Freitag, 19. April 2024


Schützen und Schlürfen: Das Austernschiff

Im Archipel Tinharé gibt es Orte, die man nicht mehr vergisst. Das "Austernschiff" ist einer dieser Orte. Die ausgediente Fähre liegt fest verankert mitten im Labyrinth der Flüsse, die Boipeba und die Nachbarinseln vom Festland trennen.

Von Jörg-Christian Schillmöller mit Fotos von Dirk Gebhardt | 29.07.2013
    Die Fahrt dorthin dauert im Schnellboot eine halbe Stunde und führt durch weite Mangroven-Sümpfe. Unser Fahrer steuert das Boot - je nach Wasserstand und Lage der Sandbänke - auf der rechten oder der linken Seite des Flusses an den immergrünen Mangroven entlang. Dort sitzen bei Ebbe zahllose Krebse auf dem Schlamm. Sie leben überall im Archipel.

    Nach einer Weile taucht in der Ferne eine eckige, weiße Silhouette auf: das Austernschiff. Wir legen an einem Ponton an, der am Heck befestigt ist. An Bord treffen wir Gilmar Bomfin Palma: Er ist Fischzüchter, Umweltschützer und hat die Fähre zum Restaurant umgebaut.

    Besonders am Herzen liegen Gilmar all jene Fische, die sowohl im Salz- als auch im Süßwasser leben können. Das ist die Besonderheit dieses Ökosystems: Ebbe und Flut tauschen große Wassermengen aus, sodass sich Meer und Fluss vermischen.

    Gilmar nimmt einen Käscher und taucht ihn in eines der drei Bassins im Ponton des Austernschiffs. Kurz darauf zappelt ein Fisch im Netz, der auf den ersten Blick an einen Hai erinnert: glatt, grau, kraftvoll und einen halben Meter lang.

    "Das ist ein Bijupirá", sagt Gilmar. "Der Bijupirá ist ein Süßwasserfisch, den wir langsam an das Salzwasser gewöhnen. Der Prozess funktioniert auch umgekehrt, zum Beispiel mit dem Tilapia." Davon hat Gilmar aber gerade keinen im Bassin.

    Austernwaschen auf Boipeba
    Austernwaschen auf Boipeba (Dirk Gebhardt)
    Dafür hat er Austern. Heimische Austern, die seit jeher am Wurzelholz der Mangroven leben und deren Schale leuchtend grün schimmert. Gilmar und sein Mitarbeiter Eduardo holen die Austern aus den Mangroven, wenn sie einige Zentimeter groß sind, und ziehen sie in runden Käfigen aus Drahtgeflecht auf, gut ein Jahr lang. Dann dürfen sie auf den Tisch.

    Gilmar zeigt uns die Fähre. In der Küche kocht gerade Tania Andrade Oliveira. Sie hat zwei Sorten Moqueca auf den Gasflammen. Moqueca ist ein Eintopf, in den unter anderem Tomaten, Zwiebeln und Kokosmilch gehören. Heute gibt es zwei Sorten: Moqueca mit Austern und mit Krebsen. Dazu essen die Brasilianer Reis und Feijoada (ein Bohnengericht), und sie bestreuen alles mit Maniokmehl, das aussieht wie geriebener Parmesan.



    Als Vorspeise gibt es aber erst mal Austern pur. Frisch und roh. Gilmar öffnet sie mit einem Messer und löst das Innere von der Schale. Die Austern werden mit Limettensaft gegessen - und mit einer hausgemachten, extrem scharfen Soße, die in einem extrem kleinen Schälchen auf den Tisch kommt. Die Austern sind köstlich. Sie schmecken weniger streng als in Europa. Der Grund: Das Wasser, in dem sie wachsen, ist nicht so salzig wie in den Austernbecken am Atlantik in Frankreich.

    Gilmar erzählt von seinem Engagement für Natur und Artenschutz. "Wir haben uns zu einer Kooperative zusammengetan", sagt er und meint sein Dorf und ein Nachbardorf, die in Sichtweite am Ufer liegen und zusammen etwas mehr als 200 Einwohner haben. Das Ziel: Ein Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit der Mangroven-Sümpfe zu schaffen und der Natur etwas zurückzugeben, anstatt ihr durch die Fischerei immer nur etwas wegzunehmen.

    Zurückgeben, das heißt: Gilmar sorgt mit seiner Fischzucht dafür, dass das Gleichgewicht der Arten erhalten bleibt. Nein, sagt er, bis heute ist hier keine Spezies ausgestorben. Auch der Klimawandel habe sich, graças a Deus, kaum bemerkbar gemacht. Das liege wohl daran, meint Gilmar, dass er und seine Nachbarn nicht geschlafen hätten und sich seit Jahren um den Erhalt ihres Ökosystems kümmerten.

    Umweltschutz im Archipel, kombiniert mit heimischen Gerichten: Gilmar, Eduardo und Tania haben sich neben der Fischerei ein zweites Standbein aufgebaut. Und ihr Austernschiff hat noch eine Attraktion zu bieten: Wenn das Wasser hoch genug steht, können die Gäste den Sprung vom Dach der Fähre wagen. Vier, fünf Meter sind das, und wenn Touristen springen, dann läuft das immer auf die gleiche Art und Weise ab: ein langes Zögern an der Kante, dann in kurzer Folge ein lauter Schrei, ein noch lauteres Platsch - und Applaus oben vom Deck.

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    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.
    Karte von Boipeba