Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Schuldenstreit mit Griechenland
"Höhere Mehrwertsteuer wirkt rezessiv"

Für den Grünen-Politiker Sven-Christian Kindler werden die in Brüssel verhandelten Reformen die Lage in Griechenland mittelfristig nicht verbessern. Die Vorschläge bezeichnete er als Teil einer "kurzatmigen, ruckartigen Haushaltssanierung". Er fordert eine Restrukturierung der griechischen Schulden und eine Sanierung der Steuerverwaltung.

Sven-Christian Kindler im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 24.06.2015
    Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler.
    Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler. (Imago / Metodi Popow)
    "Die Wirtschaft muss wieder in Gang kommen", sagte Kindler mit Blick auf die vorgeschlagenen Reformen in Brüssel. "Und da ich habe große Zweifel, dass das mit dieser Einigung passiert." Eine höhere Mehrwertsteuer etwa wirke rezessiv. Die Rückzahlung der Schulden gelänge Griechenland jedoch nur, wenn die Wirtschaft wieder wachse.
    Man müsse weg von der "kurzfristigen Überweisungshysterie", forderte Kindler. Stattdessen sei eine Schuldenrestrukturierung notwendig. Die Kredite Griechenlands beim IWF solle der sogenannte Rettungsschirm, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) übernehmen. Dann könnte Griechenland die Steuerverwaltung sanieren, und Reiche stärker besteuern, um seine Einnahmenseite zu verbessern. Kindler räumte mit Blick auf die neue griechische Regierung ein: "Es ist enttäuschend, wie wenig in diesen Bereichen passiert ist." Die Regierung habe jedoch eine Chance verdient, weil sie kein Teil der alten politischen Strukturen sei.
    Grundsätzlich bräuchte Griechenland eine Perspektive. "Man muss deutlich machen, dass die Vermeidung des Grexit gesichert ist." Denn der wäre "sozial und ökonomisch verheerend für Griechenland, aber auch ein Problem für Europa." Und das führe zu der zentralen Frage: "Hält Europa zusammen oder bröselt Europa auseinander?"

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Die Finanzminister der Eurogruppe haben wieder mal viel zu tun diese Woche. Heute treffen sie sich bereits zum zweiten Mal innerhalb von 72 Stunden, um über den weiteren Weg in Sachen Griechenland zu beraten. Außerdem kommt Alexis Tsipras heute in Brüssel noch einmal mit den Damen und Herren Draghi, Lagarde und Juncker zusammen. Am Montag hatte seine Regierung eine neue Liste mit Reformvorschlägen vorgelegt. Über die soll nun heute entschieden werden.
    Bei uns am Telefon ist jetzt Sven-Christian Kindler, der haushaltspolitische Sprecher der Grünen, und wir erreichen ihn an diesem Mittwochmorgen in Athen. Er ist dort zu politischen Gesprächen. Schönen guten Morgen!
    Sven-Christian Kindler: Schönen guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Kindler, was ist Ihr Ratschlag an die Griechen an so einem Tag wie heute?
    Kindler: Ich denke, dass es jetzt darum gehen muss, schnell auch eine Einigung zu erzielen. Die Zeit ist sehr knapp und der Grexit, der bei einer Nichteinigung droht, wäre die schlechteste aller Welten. Deswegen ist es gut, dass die griechische Regierung sich bewegt hat, dass es wahrscheinlich jetzt zu einer Einigung auch kommen wird. Das ist das eine.
    Zweitens muss man natürlich konkret über den Inhalt dieser Vereinbarung reden, und der ist aus meiner Sicht noch deutlich verbesserungsbedürftig, weil natürlich klar ist, dass die strukturellen Probleme Griechenlands auch gelöst werden müssen und dass auch die Wirtschaft wieder in Gang kommen muss, und da habe ich große Zweifel, dass das mit dieser Einigung erzielt wird.
    "Raus aus dieser kurzatmigen Überweisungshysterie"
    Armbrüster: Heißt das, die Griechen haben sich mit diesem Reformpapier noch nicht weit genug bewegt?
    Kindler: Ich glaube, dass das Problem auch ist, dass auch von Seiten der Gläubiger und von Seiten der Eurogruppe zu sehr weiterhin auf kurzatmige ruckartige Haushaltssanierung gesetzt wird, mit rezessiven Maßnahmen, also auch ein weiter so der Austerität es zum Teilen gibt in den neuen Vorschlägen, zum Beispiel mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Ich glaube, die Mehrwertsteuer muss hier auch reformiert werden in dem Land, das ist gar keine Frage. Aber eine kurzfristige deutliche Mehrwertsteuererhöhung in zentralen Bereichen, die wichtig für die Wirtschaft sind, hat rezessive Wirkungen und wird nicht dazu führen, dass die Wirtschaft hier wieder auf die Beine kommt und dass die Wirtschaft hier auch wieder wächst. Das ist gerade zentral: Man braucht einerseits die Absicherung, dass Griechenland im Euro bleibt, dass der Grexit nicht mehr droht, andererseits Maßnahmen, damit die Wirtschaft wächst, damit auch nachher die Schulden zurückgezahlt werden können. Denn nur wenn die Wirtschaft floriert, wenn Griechenlands Wirtschaft wieder wächst, können auch Schulden zurückgezahlt werden.
    Und man muss rauskommen aus dieser kurzatmigen Überweisungshysterie. Wir brauchen eine mittelfristige Lösung. Dazu sind aus meiner Sicht zwei Elemente sehr wichtig. Einerseits schlagen wir Grüne vor, dass es eine Umschuldung gibt, eine Schulden-Restrukturierung, dass die alten Kredite, die durch neue Kredite abgelöst werden müssen in den nächsten fünf Jahren bis 2020 an den IWF und an die EZB, dass die der ESM übernimmt. Gleichzeitig aber, dass jetzt ein Fokus gelegt wird nicht weiter auf kurzfristige Austerität, sondern auf eine gerechte Reformagenda im Land, dass man hier die Steuerverwaltung richtig saniert und umbaut, damit das Land mehr Einnahmen erzielt, dass man die Reichen stärker besteuert, dass man einen gerechten Umbau des öffentlichen Dienstes hat, dass man den Militärhaushalt kürzt ...
    Armbrüster: Herr Kindler, genau das sind ja Forderungen, die seit Monaten eigentlich auf dem Tisch liegen. Was sind denn Ihre Eindrücke in Athen? Haben die griechischen Politiker das verstanden?
    Kindler: Aus meiner Sicht haben die griechischen Politiker das verstanden. Aber die griechische Regierung hat auch viel zu wenig davon bisher umgesetzt, und das kritisiere ich auch klar, und da muss die griechische Regierung auch mehr leisten und es ist bisher auch zum Teil einfach enttäuschend, wie wenig in diesen Bereichen passiert ist. Da muss mehr kommen. Andererseits ist es natürlich so, dass diese verkorksten technokratischen Gespräche und Verhandlungen, wer gewinnt, wer verliert, dass die natürlich auch viel bestimmt haben in den letzten Monaten. Da ist viel Zeit verloren worden. Das liegt an der griechischen Regierung, das liegt aber natürlich auch an der deutschen Regierung, das liegt an der Eurogruppe insgesamt, dass hier viel nationales Gepolter insgesamt in diesem Verhandlungsprozess war und der Eindruck vermittelt wurde, Europa kann sich gar nicht mehr einigen und ist nicht mehr verhandlungs- und kompromissbereit. Da wurde auch viel Zeit einfach verspielt und deswegen muss dieses nationale Gepolter jetzt auch enden, weil am Ende alle verlieren, das Zeit kostet, Geld kostet und nachher Europa verliert.
    Armbrüster: Aber wenn das auf griechischer Seite so schwierig war in den vergangenen Monaten, wieso sollten wir dann daran glauben, dass sich nach einer möglichen Einigung heute daran in den kommenden Monaten etwas ändern sollte?
    Kindler: Aus meiner Sicht braucht das Land eine mittelfristige Perspektive. Solange weiterhin nicht klar ist, Griechenland bleibt im Euro, der Grexit ist abgewendet - und das müssen aus meiner Sicht die Staats- und Regierungschefs, allen voran Angela Merkel deutlich machen -, solange das nicht gesichert ist, wird auch weiter die Wirtschaft hier nicht in Gang kommen und der Investitionsstopp weiter drohen. Deswegen, glaube ich, braucht man einerseits eine Schulden-Restrukturierung, andererseits den Fokus auf eine gerechte Reformagenda und ein Ende der Austerität. Das ist notwendig und diese griechische Regierung verdient eine Chance, weil großenteils sie aus Mitgliedern besteht, die nicht Teil des alten Klientelsystems sind von Pasok und Nea Dimokratia, also den Schwesterparteien von CDU/CSU und SPD, und weil man natürlich auch sehen muss, dass in den ersten Monaten viel zu viel Zeit verspielt wurde, gleichzeitig aber auch natürlich ...
    "Grexit wäre ökonomisch sehr risikoreich für ganz Europa"
    Armbrüster: Zeit verspielt und vor allen Dingen wurde der Wachstumskurs der vergangenen Regierung innerhalb weniger Monate völlig zunichtegemacht.
    Kindler: Ich glaube nicht, dass die alte Regierung auf einem richtigen Wachstumskurs war. Auch da gab es strukturelle Probleme. Auch da waren zentrale Fragen nicht angegangen worden. Der Reformkurs wurde von der alten Regierung auch nicht wirklich angegangen und die strukturellen Bedingungen waren auch sehr schwierig. Man muss natürlich auch sehen, dass in dieser Regierung einfach auch Lernprozesse stattfinden. Das hat jetzt auch natürlich der Einigungsdruck hier gezeigt, dass die sich in die Verwaltung auch einarbeiten müssen, dass das schwierig ist, und natürlich der Druck der Verhandlungen auch dazu führt, dass das viel Zeit absorbiert hat. Das entschuldigt nicht, dass zu wenig hier passiert ist bei den Reformen, was wir erwarten. Trotzdem war die alte Regierung auch nicht wirklich dabei, das Land zu reformieren. Ich glaube, dass zentral natürlich ist, dass man sich fragen muss, hält Europa jetzt in diesen schwierigen Zeiten zusammen, oder bröselt die Eurozone auseinander und ist das der Anfang vom Ende der Eurozone, was mit einem Grexit und anderen Entwicklungen danach folgen könnte. Das ist, glaube ich, das zentrale Problem, das wir jetzt lösen müssen. Ein Grexit wäre für Griechenland sozial und ökonomisch verheerend, aber europapolitisch auch und ökonomisch sehr risikoreich für ganz Europa, weil klar ist, dass Europa dieses Problem nicht gelöst bekommt. Ich meine, die ganze Welt, China, Indien, Russland, die USA würden ja lachen über uns, wenn man ein Land wie Griechenland, das ein sehr kleines Bruttoinlandsprodukt hat im Vergleich, wenn man das Problem nicht gelöst bekommt. Deswegen muss meiner Ansicht nach eine Klarheit auch und eine mittelfristige Lösung für Griechenland und die Eurozone gefunden werden, damit man eine nachhaltige Perspektive auch für Griechenland im Euro hat.
    Armbrüster: ..., sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der haushaltspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Sven-Christian Kindler, zurzeit in Athen. Vielen Dank, Herr Kindler, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Kindler: Vielen Dank Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.