Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Schulbeginn nach dem Zweiten Weltkrieg
"Unterricht war zum Teil nur stundenweise möglich"

Zerstörte Gebäude, fehlendes Lehrpersonal und -material: Als am 1. Oktober 1945 der Schulbetrieb in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen wurde, musste vieles improvisiert werden, erklärte Elke Kleinau, Professorin für historische Bildungsforschung an der Universität Köln im DLF. Unter anderem gab es Unterricht nur im Schichtbetrieb.

Elke Kleinau im Gespräch mit Michael Böddekker | 01.10.2015
    Ein Klassenzimmer mit Tafel.
    1945 wurden viele Lehrer aus der Pension geholt, um den Lehrermangel zu beheben. (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Michael Böddeker: In diesem Jahr, da war der Beginn des Unterrichts in den Schulen kein großes Thema, es lief ungefähr wie immer: Für die Erstklässler beginnt ein ganz neuer Lebensabschnitt, manche wechseln auf eine weiterführende Schule, und für alle anderen beginnt ganz einfach nur ein neues Schuljahr.
    Vor 70 Jahren war das ganz anders: Am 1. Oktober 1945 wurde der Schulunterricht nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen, viele Gebäude waren damals zerstört und es herrschte ein großer Lehrermangel. Mit der Situation damals hat sich Elke Kleinau beschäftigt – sie lehrt in Köln zu historischer Bildungsforschung. Mit ihr habe ich vor der Sendung gesprochen und sie gefragt, wie es denn damals aussah an den Schulen in Deutschland, was waren da die größten Probleme?
    Elke Kleinau: Die beiden größten haben Sie eigentlich schon benannt: Das ist nämlich der Mangel überhaupt an Klassenzimmern und Schulbauten, in denen unterrichtet werden konnte, weil viele Gebäude durch den Krieg zerstört waren, und dann muss man sich auch daran erinnern, dass vielleicht der 1. Oktober nicht immer so schön war, wie er heute sein wird, sondern dass es insbesondere dann, je weiter wir in der Jahreszeit fortschreiten, sehr kalt war und die Räume vielfach nicht oder auch nur ungenügend beheizt werden konnten.
    An vielen Stellen im Land war es so, dass die Schulen im Schichtbetrieb erteilen mussten, weil gar nicht genügend Klassenzimmer da waren. Es gab auf der anderen Seite aber auch einen großen Mangel an Lehrkräften, weil viele Lehrer entweder im Krieg gefallen waren oder aber die Hürde der Entnazifizierung nicht oder noch nicht überstanden hatten. Die Alliierten haben ja sehr großes Interesse daran gehabt, die Nazis aus den Schulen und aus der Schulverwaltung zu entfernen, und das hat natürlich erst mal eine große Lücke gerissen.
    Per Schnellkurs zum Lehrer
    Böddekker: Das heißt, viele Lehrer durften nicht mehr weiter unterrichten. Was hat man dann gemacht? Hat man dann einfach andere Leute herangeholt, die vielleicht gar keine Ausbildung zum Lehrer hatten?
    Kleinau: Man hat versucht zunächst erst mal auf unbelastete Lehrkräfte zuzugreifen und hat dafür auch Leute aus der Pension geholt. Diejenigen, die die Altersgrenze schon erreicht hatten und ausgeschieden sind und unbelastet waren, sind dann gefragt worden, ob sie wieder in die Schulen kommen und unterrichten werden.
    Man hat dann auch – weil dieser Lehrermangel, der hat sich ja fortgesetzt, der ist auch nicht in ein oder zwei, drei Jahren zu beheben gewesen –, man hat dann zu Beginn der 50er-Jahre auch sogenannte Schnellkurse gemacht, in denen man Lehrkräfte ausgebildet hat. Die bekanntesten unter ihnen sind wahrscheinlich noch den älteren Generationen vertraut unter dem Namen "Mikätzchen" – das klingt jetzt so nett, aber es ist eigentlich ein abwertender Begriff.
    Die Bezeichnung geht darauf zurück, weil es der Kultusminister Paul Mikat in Westfalen gewesen ist, der diese Kurse angeregt und eingerichtet hat. Dieses Mikätzchen ist nicht nur liebevoll gemeint, sondern es signalisiert natürlich auch, dass man es hier eigentlich nicht mit richtig ausgebildeten Lehrerkräften zu tun hat, und da das hauptsächlich Frauen waren, hat man damit natürlich auch gleich ihre pädagogische Qualifikation ein ganzes Stück weit angezweifelt.
    "Zum Teil war der Unterricht nur stundenweise möglich"
    Böddekker: Am 1. Oktober 45 sollte es weitergehen an den deutschen Schulen – ging das überhaupt überall?
    Kleinau: Das ging nicht überall. Zum Teil war der Unterricht auch nur stundenweise möglich. Wir müssen uns das so vorstellen, dass nicht jede Klasse das Stundendeputat bekommen hat, was ihr eigentlich zugestanden hätte, sondern die Schulen sind im Schichtbetrieb zum Teil gefahren worden. Das heißt, drei Stunden für die Klasse 1 vielleicht, und dann die anschließenden Stunden für Klasse 2. Vielfach hat man auch auf dieses Prinzip der jahrgangsübergreifenden Unterrichtung zurückgegriffen, was wir heute pädagogisch ja wieder machen und das als fortschrittlich gilt, weil Kinder in einer Jahresklasse sind eben nicht alle gleich weit entwickelt, aber damals war das ein ausgesprochener Notbehelf, weil man eigentlich jahrgangsweise unterrichten wollte.
    "Lehrer haben an vielen Stellen versucht zu improvisieren"
    Böddekker: Wie sah es damals mit Unterrichtsmaterialien aus, zum Beispiel Schulbücher? Mussten die neugeschrieben werden, nach dem Ende der Diktatur?
    Kleinau: Ja, das war den Alliierten ganz wichtig. Das kann man auch verstehen, weil die Schulbücher waren natürlich voll mit dieser Naziideologie, und zwar jetzt nicht nur in Fächern, wo das vielleicht auf den ersten Blick einleuchtet, wie Biologie, sondern auch die Mathematikbücher waren voll mit solchen Textaufgaben, was der Staat für die Behinderten verschwendet und was man damit alles tun könnte für gute, in Anführungszeichen, "arische nicht-behinderte Kinder" und so weiter.
    Das heißt, die ganzen Schulbücher sind aus dem Verkehr gezogen worden, und das ist ja nicht so einfach, von jetzt auf gleich neue Schulbücher zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.
    In der Regel dauert es bis heute circa sieben Jahre bis ein Schulbuch so weit gediehen ist, dass es auf den Markt kommt. Das heißt, man hat sich zunächst beholfen, man hat Schulbücher genommen, die sich nicht so exponiert haben in Richtung Naziideologie, hat bestimmte Textstellen geschwärzt oder die Lehrer haben Arbeitsblätter entwickelt, haben in vielerlei Hinsicht versucht, zu improvisieren.
    Böddekker: sagt Elke Kleinau, Professorin für historische Bildungsforschung an der Universität Köln. Heute vor 70 Jahren hat an vielen Schulen in Deutschland der Unterricht wieder begonnen, zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.