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"Schuld und Sühne" am Hamburger Schauspielhaus
Eine biedere Inszenierung

Die Regisseurin Karin Henkel ist der wichtigste Positiv-Posten in der bisherigen Intendanz-Bilanz der Hamburger Schauspielhaus-Chefin Karin Beier. Henkels Inszenierungen werden nach wie vor regelmäßig zum "Theatertreffen" nach Berlin eingeladen. Gleich zu Beginn von Beiers Intendanz, im Herbst 2013, wollte Karin Henkel ein literarisches Monstrum bewältigen: Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne" - aber wegen eines technischen Zwischenfalls kam alles anders und viel später.

Von Michael Laages | 31.05.2015
    Manchmal ist das Vorspiel schöner als das Ganze, das dann folgt; schon weil es noch so viel verspricht, das dann nicht immer einzulösen ist. Karin Henkels Dostojewski-Projekt ist so ein Fall. Als die Gewichte des Eisernen Vorhangs in den Bühnenboden stürzten zu Beginn von Karin Beiers Intendanz, warfen sie ja den ganzen ersten Spielplan über den Haufen - und Namensbase Karin Henkel, aus Köln mit zugewandert nach Hamburg, beschied sich mit einer Teil-Inszenierung des Dostojewski-Romans im kleinen Malersaal.
    "Schuld" hieß dieser erste Abend, noch ohne "Sühne" - und dass er so bewusst unfertig blieb, bleiben musste, machte den Charme der Arbeit aus. Massiv wurde musiziert und gesungen, nur begleitet vom Banjo-Spieler Alain Croubalian, und ebenso massiv spielte Henkel mit dem Personal - fast jeder und jede war mal Raskolnikow, der Student mit dem menschheitsbeglückenden Monstrositäten im Kopf, der mordet, weil er meint, das Recht dazu zu haben; und wie drinnen im Schädel des wirren Propheten wirkte der ganze Abend. Diese Idee ist geblieben - es ist aber leider die Einzige.
    Auch Croubalians Musik ist geblieben - aber nun spielt ein Trio und die Musiker tragen altrussische Kostüme wie aus Eisensteins Film über Ivan den Schrecklichen. Was sie spielen, hat aber nur noch wenig zu tun mit Stimmung und Handlung; taugt eigentlich nur noch als Pausenfüller und szenischer Übergang - und schon an diesem Indiz ist die Mittelmäßigkeit zu ahnen, die dreieinhalb Spielstunden netto durchzieht.
    Gleich zu Beginn präsentiert Henkel diese überlebende Idee - fast das ganze Ensemble, jeder und jede mit einem Zausel-Bart geschmückt wie der dürre, wirre Rodion Romanowitsch Raskolnikow, entwickeln jene Denkfiguren, die Dostojewskis Werk auch nach bald 150 Jahren zum politisch-gesellschaftlichen Sprengsatz machen.
    "Wie sind denn all diese hässlichen und schrecklichen Gedanken überhaupt in meinen Kopf gekommen? - "Sie ist stinkreich. Sie kann auf einen Schlag 5000 auszahlen. Ich kann sie also totschlagen und berauben ohne jede Gewissensbisse." -"Ich hab' seit drei Tagen nichts mehr gegessen." - "Tausende Existenzen in größter Armut können vor dem Ruin bewahrt werden, und zwar von ihrem Geld - ein einziger Tod gegen tausend Leben." - "Warum zittere ich denn so?" - "Das ist doch ne ganz einfache Rechnung: Was bedeutet denn das Leben dieser Alten?" - "Sie lebt! So ist die Natur!" - "Die Natur ... die Natur muss man korrigieren, muss man lenken - wo wären wir denn sonst? Bei den Neandertalern."
    Armut und Elend der Welt nämlich seien zu besiegen, sagt der Prophet, wenn der Fortschritt nur ab und zu mal über Leichen ginge; über einzelne wie die finstre Pfandleiherin im Roman, aber auch über Hunderte, Tausende, notfalls Millionen.
    Dieses Denken fordert heraus - aber Karin Henkels Inszenierung hält nicht mit. Nur psychologisch bleibt sie interessant - wenn Lina Beckmann als trutschige Mama und Angelika Richter als berechnende Schwester des zwischen Selbstzweifels und Allmachtsfantasien zunehmend zerrissenen Raskolnikow von Jan-Peter Kampwirth sich in dessen zweites und drittes Ich verwandeln, speziell in der Auseinandersetzung mit dem Ermittlungsrichter Porfirij Petrowitsch, den Charly Hübner so erzgemütlich spielt wie im "Polizeiruf"-Fernsehkrimi. Dieses Quartett macht den Kern der Inszenierung aus; Bastian Reiber glänzt dazu im Figuren-Doppel von Ermittler und Studien-Freund, Götz Schubert hat viel zu wenig Zeit, um die rätselhafte Rolle des selbstmörderischen Mäzens und Frauenmörders am Rande der Fabel zu beglaubigen. Michael Prelle richtet sich ein im Part des biederen Hamburger Malermeisters.
    Bieder - so ist die ganze Inszenierung. Wandlungsreich zwischen Bretterbude, Kneipe und kühlschrankkaltem Sterbezimmer ist zwar Thilo Reuthers Bühne, zwischen altrussisch und hässlich-prekär changieren Nina von Mechows Kostüme; aber mit all dem gelangt Henkel nie auch nur in Sicht- oder Hörweite der Abgründe in Dostojewskis Denken.
    Und wenn derzeit auch weithin nur noch modisch-routiniert herum geprügelt wird auf den Methoden des Henkel-Kollegen Frank Castorf - es braucht Zugriffe wie von ihm, brachial und brutal, ruppig-roh und ohne allzu viel Rücksicht auf Regeln und Routine, um sich auf dem Theater ernstlich hinein zu wühlen in den Höllenschlund der Dostojewski-Welt. Henkel in Hamburg klopft bestenfalls an - aber viel zu zaghaft, um eingelassen zu werden.