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Schwacher Euro
"Ein Ausverkauf der deutschen Wirtschaft"

Weil der Euro schwach sei, kauften viele internationale Unternehmen europäische Firmen auf, sagte der Ökonom Max Otte im DLF. Die deutsche Industrie sei schwerpunktmäßig schon in ausländischer Hand. Otte mahnte zudem, Europa sei extrem angeschlagen, was in der Politik aber kaum thematisiert werde.

Max Otte im Gespräch mit Dirk Müller | 28.12.2015
    Der Ökonom Max Otte
    Otte: "Es erodiert an allen Ecken und Enden das, was wir mit dem Begriff soziale Marktwirtschaft bezeichnen." (dpa / picture-alliance / Erwin Elsner)
    "Wir haben ein zutiefst demoralisiertes, zerrissenes und handlungsunfähiges Europa", sagte der Professor weiter. Es sei extrem angeschlagen. Länder wie Spanien und Griechenland steckten mitten in einer "tiefsten Depression." Nötig sei eine politische Führung und eine weitere Stärkung der europäischen Institutionen, aber das Gegenteil passiere.
    Otte betonte, der Euro werde vermutlich weiter schwach bleiben. Das bringe Vorteile, aber auch große Nachteile. Denn dadurch würden europäische Unternehmen und ihre Aktien billiger. Das Ausland könne dadurch noch mehr Konzerne kaufen. Der Ökonom sagte, vor elf Jahren seien 70 Prozent der Aktien deutscher Großkonzerne in deutschem Besitz gewesen, heute seien es 30 Prozent. "Ich würde es als Ausverkauf der deutschen Wirtschaft sehen." Dadurch erodiere "an allen Ecken und Enden das, was wir mit dem Begriff soziale Marktwirtschaft bezeichnen."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Zugegeben, die Chinesen haben mächtige Wirtschaftsprobleme, auch die viel beschworenen Schwellenländer und, wie fast immer, auch die Südamerikaner, auch die russische Wirtschaft ist im Sinkflug. Schauen wir aber nach Europa, denken wir uns vielleicht Deutschland weg, die Eurokrise, sie bleibt, sie ist nicht verschwunden, nur weil die Medien in den zurückliegenden Monaten Griechenland offenbar fast vergessen haben - die höchste Jugendarbeitslosigkeit seit Jahrzehnten, in Italien, in Spanien, in Portugal, in Frankreich, eine Konjunktur, die einfach nicht so richtig in die Gänge kommt, eine marode Infrastruktur, Milliarden über Milliarden, die investiert werden müssen, aber woher nehmen. Am Telefon ist nun der Kölner Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Professor Max Otte, der das Buch "Der Crash kommt" geschrieben hat, bevor der große Crash dann tatsächlich gekommen ist 2008, er ist jetzt zugeschaltet. Guten Morgen!
    Max Otte: Guten Morgen!
    Müller: Herr Otte, ein Glück, dass wir wenigstens den schwachen Euro haben?
    Otte: Ja, das kann man so sehen, selbstverständlich, der schwache Euro hilft uns bei Exporten, er wird wahrscheinlich auch schwach bleiben, denn wir haben die US-Zinswende jetzt doch zumindest ansatzweise eingeleitet bekommen, das kann man so sehen, aber der schwache Euro bringt natürlich auch große Probleme: Er macht die europäischen Unternehmen, europäisches Aktienkapital billiger, das heißt, das Ausland kann sich noch mehr europäische Unternehmen kaufen und einverleiben.
    Müller: Und das passiert die ganze Zeit.
    Otte: Das passiert die ganze Zeit, das passiert eigentlich schon seit fünf bis zehn Jahren, also verstärkt seit Anfang der 2000er, indem Private-Equity-Firmen zum Beispiel im deutschen Mittelstand umherziehen und viele deutsche Mittelständler mit dem billigen Geld kaufen. Man verkauft dann natürlich auch an solche Firmen, weil sie höhere Preise bieten und sucht keinen Nachfolger. Das andere ist, dass die deutschen Großkonzerne noch vor zehn Jahren, also vor elf Jahren, zu 70 Prozent in deutschem Besitz waren, die Aktien der Großkonzerne, jetzt sind es noch 30 Prozent, also die deutsche Industrie ist schwerpunktmäßig schon in ausländischer Hand.
    "Tradition des Sozialstaates gerät in den Hintergrund"
    Müller: Ist das ein Ausverkauf der deutschen Wirtschaft?
    Otte: Man kann das so sehen, also ich würde es tatsächlich als Ausverkauf der deutschen Wirtschaft sehen, und der läuft eigentlich unkommentiert und schleichend statt. Man spricht dann von Internationalisierung, aber man muss dann ja umgekehrt sehen, wie die Bilanz ist, ob wir selber auch viel investieren im Ausland und es eine ausgeglichene Internationalisierungsbilanz gibt oder nicht, und die gibt es eher nicht. Die deutschen Konzerne investieren doch eher zurückhaltend.
    Müller: Wir haben jetzt neulich, vor ein paar Tagen, hier auf der Kölner Ebene gelesen, dass die Chinesen beispielsweise die Lanxess Arena gekauft haben, also dort, wo viele Sport- und Musikveranstaltungen stattfinden, ein kleiner Punkt in dieser Entwicklung. Warum ist das so schlimm, dass Chinesen und auch Russen viele Teile in Deutschland besitzen?
    Otte: Na ja, schlimm ist es nicht, es gehört zu einer internationalen Wirtschaft natürlich dazu, dass man Direktinvestitionen tätigt, dass man Investitionen im Ausland tätigt, das war schon früher so. Die Frage ist nur, wie weit man da noch Souveränität über die eigenen Entscheidungen hat, wie funktionsfähig die Wirtschaftspolitik, die Gesetzgebung ist in Europa, denn wir haben ja doch in Europa eine Tradition der öffentlichen Güter, der Rechtssicherheit, des marktwirtschaftlichen Sozialstaates, die wir eigentlich wahren wollen, und die gerät immer mehr in den Hintergrund, denn die Europäische Union, auch die Bundesregierung, auch die Landesministerien, scheinen diesem großen Druck nicht mehr gewachsen zu sein. Es erodiert an allen Ecken und Enden das, was wir eigentlich mit dem Begriff soziale Marktwirtschaft verbinden.
    "Europa ist extrem angeschlagen"
    Müller: Dabei haben ja viele gedacht, Herr Otte, bei uns läuft das noch einigermaßen gut. Wie ist es im Rest Europas?
    Otte: Es läuft natürlich noch einigermaßen gut in Deutschland, aber das ist auch eine temporäre Situation, eine zeitweilige Situation. Der Euro hat ja die Ungleichgewichte in Europa zunächst einmal verstärkt. In so einer Krise, wenn ich also quasi ein großes Becken schaffe, das ist die Währungsunion, und habe dann Gefälle in dem Becken, dann fließt zunächst einmal natürlich das ganze Wasser oder das meiste Wasser, das ist das Geld, dahin, wo es am attraktivsten ist, also an die tiefste Stelle, das ist Deutschland. Das fehlt in der Peripherie Europas. Die Eurokrise hat riesige Verheerungen hinterlassen in Spanien, Portugal, Irland, natürlich Griechenland, in anderen Ländern, die noch lange nicht abgearbeitet sind. Im Gegenteil, diese Länder stecken mittendrin in der tiefsten Depression, kann man sagen, seit der Weltwirtschaftskrise.
    Müller: Jugendarbeitslosigkeit haben wir ja auch erwähnt, in der Moderation zumindest, 20, 30, in bestimmten Regionen Südeuropas bis zu 50 Prozent, eine fehlende Perspektive für diejenigen, die nachwachsen und das Ganze irgendwann ja auch mitgestalten sollen. Wie angeschlagen ist Europa?
    Otte: Europa ist extrem angeschlagen, und das wird in der großen Politik kaum thematisiert. Europa ist zerrissen. Diese Länder - Griechenland tatsächlich 50 Prozent Arbeitslosigkeit, Spanien nicht viel weniger, die Besten kommen dann nach Deutschland. Das ist ja schön für Deutschland, aber diesen Ländern, denen fehlt tatsächlich die Generation. Also wir haben dieses riesige Gefälle innerhalb Europas, das dann natürlich auch zu politischen Beschuldigungen und Spaltungen führt. Gleichzeitig haben wir die Krisen an Europas Peripherie, die man zumindest irgendwo in Kauf genommen hat- dieser Arabische Frühling, der kam ja auch nicht ganz von ungefähr. Wir haben ein doch zutiefst demoralisiertes, zerrissenes und handlungsunfähiges Europa, so wie ich das im Moment sehe.
    "Wir bräuchten politische Führung"
    Müller: Wenn die Kanzlerin uns heute Morgen vielleicht zuhört hier im Deutschlandfunk, dann wird sie sagen und denken, Max Otte, regen Sie sich nicht so auf, es ist alternativlos. Stimmt das?
    Otte: Das ist ein schönes Wort. Ich glaube, das nimmt sie mittlerweile selber nicht mehr in den Mund, ich hoffe es zumindest, dass sie gemerkt hat, dass sie da ein Unwort kreiert hat. Natürlich gibt es Alternativen: Wir hätten eine stärkere europäische Politik haben müssen in verschiedenen Punkten, zum Beispiel bei der Eurokrise, zum Beispiel bei der Finanztransaktionssteuer, zum Beispiel bei vielen anderen Dingen, aber Europa ist ja mittlerweile tatsächlich auch sehr stark durch die großen Lobbyverbände getrieben. Da werden Gesetzgebungsverfahren in Hinterzimmern letztlich vorbereitet, die dann irgendwann an die Öffentlichkeit kommen, da ist es aber schon ziemlich zu Ende. Wir bräuchten politische Führung, wir bräuchten eine weitere Festigung der europäischen Institutionen, was bislang aber nicht passiert. Im Gegenteil, wir werden aufgewühlt, wir werden Spielball der Interessen, also ich sehe nicht im Ansatz eine einheitliche Linie Europas. Das war vielleicht zum letzten Mal so mit Giscard d'Estaing und Helmut Kohl oder mit Helmut Schmidt und François Mitterand, die haben da auch wirklich den Motor gespielt. Im Moment sehe ich das nicht.
    Müller: Was hätten wir denn machen sollen, machen können? Milliarden investieren?
    Otte: Milliarden investieren, man hätte damals auch zu Beginn der Eurokrise tatsächlich den Grexit oder den selektiven Exit einiger Länder machen müssen, denn so bestimmen diese Länder letztlich die Politik in Europa. Wir hätten diesen Ländern viel effektiver helfen können, wenn sie Ferien vom Euro gemacht hätten, wir hätten das benutzen müssen, um Teile des Bankwesens zu sanieren, wie es die Amerikaner im Übrigen sehr gut gemacht haben. Die haben nach der Finanzkrise, durch die Fed viele faule Assets aufgekauft, also viele faule Wertpapiere, damit ist das Banksystem wieder relativ frei von Belastungen. Das ging zwar auch auf Kosten der Allgemeinheit, aber das haben wir in Europa nicht gemacht oder nur sehr asymmetrisch gemacht. Wir haben vor allem die faulen Papiere im Süden aufgekauft, was dem Süden nicht wirklich geholfen hat, weil er weiter in der Zwangsjacke Euro steckt.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Kölner Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Professor Max Otte. Danke für das Gespräch, und kommen Sie gut ins neue Jahr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.