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Schulempfehlung
"Ein Politikum für Eltern wie auch für Politiker"

Wer soll entscheiden, auf welche Schule ein Kind nach der Grundschule wechselt? Der Lehrer oder die Eltern? In vielen Bundesländern sei das ein "Politikum", meint die Forscherin Stefanie Jähnen im DLF. Dabei hat eine Studie ergeben, dass die Aufregung darüber eigentlich unnötig ist.

Stefanie Jähnen im Gespräch mit Sandra Pfister | 24.09.2015
    Schüler und Eltern in einer Kölner Grundschule am letzten Schultag vor den Ferien
    Wer soll entscheiden, wohin der Weg nach der Grundschule führt? (Andreas Diel)
    Sandra Pfister: Mein Kind soll mal aufs Gymnasium! – Falls Sie Kinder im Grundschulalter haben, haben Sie das – Hand aufs Herz! – vielleicht insgeheim auch schon gedacht! Verständlich! Gerade viele bildungsbewusste Eltern wollen für ihre Kinder die bestmögliche Schulausbildung. Nur gibt es ja in immerhin sechs von 16 Bundesländern eine verbindliche Schulempfehlung! Das heißt, die Grundschullehrerin bestimmt, wohin die Reise geht.
    Wenn diese Vorgabe fehlt und die Eltern frei wählen können, dann – das war immer eine Sorge – schicken bessergestellte Eltern ihre Kinder auf Teufel komm raus aufs Gymnasium. Aber stimmt das tatsächlich? Dazu gibt es eine frische Studie mit einem Ergebnis, das auch die Forscher überrascht hat.
    Mit einer von ihnen reden wir jetzt, mit Stefanie Jähnen vom Wissenschaftszentrum Berlin. Guten Tag, Frau Jähnen!
    Stefanie Jähnen: Schönen guten Tag, Frau Pfister!
    "Wir haben das Gegenteil von dem gefunden, was angenommen wurde"
    Pfister: Frau Jähnen, Sie konnten das ja erst mal selber nicht so richtig glauben, was bei Ihrer Langzeitstudie herauskam! Was hat Sie denn so überrascht?
    Jähnen: Uns hat tatsächlich überrascht, dass wir das Gegenteil von dem gefunden haben, was bis jetzt immer so in der Forschung angenommen und teilweise auch mit Studien schon in einem gewissen Maße als gültig angesehen wurde, nämlich dass, wenn die verbindliche Empfehlung abgeschafft wird, also die Eltern frei entscheiden können, auf welche Schulform ihr Kind geht, dass dann weniger Kinder aus bildungsnahen Familien aufs Gymnasium gehen. Und das hat uns überrascht, weil man aus der Theorie und von dem, was man bis jetzt aus der Forschung wusste, eigentlich das Gegenteil annehmen muss.
    Pfister: Haben Sie denn eine Erklärung dafür, warum Eltern aus bildungsnahen Schichten, wie Sie sagen, diesen Spielraum jetzt nicht ausnutzen?
    Jähnen: Wir können nur vermuten, woran das in den Bundesländern liegt, wo wir das untersucht haben, weil wir dazu keine Daten haben. Aber es ist sehr auffällig, dass in den zwei Bundesländern, die wir uns genau angeschaut haben, die Lehrer besonders viele Kinder aus bildungsnahen Familien fürs Gymnasium empfohlen haben; und nach der Reform hat sich das quasi angeglichen dem üblichen Schnitt in den Bundesländern. Deshalb vermuten wir, dass es an der Empfehlungspraxis der Lehrer liegen könnte, über die man bis jetzt sehr wenig weiß.
    Pfister: Welche Bundesländer haben Sie sich angeguckt?
    Jähnen: Sehr viele, denn es gab seit 1949 insgesamt 16 Reformen dieser Regelung. Die Spitzenreiter, sage ich mal, ob man das jetzt positiv oder negativ deuten will, sind das Saarland und Nordrhein-Westfalen, wo es jeweils drei Reformen der Empfehlung gab, was meist mit Wechseln der Landesregierung zu tun hatte.
    Pfister: Um es noch mal zusammenzubinden: Wenn man die Eltern entscheiden lässt nach der Grundschule, dann verschärft das die soziale Schieflage nicht für die weitere Schullaufbahn. Jetzt mal die umgekehrte Frage: Sind denn auch mehr Kinder aus sozial schwachen oder bildungsfernen Familien aufs Gymnasium gewechselt, wenn die verbindliche Schulempfehlung weggefallen ist?
    Jähnen: Genau das haben wir festgestellt in den zwei Bundesländern, wo wir genauer reingeschaut haben, was passiert mit den unterschiedlichen Kindern nach sozialer Herkunft. Genau das haben wir da gesehen.
    Ohne Empfehlung gehen generell mehr Kinder aufs Gymnasium
    Pfister: Und gibt es dafür eine Erklärung?
    Jähnen: Im Prinzip gibt es aus theoretischer Sicht keine Erklärung dafür. Wir haben nur gesehen, dass insgesamt mehr Kinder aufs Gymnasium gehen, das ist der recht eindeutige Befund der Studie. Es gehen mehr Kinder aufs Gymnasium insgesamt, egal welcher Herkunft jetzt erst mal, wenn die verbindliche Empfehlung abgeschafft wird. Und insgesamt weniger Kinder, wenn sie eingeführt wird. Das heißt, die Gymnasialquote hängt schon recht stark davon ab, wie die Regelung ist, aber je nach sozialer Herkunft passiert in den Bundesländern Unterschiedliches, da muss man unterscheiden.
    Pfister: Das heißt, wenn man es jetzt in Handlungsanweisungen für Bildungspolitiker ummünzen wollte: Wenn Bildungspolitiker mehr Abiturienten und im Effekt dann auch mehr Studierende haben wollen, dann müssen sie die Schulwahl freigeben?
    Jähnen: Ich würde das differenziert sehen. Nämlich zum einen sollte man überlegen, ob man diese Ungleichheiten zwischen den Bundesländern haben möchte oder zulässt, die dadurch entstehen, dass einfach in Bundesländern, die den freien Elternwillen haben, mehr Kinder die Chance haben oder tatsächlich aufs Gymnasium eben gehen als in Ländern, die eine verbindliche Empfehlung haben. Das schafft ja Ungleichheiten zwischen den Bundesländern, wo man sich auf Koordinierungsebene mal Gedanken drüber machen sollte.
    "Einführung des Elternwillens verschärft nicht die soziale Schieflage"
    Das Zweite ist eben, was passiert mit Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Und da haben wir eben gesehen, dass die Einführung des Elternwillens die Schieflage, die soziale nicht verschärft, aber dass auch je nach Bundesland und Kontext unterschiedliche Effekte auftreten. Also, daraus kann man keine, also für die soziale Spaltung keine klare Empfehlung ableiten.
    Mein persönliches Fazit wäre, dass es vielleicht wichtigere Baustellen gibt, an denen man reformieren und wo man überlegen sollte, wie man soziale Ungleichheiten abbaut, als den Elternwillen hin- und herzureformieren.
    Pfister: Okay, weil es nämlich bei diesen Entscheidungen, wenn es um die Abschaffung des Elternwillens ging, ja immer große Proteste gab. Also, das war ein großes bildungspolitisches Streitthema immer in der Vergangenheit. Sie sagen, das sollte man ruhig mal ein bisschen entspannter angehen, denn so große soziale Verwerfungen gab es da jetzt eigentlich nicht?
    Jähnen: Richtig. Das ist eine sehr aufgeladene ... sagen wir, ein Politikum für Eltern wie auch für Politiker. Aber vielleicht liegt es auch eher an der Wahrnehmung und den Empfindlichkeiten von Leuten und nicht an dem, was da tatsächlich passiert.
    Pfister: Aber wenn ich das eben richtig rausgelesen habe: Im Sinne einer bundesweiten Gerechtigkeit sind Sie dafür, es zumindest zu vereinheitlichen?
    Jähnen: Das ist richtig.
    Pfister: Ganz herzlichen Dank! Das war Stefanie Jähnen vom Wissenschaftszentrum in Berlin, die zusammen mit ihrem Kollegen Marcel Helbig eine Studie gerade präsentiert hat. Da ging es darum: Wenn am Ende der Grundschulzeit die Eltern selbst entscheiden dürfen, auf welche Schule ihr Kind geht, dann gehen insgesamt mehr Kinder aufs Gymnasium, und nicht nur, wie vielfach angenommen, mehr Akademikerkinder. Danke Ihnen, Frau Jähnen!
    Pfister: Gern geschehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.