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Schulleistungstests
" Forschungsanspruch oft überschätzt"

Die Ergebnisse von PISA- oder IGLU-Test sollte man nicht "so einfach als bare Münze" nehmen, sagte Bildungsforscher Hans Brügelmann. Es seien eher Trendaussagen. Jedes Kind bringe unterschiedliche Lerngeschichten mit und die Testerfolge seien von kompetenten Lehrern abhängig.

Hans Brügelmann im Gespräch mit Manfred Götzke | 13.08.2015
    Eine Schülerin des Anton-Bruckner-Gymnasiums in Straubing (Niederbayern) schreibt das Wort "PISA" auf eine Tafel.
    Tests sollten nur als Trend gewertet werden, sagt der Bildungsforscher Hans Brügelmann (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
    Manfred Götzke: PISA, VERA, IGLU - diese großen Schulleistungstests sind zu so was wie einem Goldstandard in der Bildungspolitik geworden. Nichts hat die deutsche Schullandschaft so stark verändert wie der Schock nach der ersten PISA-Studie, bei der die deutschen Schüler ja im internationalen Vergleich erstaunlich schlecht abgeschnitten haben damals. Seitdem richten Bildungspolitiker sehr deutlich sich an die Vermessung von Schulen und Schülern durch standardisierte Tests und das hat Risiken und Nebenwirkungen, schreibt der Bildungsforscher Hans Brügelmann in seinem neuen Buch, das er passenderweise „Vermessene Schulen - standardisierte Schüler" genannt hat. Ich habe ihn vor der Sendung gefragt, worin denn die Risiken der großen Tests wie PISA, VERA und IGLU liegen.
    Hans Brügelmann: Ja das ist jetzt eine große Frage, die Sie stellen, weil das ja auf verschiedenen Ebenen Konsequenzen hat. Ich sehe vor allem Probleme im Verhältnis zur Unterrichtspraxis. Es ist ja richtig, dass der Außenblick von Forschung hilft, dass man in der Schule aufmerksam wird auf blinde Flecken oder auch einfach Gewohnheiten, die man mal kritisch befragen muss. Aber im Moment haben wir einen Trend, dass die Forschung sozusagen als Autorität gesehen wird, die sagt, wie man Unterricht am besten machen kann, und das halte ich für ein völliges Überziehen des Kredits, den Forschung in Anspruch nehmen kann.
    Götzke: Hat die Forschung den Unterricht denn schon verändert?
    Brügelmann: Na ja, sie tut das ständig. Bloß sie tut es auch in unterschiedliche Richtungen, weil es immer wieder Studien gibt, die andere Ergebnisse bringen. Wir haben ja in der Praxis das Problem, dass Lehrerinnen und Lehrer unterschiedliche Erfahrungen machen, und da sagt man, na ja, das ist halt zufällig, der eine ist in einem Stadtteil, wo es schwierige Kinder gibt, der andere hat Kinder, mit denen sich leicht arbeiten lässt, also darf man sich nicht auf die Praxiserfahrung verlassen. Aber in der Forschung haben wir ähnliche Probleme. Je nachdem, mit welchen Instrumenten Sie arbeiten, welche Fragebögen oder Tests Sie einsetzen, mit welchen statistischen Verfahren Sie arbeiten, können Ergebnisse unterschiedlich ausfallen, und das macht es eben sehr schwer, dass die Forschung sozusagen einen höherwertigen Erkenntnisanspruch stellen kann. Aber sie beeinflusst, weil sie einfach einen höheren Status hat in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und auch vieler praktizierender Pädagogen.
    Wichtig wie Lehrer mit Methoden umgehen
    Götzke: Die standardisierten Tests, die nehmen ja, wie Sie auch schreiben, eine Evidenzbasierung in Anspruch. Ist die aus Ihrer Sicht so nicht gegeben?
    Brügelmann: Na ja. Das Problem ist, dass wir es mit großen Stichproben dann zu tun haben, in denen Durchschnittswerte errechnet werden, und dann kommt raus, dass eine Methode A auf einem Leistungstest im Durchschnitt, sagen wir mal, drei Punkte mehr erreicht. Was aber nicht in den Blick kommt ist, dass innerhalb der Methoden die Streuung sehr groß ist, denn es kommt ja darauf an, wie ein konkreter Lehrer mit einer Methode umgeht. Wir haben es ja in der Schule nicht mit Techniken zu tun, wo man sagen kann so wie beim TÜV oder bei Stiftung Warentest, ein Gerät arbeitet immer gleich unter verschiedenen Bedingungen, sondern Unterricht ist in hohem Maße davon abhängig, wie kompetent Lehrerinnen und Lehrer mit Methoden umgehen, und insofern sind einfach diese Durchschnittsaussagen wenig hilfreich für den einzelnen Lehrer, der es mit konkreten Schülern auch zu tun hat, die ganz unterschiedliche Lerngeschichten mitbringen in den Unterricht. Insofern, denke ich, wird da tatsächlich - wie soll ich mal sagen - der Geltungsanspruch von Forschung oft überschätzt.
    Götzke: Wie soll man denn dann den Erfolg von Lehrern und ihren individuellen Unterrichtsmethoden messen, wenn nicht durch solche standardisierte Tests?
    Brügelmann: Das Problem ist, dass man es eben nicht einfach messen kann, sondern dass durchaus richtig ist: Wir brauchen einen Außenblick auf Schule. Insofern gibt es ja auch schon Formen wie etwa Schulinspektion oder Schulaufsicht oder wechselseitige Hospitation von Lehrerinnen und Lehrern. Aber das Problem ist, dass man nicht so einfach, wie ich eben schon mal gesagt habe, wie im technischen Bereich sagen kann, ein Lehrer ist schlecht, nur weil jetzt in einem Leistungstest niedrige Punktwerte herauskommen. Das kann sehr unterschiedliche Gründe haben und darüber muss man reden, und dieses Reden ist immer auch etwas Subjektives. Da kommen wir leider im sozialen Bereich nicht raus.
    Man darf sich auf Trendaussagen nicht verlassen
    Götzke: Wie sollten Lehrer und vor allem Bildungspolitiker denn dann die PISA-Ergebnisse lesen und was machen sie beim Lesen falsch?
    Brügelmann: Na ja. Das sind ja schon hilfreiche Trendaussagen. Ein englischer Kollege hat mal gesagt, die Ergebnisse solcher Forschung sind Hypothesen. Es sind gut begründete Hypothesen, mit denen man in die Praxis gehen kann. Aber man darf sich eben nicht auf sie verlassen wie auf Rezepte, und da wünsche ich mir einfach, dass man mit diesen Ergebnissen etwas nachdenklicher umgeht und Punktdifferenzen, wie sie sich zum Beispiel in diesen Hitlisten nach PISA oder IGLU zeigen, dass man die nicht so einfach als bare Münze nimmt, sondern dass man sagt, ja, das ist ein Hinweis darauf, hier gibt es vielleicht Probleme, da müssen wir genauer hingucken, aber das Ergebnis ist nicht schon das endgültige Urteil.
    Götzke: Gab es also zu viel Aktionismus nach dem sogenannten PISA-Schock?
    Brügelmann: Einerseits war es sicher gut, dass man hier in Bewegung gekommen ist. Aber andererseits ist die Politik auch derart unter Druck geraten, dass dann zum Teil in der Tat zu schnell Entscheidungen gefällt worden sind, bestimmte Programme zum Beispiel zur sprachlichen Frühförderung einzuführen, statt zu sagen, was wir machen müssen ist, langfristig die Kompetenz der Erzieherinnen und Erzieher in den Kindergärten und der Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen zu entwickeln.
    Das ist nicht etwas, was in zwei, drei Jahren schon große Ergebnisse abwirft, mit denen wir dann politisch auch reüssieren können. Da steckt die Politik tatsächlich in einem Dilemma, weil sie schnell Ergebnisse vorweisen soll und andererseits wir wissen, dass pädagogische Veränderungen wirklich Zeit brauchen, wenn sie unter die Oberfläche gehen sollen.
    Test-Formate können auch erlernt worden sein
    Götzke: Andererseits hat der PISA-Schock vor mehr als zehn Jahren dazu geführt, dass Bildungssysteme verändert wurden. Auf einmal stand Deutschland viel besser da, zumindest in den PISA-Ergebnissen. Würden Sie aber sagen, der Unterricht ist nicht besser geworden und eigentlich schlechter geworden, oder wie schätzen Sie das ein?
    Brügelmann: Das ist ganz schwer einzuschätzen, denn die Veränderung der Punktwerte muss in der Tat noch nicht bedeuten, dass die Kompetenzen besser geworden sind, sondern was ja auch schon eine Rolle spielen kann ist, dass sich deutsche Schülerinnen und Schüler und auch ihre Lehrer daran gewöhnt haben, mit diesen Aufgabenformaten, wie sie in solchen Tests abverlangt werden, geschickter umzugehen, dass so etwas auch im Unterricht stärker geübt worden ist. Veränderte Punktwerte bedeuten noch nicht veränderte Kompetenzen, also Lernzuwachs, aber das ist wie gesagt generell ganz schwer zu beurteilen, weil wir in den Schulen durchaus unterschiedliche Entwicklungen sehen.
    Wir sehen, dass an manchen Stellen diese Ergebnisse Lehrer zum Nachdenken gebracht haben, ihren Unterricht anders anzulegen, und wir sehen an anderen Stellen, dass es schlicht zu einer Oberflächenanpassung gekommen ist, wobei sich in der Realität eigentlich nichts verändert hat.
    Götzke: Das heißt, im Grunde, würden Sie sagen, haben sich die Schulen nicht verbessert seit dem PISA-Schock?
    Brügelmann: Ich sage zumindest, dass wir es nicht belegen können mit dem, was wir bisher auf dem Tisch haben, und dass man da nicht so schnell sagen kann, die Politik war erfolgreich.
    Götzke: Um ein kurzes Fazit zu ziehen: Welche Konsequenzen sollten Bildungspolitiker ziehen, weniger Evaluation oder eine andere Form von Evaluation?
    Brügelmann: Vor allem sollten sie, denke ich, an den bekannten Problemstellen mehr Geld und Ressourcen einsetzen dafür, dass Unterricht verbessert wird, zum Beispiel in sozialen Brennpunkten. Insofern brauchen wir in der Tat nicht mehr Evaluation, sondern wir brauchen mehr Unterstützung in den Schulen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.