtigkeit her. Wir werden also vor allen Dingen eine Entlastung der Durchschnittsverdiener durchsetzen müssen. Wir haben gesagt, Familien mit zwei Kindern sollen 2.500 Mark im Jahr mehr in der Tasche haben aufgrund der Einkommenspolitik, die wir machen wollen, der Steuerpolitik, der Erhöhung des Kindergeldes, was wir durchsetzen werden. Das Zweite ist die Entlastung der kleinen und mittleren Unternehmen. Dort sind zu zwei Drittel die Arbeitsplätze, dort wird zu 80 Prozent Ausbildung geleistet. Hier muß man was tun, hier kann man was tun - das ist gerechnet. Und auf diese Eckpunkte und auf den Eckpunkt der Vereinfachung des Steuerrechts werden wir Wert legen, egal in welcher Konstellation.

    DLF: Wenn man diese Wirtschaftsthemen in unserem Land, in Deutschland, einmal mit denen vergleicht, die im Augenblick global ablaufen, etwa die Asienkrise, aber vor allem auch die Krise augenblicklich in Rußland, dann relativiert sich dies ja alles sehr. In dieser Woche haben sich Clinton und Jelzin in Moskau getroffen; Clinton konnte Jelzin eigentlich nichts mehr versprechen, weil dort offenbar jede Finanzhilfe tatsächlich ein Faß ohne Boden wäre. Was müßte nach Ihrer Meinung die Bundesregierung in dieser Situation tun, um erstens Rußland zu helfen und zweitens: Inwieweit sehen Sie hier auch eine Einbeziehung der Krise in Rußland in den Wahlkampf, weil Helmut Kohl zumindest wissen läßt, er sei jetzt noch der einzige Garant für Stabilität?

    Schröder: Na ja, ein merkwürdiger Garant für Stabilität, der in seinem eigenen Lager so hoch umstritten ist, wir haben das ja gerade diskutiert. Im übrigen: Ich glaube nicht, daß die russische Krise sich durch die in der Sauna begründete Männerfreundschaft der beiden älteren Herren lösen läßt, denn sie hat ökonomische Gründe. Und der wichtigste ökonomische Grund ist die Einkommensverteilung im heutigen Rußland. Wir sehen märchenhaften Reichtum in der Hand weniger, in kürzester Zeit zusammengerafft, der dann an der Côte d' Azur verpraßt wird, wie man weiß. Und wir sehen unvorstellbare Armut in der russischen Gesellschaft, nicht bezahlte Arbeitnehmerstunden. Hier fehlt eine kaufkräftige Mittelschicht, die die Produkte, die sie selber herstellen, auch selbst konsumieren kann. Das ist die eigentliche Krise. Daraus folgt, daß die Hilfe, die bei Erfüllung der IWF-Voraussetzungen gegeben wird, nun endlich dem Volk zugute kommen muß, daß Einfluß genommen werden muß auf die Veränderungen der Strukturen. Es reicht ja nicht, wenn man die früheren Staatskonzerne in die Hand von ein paar Regierungsmitgliedern gibt, sondern da geht es darum, daß man mittelländische Strukturen schafft, daß man die Arbeitnehmer beteiligt am Erfolg ihrer Arbeit. Das sind die Reformschritte, auf die eine Bundesregierung zu drängen hätte. Das ist im Gewusel der Freundschaft, des freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Jelzin und Kohl - das ich gar nicht zu kritisieren habe -, nicht geschehen. Man hat sich mehr mit Männerfreundschaften als mit Strukturpolitik beschäftigt. Das wird nachzuholen sein.

    DLF: Das würden Sie als Kanzler dann sofort machen?

    Schröder: Ich denke, man muß vor allen Dingen auf die Veränderung dieser Strukturen achten. Ob dazukommen müssen - für eine gewisse Zeit - Kapitalverkehrskontrollen, damit Geld nicht unkontrolliert aus dem Land geschafft wird, in Richtung Côte d' Azur - nur als ein Beispiel natürlich -, das ist eine Frage, die man mal diskutieren muß mit den Bankern. Der Chef des Bankenverbandes hat ja solche Vorschläge gemacht. Die muß man einfach mal ernst nehmen. Es ist an der Zeit, daß in Deutschland eine Strategie entwickelt wird und man nicht glaubt, mit gelegentlichen Telefonaten könnte man diese Krise lösen.

    DLF: Ein anderer Krisenherd ist das Kosovo. Würde nach Ihrer Meinung es geraten sein, jetzt die NATO - auch ohne UNO-Mandat - eingreifen zu lassen?

    Schröder: Völkerrechtlich braucht man ein UN-Mandat. Das ist Auffassung der Bundesregierung, Gott sei dank, auch unsere Auffassung. Falls sich in Europa durch Diskussionen der europäischen Staats- und Regierungschefs mit dem amerikanischen Präsidenten etwas ändern sollte, soll die Bundesregierung sich an die Opposition wenden. Man wird das dann rational diskutieren. Zur Zeit besteht kein Anlaß, darüber zu spekulieren, ob es zu einer Intervention ohne UN-Mandat kommt. Die UN hat noch einmal wieder klargestellt, daß nach ihrer Auffassung es eines solchen Mandates bedarf. Das ist völkerrechtlich auch so: Und insofern keine Spekulationen mit Krieg und Frieden.

    DLF: Stichwort 'Europa': Der Euro ist merkwürdigerweise kaum Thema in diesem Wahlkampf. Sie selber haben sich - ich will mal sagen - zustimmend skeptisch zum Euro bisher geäußert, auch die Risiken, die mit dem Euro verbunden sind, immer wieder nach vorn gezogen. Wie beurteilen Sie diese Position eigentlich angesichts der Währungsunsicherheiten, die wir im Augenblick haben, die an den Aktienmärkten insbesondere deutlich werden? Ist da nicht auch ein 'Gesamtwährungsblock Europa' eher anfällig als gesichert?

    Schröder: Nein, ich glaube nicht. Das ist überraschend gut gegangen - die Reaktion der Märkte auf den Euro. Sie haben recht, ich habe diskutiert die Frage des Zeitpunktes der Einführung, nie das Prinzip. Jetzt kommt es darauf an - nachdem er eingeführt ist, eingeführt werden wird, die Entscheidungen sind gefallen -, dafür zu sorgen, daß er ein Erfolg wird. Denn das Scheitern brächte ökonomische Verwerfungen mit sich, die wir kaum in den Griff kriegen können. Also müssen jetzt alle, gleichgültig wie sie zum Zeitpunkt der Einführung gestanden haben, drauf achten, daß er ein Erfolg wird. Erfolg kann er werden und wird er werden, wenn es uns gelingt, neben der Geldpolitik über die EZB auch zum Beispiel die Steuerpolitik zu harmonisieren, Mindeststandards im Sozialen zu schaffen, damit das Lohndumping innerhalb eines gemeinsamen Marktes aufhört, aber auch Politikbereiche, wie etwa die Finanzpolitik, besser als in der Vergangenheit zu koordinieren. Um diese Arbeit, die ich immer als 'Mühsal der Ebene' bezeichne, nachdem die strategischen Höhen besetzt sind, um diese Arbeit wird es in der Zukunft gehen. Diese Arbeit, die kann Kohl nicht mehr, dazu ist er zu verbraucht.

    DLF: Ein Wort noch zu einer Krise, direkt unmittelbar hier vor Ihrer Haustür, Stichwort 'Expo 2000'. Würde ein Kanzler Schröder die Expo auf jeden Fall auch unter großen finanziellen Aufwendungen durchziehen?

    Schröder: Ja, da gibt es keine Unterschiede in der Auffassung zwischen Helmut Kohl und mir. Er hat sich für die Bundesregierung engagiert, ich für die niedersächsische Landesregierung. Das Projekt ist auf einem Erfolgsweg, muß finanziell unterfüttert werden, das wird auch geschehen. Und es abzusagen, wäre eine Blamage für Deutschland, das können wir uns nicht leisten. Da gibt es keinen Streit zwischen der einen und der anderen Seite.

    DLF: Dieses Gespräch kann natürlich nicht zu Ende gehen, Herr Schröder, ohne von Ihnen eine Prognose abzuverlangen für diese Wahl. Wie sehen Sie eigentlich jetzt - drei Wochen vor der Wahl - das Ergebnis, das Sie nicht nur für wünschenswert, sondern auch für realistisch halten?

    Schröder: Die SPD wird stärker als die Union. Welche von den drei kleinen Parteien reinkommt, kann man wirklich gegenwärtig nicht sicher beurteilen. Und deswegen ist eine präzisere Prognose sehr, sehr schwer, im Grunde nicht zu machen. Das wäre Kaffeesatzleserei, und dazu will ich mich nicht hergeben.