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Schuld ohne Sühne

Die Verbrechen der Deutschen in Italien wurden lange nicht aufgearbeitet: Da gab es Deportationen und Massaker, doch nach 1945 keine angemessene Strafverfolgung und Entschädigung. Nach drei Jahren Arbeit hat eine binationale Historikerkommission nun ihre Ergebnisse vorgelegt.

Von Tilmann Kleinjung | 20.12.2012
    Eigentlich ist das ein idyllischer Ort: dieser kleine Friedhof von Casaglia am Fuße des Monte Sole, des Sonnenbergs. Auf dem Stück Rasen stehen noch die alten Eisenkreuze, in manchen von ihnen sind Löcher. Nur wer die besondere Geschichte dieses Friedhofs kennt, kann diese Spur lesen. Maschinengewehrsalven haben die Kreuze durchlöchert. Elide Ruggeri hat dieses Massaker von deutschen SS- und Wehrmachtssoldaten am 29. September 1944 wie durch ein Wunder überlebt:

    "Ich war dort und dann kam einer von der SS, der ein Mädchen tötete, deren Kopf zertrümmert war und die nur noch jammerte. Er gab ihr einen Schlag und ich dachte: Der nächste ist für mich … Ich war immer stark, ich dachte, ich werde nicht sterben. Er fixierte mich mit seinen Blicken und dann sagte er: Niente kaputt, das heißt, er würde mich nicht töten."

    Das Schlachten der Wehrmacht, der SS und der italienischen Faschisten ging als Massaker von Marzabotto in die Geschichte ein. Es dauerte sechs Tage. Man zählte Hunderte Opfer, fast ausschließlich Zivilisten, Alte, Frauen, Kinder. In der Kirche hinterließen die Soldaten eine schriftliche Nachricht an die Partisanen: "Rebellen, das ist euer Schicksal."

    Gianluca Lucarini ist der Präsident der Opfervereinigung von Marzabotto.

    "Das ist mein Erbe, ein sehr schwieriger Teil meines Lebens. Denn mein Vater hat mit 18 Jahren seine Eltern verloren und natürlich hat er den Schmerz darüber in die Familie gebracht, die er dann gegründet hat. Sein Leben war nicht so einfach. Damals gab es niemanden, der dabei half, das Leben in die Hand zu nehmen und zu verstehen, was passiert war."

    1830 Menschen sollen bei dem Massaker von Marzabotto umgebracht worden sein. Viele kleine Dörfer wurden dabei komplett zerstört, sie sind nie wieder aufgebaut worden.

    Nach dem Krieg hat die junge Republik Italien die Opfer von Marzabotto aus dem Blick verloren. Man scheute die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte auch deshalb, weil ein Teil der Täter aus dem eigenen Land kam. Und die stillschweigende Übereinkunft der Nachkriegszeit bestand einfach darin, die faschistische Vergangenheit ruhen zu lassen. Verurteilt wurde nur der verantwortliche SS-Sturmbannführer Walter Reder. Alle anderen Täter blieben mangels Aufklärung und besseren Wissens ohne Strafe – auch mit Rücksicht auf den neuen Verbündeten, die Bundesrepublik Deutschland.

    "Die italienische Regierung hat aus Gründen der Staatsräson alle Unterlagen im 'Schrank der Schande' versteckt. Wir sagen 'Schrank der Schande', es handelt sich dabei um einen ganz gewöhnlichen Archivschrank. Diese Unterlagen sind 1994 wieder gefunden worden. Danach sind sie an den Staatsanwalt geschickt worden, damit die Ermittlungen beginnen konnten. Davor war nichts bekannt. In den Unterlagen standen die Namen der Schuldigen, die zuvor schon von den amerikanischen, französischen und englischen Geheimdiensten festgestellt worden waren."

    Zehn ehemalige SS-Soldaten werden 2007 von einem Militärgericht im ligurischen La Spezia zu lebenslanger Haft verurteilt. Und zur Zahlung einer Entschädigung von 100 Millionen Euro. Die verurteilten Kriegsverbrecher mussten die Haft nie antreten. Deutschland hat ihre Auslieferung immer abgelehnt. Und auch von der Entschädigung haben Luca Lucarini und seine Familie bis heute keinen Cent gesehen. "Aber darum geht es uns gar nicht", sagt er. "Uns geht es um die Wahrheit."

    "Mein Vater hat leider von den Unterlagen nichts gewusst. In den Unterlagen standen die Details, wie seine Familienangehörigen ums Leben gekommen sind. Wir wussten nichts bis dahin. Die Gerechtigkeit hat so lange warten müssen."
    Im April 2004 beginnt vor dem Militärgericht in La Spezia ein Prozess, den Michele Silicani den "Nürnberger Prozess Italiens" nennt. Silicani ist Bürgermeister des toskanischen Bergdorfes Sant’Anna di Stazzema.

    Vor Gericht stehen zehn frühere SS-Angehörige, die dort an der massenhaften Ermordung von Zivilisten beteiligt gewesen sein sollen.

    "Am 12. August 1944 sind in Sant’Anna di Stazzema 560 unschuldige Menschen abgeschlachtet worden, Frauen, Kinder und alte Menschen. Wehrlose Leute. Dabei war Sant’Anna di Stazzema das erste Massaker an Zivilisten, das schon lange geplant war."

    Die Angeklagten wurden in Abwesenheit für schuldig befunden und verurteilt. Im November 2007 bestätigte die höchste Instanz des Militärgerichts in Rom den Richterspruch. Da leben noch sechs der zehn Täter. Aber Deutschland liefert sie nicht aus. Und im Oktober 2012 entscheidet auch die ermittelnde Staatsanwaltschaft Stuttgart keine Anklage zu erheben. Der Grund: Den Beschuldigten kann eine Beteiligung an den Geschehnissen in Sant‘Anna di Stazzema nicht persönlich nachgewiesen werden.