Freitag, 29. März 2024

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Schulterschluss mit den Giganten der Moderne

Tom McCarthy hat einen unbequemen, manchmal provokanten, aber höchst virtuosen Roman vorgelegt, der fest in der Tradition der europäischen Moderne steht, und dem man einen Platz im Kanon der zeitgenössischen Literatur durchaus wünscht.

Von Tanya Lieske | 10.06.2012
    Der Held dieses Romans ist ein Kind der vorvergangenen Jahrhundertwende. 1898 wird er geboren, im Süden Englands, auf einem idyllisch anmutenden Landgut. Seine Eltern sind wohlhabend, sie haben ihr Geld mit der Produktion von Seidenstoffen gemacht. Seine Mutter ist taubstumm, sein Vater, durchaus beseelt vom Reformeifer der Zeit, unterhält eine Schule, in der er ebenfalls taubstummen Kindern das Sprechen beibringt. Man nähert sich auf den ersten Seiten dem Landgut, den dort lebenden Personen, dem Kind mit dem polyglotten Namen Serge Karrefax, das mit einer Glückshaube geboren werden soll, also mit einem behaupteten Überschuss an glücklicher Zukunft. Man nähert sich all dem in einer geruhsamen, idyllischen, erzählerischen Totalen. Ein Einspänner zuckelt heran, er bringt den Hausarzt, es ist September, es gibt eine Obstwiese, Koniferen, eine Gartenmauer. Wären da nicht kleine Irritationen, wie etwa die Tatsache, dass der Einspänner auch große Mengen an Kupferdraht bringt, und dass der Hausherr eben diesen Draht sehnlicher zu erwarten scheint, als seinen ersten Sohn – wären da nicht diese Störfaktoren, so könnte man glauben, einen Roman im Stil des späten 19. Jahrhunderts vor sich zu haben.

    "Zink und Selenzellen?" blafft er.
    "Sind im Einspänner", erwidert Learmont. "Aber ich bin eigentlich gekommen, um ..."
    "Und die Säure? Die Kupferrollen?" unterbricht ihn der Mann. Er ist von stattlicher Figur, hat eine dröhnende Stimme und dürfte um die vierzig, vierundvierzig sein. "Gekommen – um was?"
    "Ich bin hier, um ein Kind zur Welt zu bringen."
    "Gekommen, um ... ach so, ja! Bringen, natürlich! Ausgezeichnet! (...)
    Sie sagten, die Kupferrollen sind in der Auffahrt?"


    Man könnte einen Roman vor sich haben, der sich mit Familie beschäftigt, mit Tradition mit Zukunft. Einen Bildungsroman vielleicht, und tatsächlich liegt der Bildungsroman wie ein fotografisches Negativ unter diesem virtuosen Erzählstück namens "K". Mit diesem Roman hat der englische Schriftsteller Tom McCarthy einen Pastiche geschaffen. Einen Abdruck des traditionellen Romans, um in dieser Hohlform all das zu suchen, was der Roman an verneinenden narrativen Strategien bereithält. Der moderne Roman, wohlgemerkt, so wie er seine Form ab circa 1930 gefunden hat. Die ausschlaggebenden Erzählmanöver sind dabei Täuschung und Enttäuschung. Methodisch sucht Tom McCarthy den Anschluss an die Theoreme des Strukturalismus und der Dekonstruktion. Inhaltlich zeigen sowohl der Erzähler als auch die Protagonisten des Romans ein fast obsessives Interesse für alle Formen der Kommunikation, der Transmission, des Verstehens und des Missverstehens. Sowohl Serge als auch sein Vater, Mr. Karrefax, sind passionierte Funkamateure. Sie operieren mit Sendemasten, Morsegeräten, Empfangsstationen, mit all dem, was vor mehr als 100 Jahren Spitzentechnologie war. Dabei besetzt Mr. Karrefax Senior den Part des bildungsbürgerlichen Aufklärers, desjenigen, der Kommunikation mit Verständigung gleichsetzt. Sein Vortrag vor Eltern, die ihm ihre taubstummen Kinder anvertrauen, ist dabei in seiner Überhöhung bereits ironisch gebrochen:

    "Ist unser Geist, unser Esprit nicht passend benannt? Suspirio – atmend leben wir, sprechend nehmen wir Teil am Erhabenen.
    In unseren Gesprächen, im Zuhören und Antworten, formen wir unsere Bindungen: Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften. Durch unsere Teilnahme am Reich der Rede lernen wir Moral und Respekt vor dem Gesetz, lernen, den Schmerz der anderen zu verstehen (...).
    Rede ist Maß und Methode unseres Gedeihens. Sie ist Strom und Währung unserer Begegnungen in der Welt und all der funkelnden Wunder ihrer Institutionen, ihres Handels und Wandels."


    Demgegenüber interessiert sich sein Sohn Serge, der ebenfalls ein passionierter Tüftler ist, vor allem für die Störgeräusche im Äther, für Frequenzen, Satzfetzen, Idiome. Abends sitzt er in seinem Zimmer und versucht mit einem selbst gebauten Radiogerät, Signale zu empfangen. Ein Marconigramm war ein frühes Telegramm, das per Funk übermittelt wurde. Benannt ist es nach dem Pionier der drahtlosen Telekommunikation, Guglielmo Marconi, der sein erstes Patent in Großbritannien 1897 anmeldete.

    "Das statische Rauschen klingt wie Denken. Nicht wie das Denken einer einzigen Person, nicht einmal wie das einer Gruppe, eines Kollektivs. Es klingt größer, weitläufiger – und direkter, als wäre es der Klang des Denkens selbst, sein Summen und Brausen (...)
    Die Funker warten, bis die Marconigramms durch sind, und unterhalten sich derweil: Carrigan ist auf die President Lincoln versetzt, Borstable auf die Malwa; die Fußballmannschaft der Company hat 2:0 gegen die Elf vom Evening Standard gewonnen (...) Olympic und Campania spielen eine Partie Schach: K4 nach Q7 ... K4 nach K 5 ... Sie fangen immer mit K4 an."


    Die Telekommunikation, der drahtlose Funkverkehr, Radiowellen und Morsezeichen, das Chiffrieren und Dechiffrieren von Nachrichten, verschlüsselte Kodes und Klartext, die potenzielle, echte und gefälschte Spionage spielen eine große Rolle in diesem Roman. Dabei sind all diese Topoi doppelt belegt. Sie existieren einmal in ihrer historischen Funktion, denn natürlich beschäftigten sich alle Nationen am Vorabend des Ersten Weltkriegs fieberhaft mit Strategien und Technologien. In einer zweiten Bedeutungsebene - und über weite Strecken des Romans scheint dies die ausschlaggebende zu sein – sind all diese Aktionen metaphorisch aufgeladen. In dieser Funktion verweisen sie auf das eigene, semantische Gewebe des Textes, auf die Frage, wie und ob dieser Struktur schafft, Sinn generiert oder in seinen eigenen, textimmanenten Verweissystemen verharrt. Den überlangen Schatten, in dem dieser Roman steht, werfen dabei die Denker und Vordenker des französischen Strukturalismus. Neben Jacques Derrida wäre hier vor allem sein Wegbereiter Maurice Blanchot zu nennen, der einmal sinngemäß gesagt hat, man solle in einem Text nicht ein Ereignis beschreiben, sondern die Spur des Ereignisses verfolgen. Entsprechend organisiert der Erzähler dieses Romans die Figuren und die Aktionen nicht nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit, sondern allein nach den Erfordernissen des Textes. Nicht Mimesis, sondern ständiger Verweis auf das bereits Gesagte oder noch zu Sagende, ist das Erzählziel. In diesem Sinne taucht, natürlich unangemeldet, eines Tages auf dem Gut der Eltern ein Mann auf, der eine einflussreiche Position im englischen Verteidigungsministerium bekleidet. Er heißt Samuel Widsun und unterrichtet Serges gelehrige Schwester Sophie, die sich als wahres naturwissenschaftliches Genie erweist, in den verschiedenen Geheimschriften der Zeit.

    "Rasch zieht er sich mit ihr auf sein Zimmer zurück, und dort verbringen sie den ganzen Vormittag, brüten über Zeilen in Skytale, im Cäsar-Kode und in Vignère Verschlüsselung. Widsun beugt sich über Sophie, das Kinn knapp über ihrem Haar, und korrigiert hier und da einen Buchstaben. Serge will mitmachen, aber die Ziffernfolgen, das Austauschen und Ersetzen sind für ihn zu wirr, als dass er Schritt halten könnte (...).
    "Verschwinde", sagt Sophie. "Mach was anderes."
    "Du hast mich nicht rumzukommandieren", faucht Serge.
    "Und wenn Papa wüsste, was hier vorgeht, würde ihm das bestimmt nicht gefallen."
    Das stimmt. Karrefax hasst Kodes, Chiffren und Verschlüsselung. "Verstößt gegen das Prinzip der Kommunikation", knurrt er Widsun missbilligend bei einem nachmittäglichen Brandy nebst Zigarre zu."


    Tom McCarthy geht durchaus mit Sinn für Komik, mit Virtuosität und viel Spieltrieb ans Werk. Den Sinneinheiten "Rundfunk" und "Chiffre" stellt er weitere zur Seite, die alle sowohl wörtlich als auch metaphorisch zu verstehen sind. Da ist der Komplex der Seidenraupe, des Wurms, des Kokons und des Entpuppens. All dies sind ganz sinnliche Eindrücke für den jungen Serge, der in den manufakturgleichen Werkstätten der mütterlichen Seidenweberei umherstromert. Ihr Gut heißt übrigens Versoie, trägt die Seide also schon im Namen. Ein ähnlich lautender Essay von Jacques Derrida klingt hier genau so an wie die seidenen Fallschirme des Ersten Weltkriegs. Der Kokon der Raupe nimmt das Bild der Mumie vorweg, die Serge im letzten Teil des Romans in Ägypten erforschen will.
    "Tunnel" und "Gräben" sind eine weitere Sinneinheit dieses Romans, sie tauchen auf als Schützengräben und Erzähllabyrinthe, als Unterwelt und als Unbewusstes. An dritter Stelle sei hier das "Insekt" zu nennen. Sophie studiert Insekten mit Leidenschaft, Serge glaubt des Öfteren, sich in ein solches zu verwandeln, und Franz Kafka lässt auch im englischen Original grüßen, das übrigens "C" heißt und nicht "K". Das titelgebende "C" steht im englischen Text als letzte Chiffre für eine ganze Reihe von Worten, die miteinander kommunizieren und ständig neue Bedeutungsräume aushöhlen. Der Übersetzer Bernhard Robben, dem hier abermals eine schwindelerregende, höchst preisverdächtige Übertragung gelungen ist, nennt einige dieser C-Worte in seinem Nachwort. Caul ist das Glückshäubchen. Communication, Code, Crypt, Catacomb, Cocaine stehen für sich selbst. Auch der Nachname des Helden selbst, Carrefax, beginnt im englischen Original mit einem "C".

    Der Roman stellt in vier Teilen, in vier tableauartigen Momentaufnahmen, jeweils eine Station aus Serges Leben vor, seine Kindheit auf Versoie, seine Zeit als Flugpilot im Ersten Weltkrieg, eine Passage als Student in London und ein Aufenthalt im Nildelta, der für ihn tödlich endet. Gemessen an der dicht gewebten Erzähloberfläche dieses Romans ist der Erzählgegenstand geradezu beschaulich. Es geschieht wenig in Serges Leben. Er ist eher ein Antiheld als ein Held. Serge hat ein phlegmatisches Gemüt mit höchst melancholischen Zügen. Eine Grundausstattung, mit der Tom McCarthy wieder einiges an Erzählfeuerwerken veranstaltet. Nach dem frühen Tod seiner Schwester Sophie, die bei ihren naturwissenschaftlichen Studien versehentlich das Zyanid mit Limonade verwechselt hat, sieht der junge Serge einen schwarzen Schleier vor seinen Augen. Seine Eltern senden ihn zur Genesung in den osteuropäischen Kurort Klodebrady. Dort verweilt Serge in einer zauberbergähnlichen Anstalt und wird von einem kuriosen, schmächtigen Arzt behandelt. Hier mendelt sich die Farbe Schwarz als Signal für Todessehnsucht, für den Styx und für die Unterwelt in das Erzählgewebe dieses Roman hinein. So lautet die Diagnose des Arztes Dr. Filip wie folgt:

    "Blut", sagt Dr. Filip und zeigt darauf. "Du hast kachektische Verfassung. (...) Guck, wie dunkel das ist. (...)
    "Und die Ursache?", fragt Serge.
    "Morbide Masse!"
    Dr. Filips dünnes Stimmchen zirpt aus dem kleinen Mund.
    "Böses Zeug. Würde ich reden vor mehreren Hundert Jahren, ich würde es chole nennen, Galle – schwarze Galle: mela chole. Heute kann ich Epigastritis dazu sagen, ernährungsbedingte Toxämie, Darmfäulnis, noch sechs, sieben mehr Namen – aber sie erklären nicht, was die Ursache ist. Es braucht einen Wirt, der es nährt, und du bist bereit. Was es will, hast du gestern gesagt, und das heißt, du bist bereit, seine Bedürfnisse zu stillen, sie zu deinen zu machen. Das müssen wir ändern."


    Es bleibt dem Leser überlassen, den schockstarren Zustand des Protagonisten, den Panzer, den er sich im Laufe des Romans zulegt, mit dem frühen Tod seiner Schwester in Verbindung zu bringen. Bedeutungen und Sinngebungen sind in diesem Roman öfter in den Ellipsen zu suchen, in dem, was ungesagt bleibt. Auch hier winkt Derrida mit seinem Diktum, dass das Ungesagte genau so sinnstiftend sei wie das Ausgesprochene. Ästhetisch sucht Tom McCarthy hier den Schulterschluss mit den Giganten der Moderne. Neben Franz Kafka haben vor allem Samuel Beckett, Georges Bataille, Vladimir Nabokov und Ezra Pound ihre Spuren in diesem Text hinterlassen. Den Lesern des englischen Originals gibt Tom McCarthy darüber hinaus einen Kode, einen semantischen Hinweis mit auf den Weg, nach dem man das Phlegma des Serge Karrefax entschlüsseln kann. Wenn immer er sich mit seiner Schwester Sophie trifft, spielt neben dem Insekt in Gestalt eines Falters, einer Biene, einer Wespe, auch ein Tintenfass mit schwarzer Tinte eine Rolle. In den beiden englischen Begriffen insect und inkset klingt ein dritter schon mit, die Geschwisterliebe, incest.
    Zeichenhaft ist auch die Szene einer menschlichen Kopulation, die der junge Serge eines Abends auf der Obstwiese seines Elternhauses beobachtet. Es ist der Abend, an dem die Schüler der Taubstummenklasse ein Historienspiel, eine Vorführung des antiken Dramas Persephone gegeben haben, die von Hades in die Unterwelt entführt wird.

    "Sophie bleibt so unauffindbar wie Persephone."

    heißt es lapidar, und dann darf man davon ausgehen, dass Serge sie doch findet, ihren Schatten zumindest, in eigenartiger Verrenkung hinter einem Leintuch, das als Projektionsfläche noch auf der Wiese gespannt ist. Als Sparringspartner kommt dabei bestenfalls der hereingeschneite Vaterfreund Samuel Widsun infrage. Schlimmeres darf unter der Rubrik Inzest auch befürchtet werden:

    "Er schaut sich um; zwar erhellt kein Mond den Rasen, doch verbreitet eine Lampe, die irgendwer hinter dem Laken vergaß, ein sanftes Glimmen. Fast hat er das Laken erreicht, als er sieht, was das Geräusch verursacht – vielmehr kann er nur dessen Schatten sehen (...).
    Es ist ein bewegliches Ding aus gelenkigen Teilen. Eines der Teile steht horizontal wie ein flacher Tisch auf vier Stangenbeinen, das andere ist vertikal, mit der Unterseite des rückwärtigen Tischendes zusammengefügt, doch darüber aufragend, mit zuckendem Grat, da der ganze Apparat vor- und zurückruckelt. Das Ding pulsiert wie eine Insektenlunge, und bei jedem Pulsschlag, jedem Atemstoß, ist das Rascheln, Scheuern und Schaben zu hören, mit jedem Stoß quiekt der horizontale, untere Teil, während der vertikale Teil anfängt, ein tiefes Schnauben von sich zu geben, ein barsches, schweinsähnliches Grunzen."


    Mit drei Frauen wird Serge im Laufe dieses Romans eine Affäre beginnen, und jedes Mal bevorzugt er im Liebesakt eben diese Stellung, die er als Kind beobachtet hat. Zuletzt geschieht dies in dem Tunnel einer Ausgrabungsstätte in Ägypten. So viel Unrat liegt hier unter der Erde, dass Serge sich dabei eine Wunde am Knöchel zuzieht. Eine Blutvergiftung folgt, an der er dann stirbt, in einem großen fieberhaften Traum. Alle assoziativen Fäden, die Tom McCarthy zu diesem Finale hin gesponnen hat, Assoziationen zum Styx und zur Unterwelt, zu Orpheus, fotografischen Negativen, zu archaischen Opferkulten vereinigen sich in einem großen, meisterhaft erzählten Crescendo. Im Tod sind Sophie und Serge wieder vereint.

    "Ein Blick hinab verrät ihm, dass die Girlande aus verwelkten, toten Blumen geflochten wurde – und im selben Moment, dass die Kinder ebenso tot sind, ja, dass das ganze Königreich, über das zu herrschen er und seine Braut gesalbt werden, negativ ist, negativ im strikt photographischen Sinne: eine seitenverkehrte Vorlage, von der man endlos korrekte, seitenrichtige Kopien drucken könnte (...).
    Chemische Dämpfe wehen in Schwaden über das Podest, als sich der Priester an Braut und Bräutigam wendet und sie beim Namen nennt. Es sind lange Namen voller Zusammensetzungen: Serge heißt "Ra-Osram-Iris-K4-CQD" und seine Braut "CY-Hep-Sofia-SZGY". (...).
    Dann ist es so weit, Sophie schlägt die Gaze zurück und schaut Serge an. Sie braucht ihn nicht zu fragen, ob er sie wieder erkennt."


    Eros und Tod finden zueinander, genauso die ägyptischen Königskinder Isis und Osiris. Gleich einem unterirdischen, schwarzen Fluss sind diese Motive von Anfang an präsent. Sie tauchen auf, verebben, formieren sich neu, in einem ständigen, metaphorischen Prozess der Gestaltwandlung, der Um- und der Überformung. Nicht nur menschliche und vegetabile Formen verschlingen einander in diesem Roman zu Erzählornamenten, sondern auch Mensch und Insekt, Mensch und Maschine. Letzteres gilt vor allem für das Kapitel zum Ersten Weltkrieg, den Serge als Flieger in einem zweisitzigen Doppeldecker namens RE-8 bestreitet. Serge liebt den Krieg. Unter dem Einfluss der Geschwindigkeit, der Todesgefahr wie unter Drogen, er nimmt Kokain und Heroin, erlebt er einen Rausch, der stark an das erinnert, was die italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti proklamierten. Der Krieg und alle Maschinen, die ihm dienen, besitzt eine eigene, dem Menschen entrückte Schönheit:

    "Als der Sekundenzeiger über das letzte Viertel des Ziffernblatts seiner Uhr wandert, spürt Serge ein fast heiliges Kribbeln, als wäre er selbst gottgleich geworden, durch Maschinen und Signalkodes an einen höheren Platz in der Gesamtordnung der Dinge gehievt, auf eine Aussichtsplattform, von der aus die Erde und Himmel verbindenden Vektoren und Kontrolllinien, die hermetischen Beschwörungsformeln bis hin zu Buchstaben und Schriftart sichtbar, sogar spürbar werden (...).
    Alles wirkt verbunden: Diverse Orte zucken und entladen sich in Bewegung wie Glieder, die auf von andernorts im Körper geschickte Impulse reagieren, Schwenkarme und Ausleger, die Hebeln am anderen Ende eines komplizierten Gefüges von Seilen, Zahnrädern und Relais gehorchen."


    Auf fast schon unheimliche Weise versteht Tom McCarthy es, das Wesen der Beschleunigung - und auch ihr Gegenteil, die totale Verlangsamung, in seinen Roman hineinzunehmen. Wieder reflektiert er sowohl die Bedingung des Romans, der ja ohne Erzählzeit nicht denkbar wäre, wie auch ein Faszinosum der erzählten Zeit, der vorletzten Jahrhundertwende, die ja erstmals jene ungeahnte Beschleunigung erlebte, mit der die Menschheit seither hadert. Der Rausch der Erzählung entsteht durch Geschwindigkeit, aber auch durch Lust am Töten. Wenn Serge auf den Feind schießt, dann zitiert er Verse von Edmund Spenser aus dem Historienspiel seiner Kindertage.
    Damit ist eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen, die in den anstehenden Gedenken zum 100. Jahrestag des Großen Krieges 2014 sicher wenig beachtet werden wird. Der erstmals maschinierte, total beschleunigte Luftkrieg konnte für die, die ihn ausführten, durchaus auch erotisch aufgeladen sein, einen Lustgewinn bedeuten. Mit den üblichen, pazifistisch konnotierten Rückdeutungen des Kriegsgeschehens im zeitgenössischen Roman hat dieser Text herzlich wenig zu tun.
    Tom McCarthy lanciert also einen beherzten Tabubruch. Das ist durchaus im Sinne des Künstlers, der mit einem futuristischen Netzwerk auch im Web unterwegs ist. Seine sogenannte "Necronautical Society" hat ganz im Stil des vorletzten Jahrhunderts ein eigenes Manifest ins Netz gestellt. Nach dem "Necronoautical Manifesto" soll der Tod in der Mitte des Schaffens aller beteiligten Künstler stehen.

    We, the first Committee of the International Necronautical Society, declare the following:
    1. That death is a space, which we intend to map, enter, colonise and eventually inhabit.
    2. That there is no beauty without death, it's immanence. We shall sing death's beauty, that is, beauty.
    3. That we shall take it upon us, in all forms, to bring death into the world. We will chart all it's forms an media: in literature and art, where it is most apparent; also in science and culture, where it lurks submerged but no less potent for the obfuscation ...


    Das ist schön und gut. Unbehagen bereiten allerdings einige begleitende Interviews, in denen Tom McCarthy den angeblichen Konservativismus, den so wörtlich "sentimentalen Humanismus" und die "konventionellen Erzählstrategien" des zeitgenössischen englischen Romans geißelt, eines Romans, der weit hinter die Errungenschaften der Moderne zurückgefallen sei.
    Sieht man von der damit verbundenen Selbstüberhöhung einmal ab, darf festgehalten werden, dass der Umkehrschluss, ein moderner Roman in McCarthys Sinne sei antihumanistisch, in keiner Weise zutreffen kann und darf. Auch nicht für seinen eigenen Roman "C". Tom McCarthy hat nämlich einen unbequemen, manchmal provokanten, aber höchst virtuosen Roman vorgelegt, der fest in der Tradition der europäischen Moderne steht, und dem man einen Platz im Kanon der zeitgenössischen Literatur durchaus wünscht.

    Tom McCarthy: "K.". Roman, aus dem Englischen von Bernhard Robben. 480 Seiten