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Schulz: EU muss sich auf Flüchtlingswelle aus Libyen vorbereiten

In Anbetracht der Lage in Libyen sieht Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialisten im Europaparlament, eine Flüchtlingswelle auf Europa zurollen. Die könne nur bewältigt werden, wenn alle Mitgliedsstaaten endlich dazu bereit wären, finanzielle und der personelle Lasten zu tragen.

Martin Schulz im Gespräch mit Peter Kapern | 24.02.2011
    Peter Kapern: Die Evakuierung von Ausländern aus Libyen läuft weiter, allerdings mit Problemen. Sturm über dem Mittelmeer verhindert das Auslaufen einer Fähre aus dem Hafen von Tripolis mit US-Amerikanern an Bord. Aber immerhin: Auf dem Luftweg können Menschen in Sicherheit gebracht werden.

    Wofür steht die Abkürzung EU? Zurzeit mal wieder für Europäische Uneinigkeit. Vielleicht aber auch für Eklatante Unfähigkeit? Da droht ein Diktator am Rande Europas mit einem Massaker, erklärt seinem Volk den Krieg. Und was macht die EU? – Nein: nicht nichts, aber fast nichts. Nicht einmal zu einem Einreiseverbot für die bis vor kurzem hofierten Mitglieder des libyschen Regimes kann sich die EU bislang durchringen, während Gaddafi seine Schergen mit aus Europa gelieferten Waffen, deren Nachschub jetzt immerhin abgeschnitten worden ist, auf Demonstranten schießen lässt. Ein Teil der Mitgliedsländer der EU redet immerhin Klartext, zum Beispiel Luxemburg. Außenminister Jean Asselborn gestern Früh an dieser Stelle:

    O-Ton Jean Asselborn: Was in Libyen geschieht, ist meines Erachtens Völkermord in höchster Potenz. Das Wichtigste ist, dass wir alles tun in der internationalen Gemeinschaft jetzt, dass dieses Massaker aufhört. Wir müssen uns darauf vorbereiten, glaube ich, wenn das nicht aufhört, dass ein UNO-Mandat zu Stande kommt, um die Menschen in Libyen zu schützen vor diesen Massakern.

    Kapern: Asselborn, der Außenminister von Luxemburg, vor 24 Stunden an dieser Stelle.

    Und am Telefon jetzt Martin Schulz, der Fraktionschef der Sozialisten im Europaparlament. Guten Morgen, Herr Schulz.

    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Kapern.

    Kapern: Was halten Sie von der Idee, mit der Rückendeckung eines UNO-Mandats in Libyen einzugreifen?

    Schulz: Es wäre gut, wenn Jean Asselborn, der ja ein enger Freund von mir ist, hinzugefügt hätte, was das UNO-Mandat denn beinhalten soll. Ich meine, der Jean muss schon wie wir alle uns darüber im Klaren sein, wovon wir da reden, soll das UNO-Mandat militärischer Natur sein und soll da eine internationale Truppe eingreifen. Das ist ja die Frage, die auf dem Tisch liegt, wenn man von einem UNO-Mandat redet. Ich glaube, dafür gibt es sicher keine Mehrheit zum jetzigen Zeitpunkt, und was sollte ein militärisches Eingreifen auch erreichen in einem Land, in dem man weiß, dass der Diktator untergeht und alles mit sich in den Abgrund reißt, aber man nicht weiß, was nach ihm kommt und wer die Alternative ist. Und ich glaube, das ist auch das größte Problem, das wir zurzeit haben: Wer sind unsere Ansprechpartner in Libyen.

    Die EU müsste, insbesondere die Innenminister, die gestern in Rom getagt haben, an allererster Stelle danach schauen, gibt es internationale Organisationen, die noch vor Ort sind, bekommt man mit Einrichtungen, unter Umständen auch mit Wirtschaftsunternehmungen, die vor Ort sind, solche Kontakte hergestellt, dass man mit Leuten, die über Waffen und Macht verfügen, aber nicht zu Gaddafi gehören, in Kontakt kommt. Ich glaube, das ist das A und O, das man jetzt in die Hand nehmen muss.

    Kapern: Herr Schulz, diesen Vorschlag von Jean Asselborn haben Sie jetzt etwas mit leichter Hand vom Tisch gewischt. Es ist ja jetzt gerade zwölf Jahre her, dass eine Regierung einen Teil seiner Bevölkerung versucht hat zu massakrieren, so wie es Gaddafi auch angekündigt hat. Damals hat die NATO einen Krieg gegen Serbien geführt. Was denken Sie, wie weit sind denn Europäer diesmal im Fall Libyen bereit zu gehen? Wird da mit zweierlei Maß gemessen, weil es "nur" um Afrika geht?

    Schulz: Nein, Herr Kapern. Ich glaube, das ist ein sehr, sehr ernstes Thema, und wenn Sie sich zurückerinnern, bevor in Serbien eingegriffen wurde, gab es mit dem Diktator Milosevic lange Verhandlungen und das militärische Eingreifen in Serbien war am Ende, als er anfing, die Kosovaren zu vertreiben, die Ultima Ratio. Wir sind jetzt mit einer völlig anderen Situation konfrontiert.

    Ich will das noch mal wiederholen. Wenn ein militärisches Eingreifen in Libyen jetzt zielführend wäre und man könnte Gaddafi unmittelbar beseitigen und sein Regime und es durch ein anderes ersetzen, würde man sicher über militärische Maßnahmen prüfen. Aber ich glaube, wir sollten realistisch sein. Es ist nicht möglich, militärisch in diesem Land einzugreifen zum jetzigen Zeitpunkt

    Was man machen muss ist – ich wiederhole das noch mal -, sich darauf vorbereiten, dass eine Flüchtlingswelle kommt. Ich glaube, das ist unvermeidlich. Sie haben das in Ihrer Anmoderation selbst gesagt, die Grenzschutzbehörden – das haben wir ja in Tunesien auch schon gesehen – funktionieren nicht, es gibt keine öffentliche Ordnung, der Flüchtlingsstrom wird kommen. Und dann gibt es drei Maßnahmen, die dringend erforderlich sind: Erstens Solidarität der EU-Staaten untereinander. Man kann nicht hingehen und sagen, na ja, haben die Mittelmeerstaaten Pech gehabt, so wie Frau Merkel das gesagt hat, wir nehmen keinen. Zweitens: Man muss den Staaten, die unmittelbar betroffen sind, in der ersten Flüchtlingswelle helfen, die zu bewältigen, humanitär. Dazu gehört auch Geld, zum Beispiel für so ein kleines Land wie Malta, das mit am stärksten betroffen ist. Deshalb glaube ich, dass man Geld unmittelbar zur Verfügung stellen muss. Ich habe gestern deshalb in Brüssel beantragt, dass die Fraktionsvorsitzenden des Europaparlaments nächste Woche zu einer Sondersitzung zusammenkommen, weil wir über Geld beraten müssen. Und ich glaube drittens: Frontex, die Grenzschutzagentur, sollte so ausgestattet sein, dass sie tatsächlich diese Flüchtlingswelle zum Teil abwehren und zum Teil ordnen kann.

    Kapern: Herr Schulz, wir reden gleich noch mal genauer über das Flüchtlingsproblem, das da möglicherweise auf die EU zukommt. Aber ich möchte gern noch einmal ganz kurz, wenn Sie gestatten, zu meiner Ausgangsfrage zurück. Sie haben eben sinngemäß gesagt, Gaddafi sei eigentlich schon erledigt und schon ein Mann der Geschichte. Ist das nicht ein bisschen voreilig oder blauäugig? Davon kann doch im Moment überhaupt noch keine Rede sein.

    Schulz: Ja, die Formulierung haben auch Sie verwendet, Herr Kapern, nicht ich. Ich habe gesagt, das ist ein untergehendes Regime, das alles mit sich in den Abgrund reißt. Das ist eine etwas andere Formulierung.

    Kapern: Vielleicht geht es aber auch gar nicht unter!

    Schulz: Das wäre sicher eine Katastrophe, wenn er siegen würde. Ich bin darauf angewiesen, ich glaube so wie Sie und viele andere auch, Berichte von Leuten zu bekommen, die vor Ort sind, und nach allem, was mir an Berichten vorliegt, sowohl dem, was im Öffentlichen wie im Inoffiziellen zugänglich ist, ist seine Macht im Schwimmen begriffen. Die Arabische Liga geht davon aus, dass es vielleicht noch eine Woche dauert. Ich glaube, dass im Land diese Regierung des Herrn Gaddafi keine Machtbasis mehr hat. Die Stämme, die ihn bisher unterstützt haben, wenden sich von ihm ab.

    Es droht der Bürgerkrieg, das ist richtig, aber ich glaube, Gaddafi ist nicht mehr so stark, dass er einen solchen Bürgerkrieg durchhält. Wie lange das noch dauert, weiß man nicht, aber okay, ich gebe gerne zu, es ist Spekulation, so wie umgekehrt, er wird siegen, auch Spekulation ist. Also wir haben es da mit einer sehr ungeklärten Lage zu tun.

    Kapern: Gestern hat die EU Verhandlungen mit Libyen ausgesetzt und den Waffenhandel gestoppt. Schärfere Sanktionen scheitern mal wieder an der Kakophonie innerhalb der EU, einstweilen jedenfalls. Italien, Malta und Zypern sind dagegen. Wie bewerten Sie das?

    Schulz: Zunächst einmal, indem ich mich dagegen wehre, dass es immer "die EU" ist. Ich muss jetzt mal ganz deutlich sagen, das ist nicht die Kommission der Europäischen Union, ist auch nicht das Europäische Parlament, es sind nicht die EU-Institutionen, sondern es sind die Staaten in der EU, die Regierungen der Mitgliedsländer. Ich glaube, daran muss man sich auch mal gewöhnen, nicht immer zu sagen "die EU", sondern vielleicht sagt man mal, die Länder Europas sind nicht in der Lage, sich zu einigen. Und das hat etwas damit zu tun, dass die Regierungschefs dieser Länder zu keiner Solidarität bereit sind.

    Kapern: Was meinen Sie damit, mit der Solidarität?

    Schulz: ... , dass zum Beispiel die Staaten des Mittelmeeres – ich wiederhole, das habe ich ja eben schon gesagt – nicht alleine gelassen werden dürfen. Wenn Sie, die Griechen, die Malteser, die Italiener und die Spanier, auch die Franzosen waren ja anwesend, zusammennehmen, haben Sie die Anrainerstaaten des Mittelmeeres. Die sind mit der Flüchtlingswelle sicher als erste konfrontiert. Das sind aber nur vier von 27 Staaten. Zur Europäischen Union gehört auch Großbritannien, gehört auch die Bundesrepublik Deutschland, Schweden oder Polen, die baltischen Staaten, oder die Beneluxstaaten. Von denen hat sich bisher einer geäußert: Jean Asselborn. Wie ist das denn, wenn die Bundesregierung aufgefordert wird, wenn es bei der Verteilung der finanziellen und der personellen Lasten geht? Es gibt längst in der Europäischen Union im Asylrecht ein sogenanntes Burden-Sharing, also eine Lastenverteilung. Da gibt es Regelungen drüber, die könnten in Kraft gesetzt werden. Aber was Sie eben als Kakophonie der EU bezeichnet haben, ist in Wirklichkeit die Unwilligkeit der Regierungen der Mitgliedsstaaten, sich auf ein gemeinschaftliches Vorgehen zu einigen, weil das natürlich unattraktiv ist, zu Hause zu sagen, wir kriegen Flüchtlinge, wir müssen die dann auch aufnehmen.

    Kapern: Erpressen die kleinen Südstaaten, oder erpressen die Südstaaten der EU, die Sie gerade aufgezählt haben, die übrigen Staaten in der Sanktionsfrage mit der Flüchtlingsfrage?

    Schulz: Das ist eine sehr, sehr harte Formulierung. Also da bin ich auch überrascht über diese Frage. Da sind vier Staaten, die sind konfrontiert, Frankreich, Italien, Malta und Spanien, das sind die Hauptleidtragenden, Zypern übrigens auch. Diese fünf, die sind konfrontiert mit einer potenziell enormen Flüchtlingswelle von mehreren 100.000 Menschen und sagen lediglich das, worauf die Mitgliedsländer der EU sich vor Jahren bereits verständigt haben, dass in solchen Fällen es eine Lastenverteilung geben muss, weil nicht diese Länder die Last alleine tragen können. Und die erpressen niemanden, sondern die reklamieren das, worauf die EU basiert, nämlich auf gemeinschaftlichem Handeln. Und ich wiederhole noch mal: Wir sind in Brüssel in den EU-Institutionen, der Kommission und dem Europaparlament, bereit zu gemeinschaftlichen Aktionen. Ich glaube, es scheitert nicht an uns, an der EU; es scheitert an ihren Mitgliedsländern, die sich zumindest bis jetzt auf kein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Insofern hoffe ich, dass die Aktivitäten, die wir da nächste Woche entfalten werden, auch zielführend sind.

    Kapern: Martin Schulz war das, der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten im Europaparlament. Ich sage danke für Ihre Zeit und auf Wiederhören, Herr Schulz.

    Schulz: Auf Wiederhören, Herr Kapern.