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Schutzmantel für einen Havaristen

Physik. - Am Sonntag sind es 23 Jahre, dass der vierte Reaktorblock des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert ist. Damals ging es darum, Hals über Kopf einen brennenden Reaktor zu löschen, so schnell es geht die Menschen aus einem 30-Kilometer-Radius zu evakuieren. Heute suchen Experten noch immer nach einer sicheren Schutzhülle für den Havaristen.

Von Dagmar Röhrlich | 24.04.2009
    Wenn es um Tschernobyl geht, ist Geduld gefragt. Nicht nur wegen des langlebigen strahlenden Erbes - auch die Sicherungsarbeiten dauern ihre Zeit. Aber es tut sich etwas:

    "Wenn man vor dem zerstörten Reaktorblock Nummer 4 steht, fällt als erstes auf, dass zwei große Metalltürme errichtet wurden, und zwar sind diese Metalltürme Teil der so genannten Stabilisierungsmaßnahmen des existierenden Sarkophags."

    Diese Türme sichern eine marode Wand, auf die sich der Sarkophag stützt, erklärt Lutz Küchler von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS in Berlin. Und sie sind nur der sichtbare Teil von umfangreichen Sicherungsarbeiten an dem lange einsturzgefährdeten Sarkophag. Im November wurden sie beendet.

    "Der Abschluss dieser Arbeiten, die den Sarkophag auch von innen stabilisieren, ist seit dem vergangenen Jahrestag der wohl größte Beitrag für mehr nukleare Sicherheit in Tschernobyl. Außerdem ist das Dach, durch das Wasser eindrang, ersetzt worden. Das waren große Fortschritte."

    Nun könne der Havarist seine zweite Hülle bekommen, erläutert Vince Novak von der Europäischen Bank für Wiederaufbau EBRD. Dieser so genannte Neue Sichere Einschluss ist eine 100 Meter hohe Bogenkonstruktion, die 2012 fertig montiert über den Sarkophag geschoben werden soll. Bevor der Bau dieser neuen Hülle in Angriff genommen wird, musste eine weitere Einrichtung fertig gestellt werden: die Vektor-Anlage, die heute in Tschernobyl an das ehemalige Kernkraftwerk übergeben wird:

    "Wir brauchen diese Anlage zur Bearbeitung, Verpackung und Lagerung von mittel- und schwachaktivem Müll, um beispielsweise den beim Bau des neuen sicheren Einschlusses anfallenden schwach- und mittelaktiven Abfalls sicher zu behandeln und zu lagern. Denn in dem Aushub, der für die Fundamente herausgeholt werden muss, steckt radioaktives Material, das bei der Havarie aus dem brennenden Reaktor geschleudert worden ist. Diese Anlage musste also unbedingt rechtzeitig vor Baubeginn des neuen Einschlusses fertig werden."

    Didier Louvat von der Internationalen Atomenergieagentur in Wien. In der Vektor-Anlage sollen später auch die schwach- und mittelaktiven Abfälle landen, die beim Rückbau der drei anderen Tschernobyl-Reaktoren anfallen. Der verzögert sich, unter anderem weil in den Reaktoren noch die Brennelemente stecken: Das erste Entsorgungskonzept hat nicht funktioniert:

    "Wir haben leider auf dem Standort eine Investitionsruine, wo man im Moment dabei ist zu analysieren, inwiefern man diese Konstruktion weiter nutzen kann unter der Berücksichtigung der realen Randbedingungen, die diese Brennelemente bieten."

    Die Ursache der Probleme: Die Brennelemente sind in einem viel schlechteren Zustand, als die ukrainische Seite erklärt hatte. Viele von ihnen haben Risse und weil sie in Wasserbecken lagern, sind sie von innen nass geworden. So kann man sie aber nicht in einen Lagerbehälter stecken.

    "Man muss sie in einen möglichst trockenen Zustand bringen, um solche Effekte wie Druckaufbau zu verhindern, damit es hier nicht zur Zerstörung der Einhüllung während der Lagerung kommt."

    Das erste Entsorgungskonzept war auf einen normalen Zustand von Brennelementen ausgelegt - und damit ließen sich die Brennelemente nicht ausreichend trocknen. Ein neues Konzept zu entwickeln, dauert - und bis dahin bleibt das nukleare Material in den Abklingbecken der Reaktoren. Das strahlende Erbe von Tschernobyl erfordert viel Zeit und Geduld.