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Schutz der EU-Außengrenzen
"Ich weiß, dass es große Sensibilitäten gibt"

Muss Griechenland seine EU-Außengrenzen künftig auch von Kräften aus anderen EU-Staaten schützen lassen? Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn befürchtet, dass dieser Vorschlag der EU-Kommission eine "Souveränitätsdebatte" auslösen wird. Im DLF sagte er, dass die Grenzschutzagentur Frontex außerdem in Nicht-EU-Ländern wie Serbien und Mazedonien zum Einsatz kommen könnte.

Jean Asselborn im Gespräch mit Bettina Klein | 15.12.2015
    Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn steigt bei einem Treffen in Luxemburg mit seinem Sakko in der Hand aus einem Auto aus.
    Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn (afp / Emmanuel Dunand)
    "Ich weiß, dass es große Sensibilitäten gibt", sagte Asselborn im DLF zu dem Vorhaben der EU-Kommission, die Mitgliedsstaaten zu einem besseren Schutz der EU-Außengrenzen zu zwingen. Er hoffe aber, "dass wir uns hier vernünftig unterhalten können". Die EU-Kommission will ihre Pläne heute in Brüssel vorstellen. Laut Asselborn wird erwogen, die Grenzschutzagentur Frontex auch in Drittländern einzusetzen - in Serbien oder Mazedonien. Das sei bisher nicht möglich, aber wichtig, um die Rückführung von Migranten effizienter zu organisieren.
    Er drängte darauf, dem Schutz des Schengen-Raums oberste Priorität einzuräumen. Das System der offenen Binnengrenzen könne nur überleben, wenn die Außengrenzen der Union kontrolliert würden, sagte der luxemburgische Außenminister. Luxemburg hat derzeit den Vorsitz im Rat der Europäischen Union.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Es soll eine deutliche Antwort werden in Sachen Flüchtlingspolitik. Die EU-Kommission will offenbar ein neues festes Team aufbauen, das die europäischen Außengrenzen besser gegen illegale Migration schützen soll. Das steht in einem Plan, den die EU-Kommission heute in Brüssel vorstellen will, und dem Vernehmen nach soll diese Truppe die bisherigen Grenzschützer auch gegen den Willen einzelner Staaten, einzelner Regierungen gegebenenfalls eingesetzt werden können.
    Die Details sind noch nicht in Stein gemeißelt. Manches wird wohl heute erst zu 100 Prozent klar werden. Aber die Richtung zeichnet sich ab und darüber kann ich jetzt sprechen mit Jean Asselborn. Er ist der Außenminister Luxemburgs und gegenwärtig Ratsvorsitzender in der EU. Guten Morgen, Herr Asselborn.
    Jean Asselborn: Guten Morgen, Madame Klein.
    Klein: Gehen wir einige Punkte durch. Bisher konnte Frontex, die Grenzschutzorganisation, aktiv werden mit Zustimmung des betreffenden Landes. Hört man jetzt den deutschen Innenminister de Maizière, wie gerade im Bericht, dann schwebt ihm vor, dass auch ohne Zustimmung des betreffenden Landes dies geschehen kann, wenn mit dem Schutz der EU-Außengrenzen nicht mehr so richtig klappt. Und das wäre ein enormer Eingriff in die Hoheitsrechte. Würden Sie das befürworten?
    "Nationale Außengrenzen mit allen Nachteilen"
    Asselborn: Zuerst: Sie haben recht zu sagen, dass wir ja keine Menschen sind, wir beide, die mit Hellseherqualitäten ausgestattet sind. Aber wir bewegen uns ja nicht im luftleeren Raum. Ich glaube, dass man immer den Menschen, dass sie das verstehen, das Prinzip erklären muss, dass Außengrenzen kontrolliert sein müssen im System Schengen - Frage der inneren Organisation, Migration, Arbeitsmarkt, Frage auch immer mehr der inneren Sicherheit. Schengen - das ist ganz klar - wird nur überleben, wenn die Außengrenzen kontrolliert werden. Wir sind also in einer These: Wenn die Außengrenzen nicht zuverlässig kontrolliert werden, dann werden die Innengrenzen wieder zu nationalen Außengrenzen mit allen Nachteilen. Darum bin ich ganz einverstanden, dass wir uns mit der Kommission im Europäischen Parlament, selbstverständlich im Rat sehr damit befassen. Diese Frontex, wenn ich das richtig verstanden habe, soll ja jetzt ein exekutives Organ werden. Auf Anfrage selbstverständlich wie bis jetzt kann das dann stattfinden, dass Frontex hilft, auf Initiative der Agentur. Das wäre dann total neu und das bekommt, wie Sie richtig gesagt haben, eine Souveränitätsdebatte. Das Prinzip der Souveränitätsdebatte ist aber in Verbindung zu setzen ganz klar mit dem Prinzip, dass ja jeder will, dass Schengen aufrecht erhalten bleibt. Ist ein Loch im Gefüge, so riskiert das ganze System Schengen zu bersten, und darum muss man sich Gedanken machen, wie man nationale Kompetenzen mit europäischen Kompetenzen dann ersetzen kann im Falle, wenn ...
    Klein: Herr Asselborn, damit noch mal zu meiner Frage. Das würde ja einen Eingriff in Hoheitsrechte bedeuten. Darauf weisen die Kritiker schon seit einigen Tagen hin, seit wir über diese Pläne reden. Wäre das ein gerechtfertigter Eingriff?
    Asselborn: Ja! Ich habe es eben gesagt! Jeder der 28 will, dass das System Schengen bleibt. Stellen Sie sich vor, Schengen bricht zusammen, was das bedeutet. Wir haben das zum Beispiel in meinem Land gesehen mit den Franzosen, wo die Menschen zwei, drei Stunden später zur Arbeit kamen, weil wir 160.000 Grenzgänger haben. Wenn dasselbe auf der deutschen Grenze geschehen würde, auf der belgischen Grenze, dann wäre die Wirtschaft erstickt in unserem Lande. Darum: Wir müssen alles tun, damit Schengen bleibt. Und wenn ein Land, das wird ja dann nicht diktiert, aber wenn ein Land Probleme hat, wie es jetzt ist mit einer massiven Migration, dann glaube ich, dass der Schritt, dass Hilfe kommt, europäische Hilfe kommt, dass der nicht abwegig ist. Aber Sie müssen auch wissen: Zurzeit laufen Kontrollen der Kommission - und das ist richtig - in allen 28 Ländern der Europäischen Kommission, um zu sehen, dass die Außengrenzen (manche Länder haben keine Außengrenzen, europäische Außengrenzen, haben aber Flughäfen), dass das funktioniert. Und wenn das nicht funktioniert, dann muss eingegriffen werden.
    Klein: Herr Asselborn, ich verstehe Sie so: Wir müssen Schengen retten, und dazu muss in letzter Konsequenz auch, wenn es denn sein muss, ein Eingriff in Hoheitsrechte stattfinden, was der Fall wäre, wenn diese Grenzschutzagentur nicht nur auf Wunsch eines Staates reagiert, sondern auch selber entscheiden kann, wir schicken dort Leute hin. - Ich würde gerne zu einem weiteren Punkt noch kommen. Die Rede ist davon, dass die EU-Länder ein eigenes Kontingent aufbauen sollten von vielleicht 1000 bis 2000 Leuten, damit im Bedarfsfall schnell gehandelt werden kann. Ist das sinnvoll, ist das praktisch machbar?
    "Nicht Chinesen oder Russen schicken uns die Grenzschützer"
    Asselborn: Wir müssen ja wissen, dass nicht die Chinesen oder die Russen uns die Menschen schicken, die die Grenzkontrollen machen. Das müssen ja Europäer sein und die muss man ja dann auch aus Europa herbekommen. Ich würde sogar sagen, dass die Länder, die keine Außengrenzen haben, viel stärker noch impliziert sein müssten in dieser europäischen, wie sage ich, Truppe, um da mitzuwirken.
    Klein: Deutschland und Luxemburg zum Beispiel auch?
    Asselborn: Nein, Deutschland hat ja Außengrenzen, hat ja die Nordsee. Aber wir haben keine, auch Österreich hat keine, dass diese Länder viel mehr noch mithelfen müssten.
    Klein: Stichwort Länder, die mithelfen. Wie sehen Sie denn die Meinungsbildung da im Augenblick? Es gibt natürlich auch schon Widerstand, sage ich mal, aus südlichen Ländern, die im Augenblick besonders betroffen sind von der Migration. Halten Sie das, was jetzt in Rede steht, für durchsetzbar in der Europäischen Union? Wie sollen diese anderen Staaten da mit ins Boot geholt werden?
    Asselborn: Ich bin ziemlich gut platziert, um zu wissen, wie die Debatten in der Europäischen Union zurzeit laufen. Wir haben das gesehen mit dieser Zangengeburt der Relocation. Ich hoffe, dass wir uns hier vernünftig unterhalten können und auch debattieren. Ich weiß nicht, wie das ausgeht, aber ich würde trotzdem sagen, dass wenn wir ein europäisches Organ hätten, was hilft - das hilft ja nicht nur diesem einzelnen Land; das hilft ja dann, dass das System aufrecht erhalten werden kann. Ich weiß, dass es große Sensibilitäten gibt. Ich habe das ja auch in den letzten Monaten alles mit Griechenland hautnah erlebt. Die türkisch-griechische Grenze, dass man hier nicht mit dem Schlaghammer vorgehen kann, sondern dass man Schritt für Schritt machen muss. Und Sie haben es in Ihrem Bericht gesagt: Im Dezember war auch Griechenland einverstanden, dass man unter verschiedenen Bedingungen auch auf europäische Hilfe zurückgreifen kann.
    Madame Klein, es ist etwas Wichtiges noch zu sagen zu Frontex, wenn das stimmt, was gesagt wird. Frontex wird auch jetzt eingesetzt werden können in Drittländern. Wir haben ja große Probleme in Serbien oder Mazedonien zum Beispiel. Bis heute ist das nicht möglich, dass Frontex da hilft. Das wird auch möglich werden. Und Frontex wird auch, glaube ich, wenn ich es richtig verstanden habe, eine Aufgabe bekommen, um die Rückführungen viel effizienter zu organisieren.
    Klein: Herr Asselborn, wir haben über folgende Frage auch hier schon mehrfach gesprochen an dieser Stelle. Viele machen sich Sorgen, was bedeutet denn das, Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen abzuhalten. Bis wohin geht denn das? Was genau dürfen denn diese Leute dann tun, um Grenzen zu sichern, also um Flüchtlinge vom Grenzübertritt abzuhalten? Heißt das in letzter Konsequenz auch Stacheldraht und Schießbefehl nach außen?
    Stacheldraht oder Schießbefehl? "Nein!"
    Asselborn: Nein, das darf es nicht heißen. Die Menschen sollen nicht abgehalten werden. Die Menschen, die wirklich Schutz brauchen, sollen überall in die Europäische Union hinein gelassen werden. Man muss nur wissen, wer kommt und warum er kommt, dass man eine Möglichkeit hat, an der Außengrenze zu wissen, welcher Mensch zu uns kommt, um Schutz zu suchen. Das ist ganz klar. Das ist, glaube ich, die Philosophie, auf die wir uns beziehen müssen.
    Klein: Von Schengen sind wir dann bei Dublin, denn darum geht es ja. Das Dublin-Abkommen sagt ja eigentlich, dass die Registrierung an den Außengrenzen, in den Ländern der Außengrenzen stattfinden muss, und genau da gab es ja das Versagen in den vergangenen Monaten.
    Asselborn: Diese Debatte, Madame Klein, die wird natürlich auch dazu führen, dass man eine Debatte haben wird über, sagen wir mal, ein europäisches System, was alle juristischen Migrationsfragen auch betrifft. Und es wird dazu führen: Verstehen Sie mich? Das heißt, dass wir eine europäische Jurisdiktion anstreben sollten, so wie wir das zum Beispiel beim Patentamt haben, und dass wir auch natürlich die Relocation, glaube ich, in Zukunft auch von Menschen, die schon in der Europäischen Union sind, dass wir die auch tätigen können, die Umverteilung.
    Klein: Die Zurückführung von Flüchtlingen, die bereits in der Europäischen Union sind, zurück in die Heimatländer?
    Asselborn: Klar.
    Klein: Da sind wir noch mal beim Stichwort Türkei, Herr Asselborn. Die EU ist gestern intensiver wieder in Beitrittsverhandlungen eingestiegen mit dem Land Türkei. Nennen wir es mal so: Vor dem Hintergrund dieser Flüchtlingspolitik und vor dem Hintergrund, dass die Türkei im Augenblick gebraucht wird, da mitzuarbeiten und Menschen teilweise auch wieder zurückzunehmen. Ist es gerechtfertigt, da jetzt die Augen zuzudrücken vor all dem, was wir hier über Jahre und Monate beklagt haben, zum Beispiel an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und an großen Mängeln, was die Demokratie angeht?
    "Wir wollen die Verbindung mit der Türkei nicht abbrechen"
    Asselborn: Meine Antwort ist klar. Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass wenn wir alle Verbindungen, auch die, die mit den Beitrittsverhandlungen zu tun haben, wenn wir die abbrechen, dass wir dann irgendwie den Menschen in der Türkei besser helfen könnten, oder die Menschenrechte in der Türkei besser verteidigen können. Wir haben gestern wieder ein Kapitel aufgemacht, auch, sage ich jedenfalls, weil wir diese Verbindung, diese Debatte, diese Verhandlung mit der Türkei, was das europäische Recht angeht, dass wir die nicht abbrechen wollen. Das ist mir klar.
    Das andere ist: Wir müssen aber auch schauen. Wir können die Türkei kritisieren. Wir müssen sie manchmal kritisieren. Da bin ich ja ganz einverstanden. Aber die Türkei hat 2,2 Millionen Syrer aufgenommen. Davon gibt es 500.000 Kinder, die nicht zur Schule gehen können, weil die Türkei da total überfordert ist. Und wenn wir sagen, wir geben der Türkei drei Milliarden, dann ist das ja nicht für die Türkei. Das ist, dass wir helfen, dass diese Kinder zur Schule kommen und dass sie auch ärztliche Pflege bekommen. Darum: Man kann der Türkei, glaube ich, auch nicht sagen, okay, jetzt bekommt ihr Geld, jetzt bekommt ihr drei Milliarden, dann haben wir unsere Pflicht getan.
    Klein: Herr Asselborn, wir werden dieses Thema hier in Interviews auch an dieser Stelle fortsetzen. Wir steuern hier auf die Nachrichten zu im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich bei Ihnen für das Interview heute Morgen. Jean Asselborn war das, der luxemburgische Außenminister und derzeitige Ratsvorsitzende.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.