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Schulreform in Polen
Wenn Lech Walesa aus der Geschichte verschwindet

In Polen beginnen die großen Ferien - und Wochen der Ungewissheit. Denn zum 1. September tritt die umstrittene Schulreform in Kraft. Lehrer und Eltern laufen seit Monaten Sturm. Denn es geht nicht nur um Strukturfragen, sondern auch um die Lehrpläne, in die nationalkonservative Denkmuster einziehen.

Von Jan Pallokat | 26.06.2017
    Lehrer protestieren in Warschau gegen die polnische Bildungsreform.
    Lehrer protestieren in Warschau gegen die polnische Bildungsreform. (AFP / Janek Skarzynski)
    "Was machst du am liebsten in der Natur?" - "Am liebsten mag ich …"
    Klasse 1a am Gymnasium Nummer drei in Torun lernt Deutsch im Schwerpunkt, mehrmals in der Woche geht es um der, die, das. Im Unterrichtsraum hängt neben Kreuz und Nationalflagge ein VW-Käfer an der Wand und auch eine deutsche Altstadtszene ist zu sehen. Doch die Schule wird es bald nicht mehr geben, als Ergebnis der Schulreform in Polen. Gut finden die Schüler das nicht. Warum nicht?
    "Gymnasien sind in Ordnung. Wir lernen neue Leute kennen, und sitzen nicht acht Jahre lang in derselben Schule. Denn wenn man nach acht Jahren Grundschule direkt in die Oberstufe wechselt, ist es schwierig, sich umzustellen. Es wäre besser, wenn die Gymnasien bleiben würden."
    Erst nach der Wende eingeführt, sind die polnischen Gymnasien Bindeglied auf dem Weg ins Lyzeum, der eigentlichen gymnasialen Oberstufe wie in Deutschland - oder direkt ins Berufsleben. Die Grundschule wurde entsprechend verkürzt. Das soll nun wieder rückgängig gemacht werden. Die Bildungsministerin begründet die Reform mit der schlechten Bewertung polnischer Schulleistungen.
    "Polnische Schüler können Probleme nicht lösen. Sie können nicht in der Gruppe zusammenarbeiten, sie beherrschen keine mathematischen Grundregeln."
    Proteste von Lehrern, Eltern und Schülern
    Und doch rebellieren Lehrer, Eltern und Schüler gegen die Abschaffung des Gymnasiums. Jeden 10. im Monat blieben die Schüler nicht nur hier in Torun aus Protest dem Unterricht fern. Auch kaum ein Lehrer am Gymnasium Nr. 3 findet die Reform gut; chaotisch und undurchdacht sei sie. Eine Englischlehrerin:
    "Wir wissen nicht, mit welchen Lehrbüchern wir arbeiten werden, wie viele Schulen geschlossen, wie viele Lehrer entlassen werden. Und die Schüler sind auch verunsichert, denn sie wissen nicht, was sie erwartet, der Lehrrahmen ist noch unvollständig."
    Landesweite Proteste und fast eine Million Unterschriften für ein Referendum kamen so zusammen. In Torun organisiert Urszula Polak von der Lehrergewerkschaft die Proteste.
    "Was will die Regierung erreichen? Sie hat im Wahlkampf versprochen, zur achtjährigen Grundschule zurückzukehren, denn die meisten Wähler dieser Partei sind ältere Menschen, die ihre eigene Jugendzeit sentimental betrachten. Sie aber denken nicht daran, dass es damals eine andere Zeit war und wir jetzt ganz andere Strukturen haben. Die Schüler der Mittelstufe sind heute denkende Menschen, aufgeschlossen zur Welt, gegenüber Veränderungen. Sie sprechen Fremdsprachen, denken über Grenzen hinweg. Jetzt wollen sie an den Anfang zurück, und das darf man nicht machen."
    Lehrpläne wurden umgeschrieben
    Dabei geht es nicht nur um Strukturfragen. Denn im Zuge der Reform wurden, ebenfalls im Eiltempo, Lehrpläne umgeschrieben. Und wer die alten mit den neuen Plänen vergleicht, erkennt die Handschrift der nationalkonservativen Regierungspartei PiS: Da steht Darwins Evolutionslehre plötzlich nicht mehr im Zentrum des Biologieunterrichts, sondern am Rande, was die polnische Akademie der Wissenschaften zu scharfer Kritik veranlasste. Da fehlt in der Behandlung der jüngsten Geschichte der Name Lech Walesas, des Erzfeindes von Parteiführer Jaroslaw Kaczynski. Und Wissenschaftler aller Fachrichtungen entdeckten auch schwere fachliche Mängel. Beispielhaft ein Physiker, ein Linguist, eine Historikerin.
    "In den Naturwissenschaften endet das Material um die Wende zum 20. Jahrhundert. Nichts wird von dem erklärt, was die jungen Menschen heute umgibt!"
    "Die moderne Literatur fehlt sehr!"
    "Wenn wir uns in der Schule auf die Geschichte Polens beschränken, werden wir unsere Nachbarländer nicht verstehen können."
    Von einer Rückkehr in die Zeit der sozialistischen Volksrepublik spricht gar der Posener Erziehungswissenschaftler Stanislaw Dylak. Die Schule werde wieder ideologisch und autoritär, lehre Anpassung und Unterordnung, sagte er dem regierungskritischen Magazin "Polityka". Bislang hat die Regierung den scharfen Protesten gegen ihre Schulpolitik getrotzt. Jetzt sind erst mal Große Ferien - und danach werden wohl Fakten geschaffen sein.