Freitag, 29. März 2024

Archiv

Schwarmintelligenz
Manuskript: Weniger dumm im Kollektiv

Zugvögel, Schwarmfische, Bienen und Ameisen. Viele Tierarten koordinieren ihr Verhalten so, dass große Gruppen nahezu wie ein Organismus reagieren. Der Mensch versucht jetzt diese "Schwarmintelligenz" für bestimmte Zwecke zu kopieren.

Von Frank Grotelüschen | 26.12.2013
    Schwarmintelligenz läßt große Gruppen koordiniert handeln, oft wirkt es, als sei ein Superorganismus in Aktion. Manche Fachleute sehen darin eine neue Qualität - eine Theorie, die auf das Treiben in einem Ameisenhaufen ebenso passt wie auf ein kollektives Internet-Projekt wie Wikipedia. Andere erkennen dagegen einen flüchtigen Modebegriff. Ihr Credo: Schwarmverhalten erscheint uns vor allem deshalb intelligent, weil wir Absicht, Zielgerichtetheit und bewusste Strategien hineininterpretieren.
    Fast jedes Jahr kommt es in den kalten Gewässern vor der Küste Südafrikas zu einem spektakulären Naturphänomen. Zwischen Mai und Juli wandern gigantische Mengen Sardinen gut 1000 Kilometer nordwärts. So dicht und riesig ist der Schwarm dieser Fische, dass man ihn sogar vom All aus sehen kann.
    (James Hamilton-Paterson: "Tanz in den Tod". MARE No. 86)
    Ulrich Krause: "Es gibt dieses Phänomen der Synchronisation, auch wenn das ziemlich irregulär anfängt."
    Abermillionen Fischleiber formieren sich zu scheinbar undurchdringlichen Körpern, die ihnen Schutz vor Angreifern bieten. Die Sardinenmassen scheren gemeinsam aus, teilen sich in kleinere Schwärme auf und vereinigen sich wieder in perfektem Einklang.
    (James Hamilton-Paterson: "Tanz in den Tod". MARE No. 86)
    Krause: "Das erweckt den Eindruck von Intelligenz."
    Dr. Balz: "Ich hoffe, Ihr habt alle ein Knackinsekt zur Hand. Es geht los!!"
    Ein Stadtfest in Bremen, auf der Bühne läuft ein Showprogramm. Ulrich Krause, Mathematiker an der Universität Bremen, hat jedem Besucher ein kleines Spielzeug in die Hand gedrückt – ein Blechinsekt, das, wenn man draufdrückt, laut und vernehmlich knackt.
    "Das ist dieses Knacken mit Blechinsekten. Schwarm heißt dabei, dass sie plötzlich alle synchron sind – eine Art Sirren wie bei Zikaden oder Grillen."
    Wie viel Hering steckt im Menschen? Inwieweit kann auch er wie ein Schwarm agieren? Fragen, die Krause mit seinem Massenversuch beantworten will. Das Experiment beginnt, auf der Bühne schnappt sich ein Comedian das Mikrofon. Ein gewisser Dr. Balz, selbsternannter Knackologe.
    "Wir machen drei verschiedene Versuche. Die Regel Nummer 1 beim ersten Versuch ist: Wer ein Knackinsekt hat, knacke!"
    Jim Smith: "Schwarmintelligenz zeigt sich zum Beispiel, wenn man einen Ameisenstaat betrachtet: Wie schaffen es diese einfachen Tiere, als Staat so effizient zu sein? Etwa wie sie höchst koordiniert auf Futtersuche gehen. Wie sie reagieren, wenn ihr Nest überschwemmt wird. Oder wie sie Bauten errichten, die ziemlich erstaunlich sind."
    Dr. Balz: "Regel Nummer 2 – das mache ich einmal vor. Genau zugucken, meine Damen und Herren."
    Dr. Balz knackt, dann macht er eine Sekunde Pause, dann knackt er wieder.
    "Und los!"
    Jim Smith: "Es scheint, dass die Ameisen im Kollektiv intelligent sind. Sie lösen Probleme auf eine Weise, von der wir annehmen, sie würde irgendeine Art von Intelligenz erfordern. Dabei befolgen sie in Wirklichkeit nur eine Reihe sehr einfacher Regeln. Die Ergebnisse aber sind höchst erstaunlich."
    Dr. Balz: "Einen Durchgang haben wir noch: Und da gibt es eine dritte Regel: Knacke, wenn dein Nachbar knackt!"
    Erneut beginnt es chaotisch, doch dann baut sich ein Rhythmus auf. Mit seinem Laptop nimmt Mathematiker Krause das kollektive Knacken auf. Das Ergebnis fällt aus wie erwartet: In manchen Situationen wird auch der Mensch zum Schwarm.
    Ulrich Krause: "Es gibt dieses Phänomen der Synchronisation, auch wenn das ziemlich irregulär anfängt – wie Vögel, die irgendwo irregulär auffliegen, dann aber in einem Schwarm davonfliegen. Man ist verblüfft, wenn man sieht, was diese Schwärme machen. Man ist beeindruckt von Wildgänsen, wie sie Formationen fliegen, ohne dass ihnen jemand sagt: Du fliegst so! Das erweckt den Eindruck von Intelligenz. Andererseits kann durch dieselben Mechanismen auch etwas sehr Blödes, Unintelligentes passieren."
    Schwarm im Computer
    Schwarm – lange ist das ein rein biologischer Begriff. Das ändert sich erst 1986, als es dem US-Informatiker Craig Reynold gelingt, einen Schwarm im Computer zu simulieren. Dafür genügen ihm drei simple Regeln.
    Regel 1:
    Bewege dich stets in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn. Dadurch trägst du dazu bei, dass der Schwarm sein Ziel verfolgt.
    Regel 2:
    Bewege dich immer in Richtung des Schwarm-Mittelpunkts. Dadurch verhinderst du, dass der Schwarm auseinanderfließt.
    Regel 3:
    Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt. Dadurch vermeidest du Zusammenstöße.
    Auf diese Weise schafft Reynold eine verblüffend realistische Simulation: Auf dem Monitor erscheint eine Gruppe fliegender Dreiecke. Sie weicht Hindernissen ebenso elegant aus wie eine echte Vogelschar. Reynolds Experiment sollte zahllose Forscher inspirieren. Informatiker, Techniker und Ingenieure, die sich die Regeln der Schwarmbildung zunutze machten, um Computerprogramme zu schreiben oder Roboter zu steuern. Das hoch gesteckte Ziel: simple Komponenten sollten im Kollektiv Erstaunliches leisten. Etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile – Schwarmintelligenz.
    "Die Ameisen laufen erst einmal los und suchen nach Futterstellen, laufen dann wieder zurück zu ihrem Nest. "
    Ruby Moritz, Informatikerin, Universität Leipzig. Die Software, an der sie arbeitet, nimmt sich einen natürlichen Schwarm zum Vorbild –Ameisen.
    "Wenn sie Futter gefunden haben, hinterlassen sie eine Art Pheromon-Spur – eine chemische Substanz, die andere Ameisen riechen können. Sie riechen dann: OK, hier war schon mal eine lang gelaufen und hat was gefunden. Und die folgen dann diesen Pheromon-Spuren zum Futter hin."
    Oft wird eine Futterstelle unabhängig von mehreren Ameisen entdeckt. Jedes Tier markiert seinen Weg zurück zum Nest mit einer Pheromon-Spur. Manche nehmen zufällig die kürzeste Strecke, andere laufen Umwege. Starten dann andere Ameisen vom Nest aus zur neuen Futterstelle, orientieren sie sich an den frischen Pheromon-Spuren. Die Tiere, die den schnellsten Weg nehmen, sind kürzer unterwegs, also auch früher wieder zurück im Nest.
    "Dadurch wird auf den kurzen Wegen mehr Pheromon abgelagert. Die werden dann von den anderen Ameisen bevorzugt. Bis am Ende die Ameisen durch dieses relativ einfache Verhalten den kürzesten Weg zum Futter gefunden haben."
    Diesen kürzesten Weg nutzen am Ende dann alle Ameisen. Eine simple Schwarm-Strategie, letztlich basierend auf dem Trial-and-Error-Prinzip, der Methode von Versuch und Irrtum. Dennoch können sie Forscher als Basis für neuartige Computerprogramme nutzen. Diese Programme nehmen sogar Aufgaben in Angriff, die für andere Verfahren zu knifflig sind. Ein Beispiel: Das Problem des Handlungsreisenden, der auf seiner Tour eine bestimmte Anzahl von Städten abklappern soll.
    Moritz: "Die Frage ist: In welcher Reihenfolge werden diese verschiedenen Städte angefahren, sodass der Fahrer auf dem kürzesten Weg ans Ziel kommt und alle Städte einmal abgefahren hat? Das Problem ist sehr schwer und kann nicht in akzeptabler Zeit optimal gelöst werden. Und da nimmt man jetzt dieses Prinzip von den Ameisen und stellt sich dieses Städte-Netzwerk in digitaler Form her, nimmt sich viele digitale Ameisen und lässt die über dieses Netzwerk von dem Startpunkt aus durch alle Städte laufen."
    Jim Smith, Professor für künstliche Intelligenz, Universität von Westengland, Bristol.
    "Wir programmieren mehrere digitale Ameisen, zum Beispiel 100. Jede kann virtuelle Pheromone abgeben – das sind ganz einfach Zahlen. Unsere Digitalameisen hinterlassen also Spuren aus Zahlen. Andere Ameisen erkennen diese Spuren dann und entscheiden sich, welcher sie folgen. Und in der Regel ist es die stärkste Spur."
    Am Ende hat sich ein Wegenetz aus digitalen Pheromonen herausgebildet, mit der kürzesten Route als Lösung. Die Forscher formulieren also nur die Aufgabe und setzen den Rahmen. Die Lösung finden dann die digitalen Ameisen. Firmen nutzen diese Algorithmen bereits.
    "Damit lassen sich Transportrouten optimieren, Flugpläne für Frachtflugzeuge oder die Einsatzplanung bei Logistikunternehmen. Auch fürs Internet sind diese Algorithmen interessant, wenn es darum geht, Informationspakete möglichst effizient über Datenleitungen zu schicken. Wenn man bei Google eine Suchanfrage startet, erreicht einen die Information heute meist nicht auf dem kürzesten Weg. Und mit Ameisen-Algorithmen kann man versuchen, dieses Routing zu verbessern."
    Google, Amazon, Facebook – sie alle setzen Ameisen-Algorithmen ein, schätzen Fachleute. Nur: Sind diese Programme tatsächlich intelligent? Durchaus, meint zumindest mancher Informatiker.
    Fernando Otero, Computerwissenschaftler, Universität Kent, Canterbury.
    "Eine einzelne virtuelle Ameise besteht aus einem äußerst simplen Programmcode. Doch indem sie mit anderen virtuellen Ameisen zusammenarbeitet, entsteht Intelligenz. Im Kollektiv knacken sie Probleme, die wir Menschen nicht lösen können. In diesem Sinne scheint mir der Begriff Schwarmintelligenz durchaus angemessen. "
    Schwarm in der Tiefsee
    Ein Tauchroboter wird zu Wasser gelassen. In 1000 Metern Tiefe soll er den Meeresgrund erkunden. Eine aufwändige und teure Mission. Ein Forscherteam will diese Einsätze effizienter und billiger machen. Die Strategie: Nicht nur ein Roboter soll tauchen, sondern ein ganzer Schwarm. Und die Mitglieder dieses Schwarms sollen intelligent miteinander kommunizieren. SMIS, so der Name des Projekts. Ein weiteres Beispiel für Schwarmintelligenz in der Technik.
    "SMIS heißt Subsea Monitoring via Intelligent Swarms."
    Sven Hoog, Impac Offshore Engineering GmbH, Hamburg.
    "Wir gehen davon aus, dass wir durch Zusammenarbeit verschiedener Unterwasserfahrzeuge besondere Effizienzsteigerung erleben können, sodass wir die Einsätze in ihrer Dauer stark reduzieren können. Was wiederum Kosten spart, weil die Einsatzschiffe nicht so lange vor Ort sein müssen."
    Unter Wasser gibt es weder GPS noch Funkverkehr. Sämtliche Kommunikation muss über Schallsignale laufen, wie bei Walen und Delphinen. Doch mit Schall lassen sich nur kleine Datenpakete übertragen, und auch nur über kurze Strecken. Außerdem halten die Batterien der U-Boote meist nur ein paar Stunden. Dann müssen sie wieder auftauchen, um Strom zu tanken. Das alles schränkt die Leistungsfähigkeit von Tauchrobotern stark ein. Diese Einschränkungen wollen die Experten aus dem Weg räumen – und zwar mit Hilfe von Schwarmintelligenz. Der Plan, so Sven Hoog:
    "Es wird eine Bodenstation geben, die einen Referenzpunkt bildet. Um diese Bodenstation fahren dann U-Boote, autonome U-Boote, die georeferenziert werden über ein Oberflächenfahrzeug."
    An der Bodenstation sollen die U-Boote andocken und ihre Batterien aufladen. Den Kontakt zur Außenwelt hält ein unbemanntes Boot, das Oberflächenfahrzeug. Unter Wasser tauschen die U-Boote Schallsignale aus und schalten sich zu einem Schwarm zusammen.
    "Damit kann das eine U-Boot dem anderen sagen: Hallo, ich bin hier."
    Sergej Neumann, Robotikexperte, Karlsruher Institut für Technologie.
    "Ich habe gerade vom Oberflächenfahrzeug mitgekriegt: Du sollst jetzt das machen! Die können sich unter Wasser absprechen, auch wenn nicht alle Fahrzeuge eine Kommunikationslinie mit dem Oberflächenfahrzeug haben."
    Zudem soll die Schwarm-Kommunikation dafür sorgen, dass die Tauchboote ihre jeweiligen Positionen präziser bestimmen können. Und, so Neumann:
    "Wir wollen so weit gehen, dass die einzelnen Roboter eine Fehlfunktion oder eine Gefahr selbstständig erkennen und an die anderen weitergeben, sodass im Kollektiv der Plan so geändert wird, dass auf das Problem eingegangen wird."
    Die Nagelprobe ist für den Sommer geplant – ein Test mit einem Mini-Schwarm - aus zwei U-Booten.
    "Im Sommer wollen wir vor den Azoren – da geht es 3000 bis 5000 Meter runter – echte, harte Tests machen."
    Professor Bernhard Lampe, Institut für Automatisierungstechnik, Universität Rostock.
    "Dort wollen wir probieren, ob unsere Fahrzeuge sich so verhalten, wie wir das angenommen haben."
    Klappt der Test, wollen sich die Forscher an größeren Schwärmen versuchen. Im Prinzip könnten bis zu zehn U-Boote gleichzeitig auf Tauchfahrt gehen und gemeinsam den Meeresgrund abscannen, nach Ölvorkommen suchen, Seekabel inspizieren, die Fundamente von Windrädern überwachen und, so Bernhard Lampe:
    "Manganknollen bergen, die in großer Tiefe liegen und sehr wertvolle Materialien enthalten."
    Intelligenz im Schwarm
    Autonom mag dieser U-Boot-Schwarm ja sein. Aber ist er deshalb intelligent? In den Tiefen des Meeres entwickeln die U-Boote keine eigenen Lösungen, treffen keine wirklichen Entscheidungen. Stattdessen wählen sie nur zwischen wenigen vorgegebenen Alternativen, die von der eigentlichen Intelligenz geschaffen wurden – dem Menschen. Ähnlich verhält es sich mit den Ameisenalgorithmen. Zwar lassen sich damit spezielle Aufgaben lösen, etwa das Auffinden einer möglichst kurzen Route. Doch eigentlich arbeiten die einzelnen Mitglieder dieses digitalen Schwarms nur simple Programmfolgen ab. Intelligent mag das aus Sicht des Ingenieurs sein. Nicht aber aus der Perspektive eines Hirnforschers.
    "Wenn man nicht so einen ganz stumpfsinnigen Rechner hat, dann gilt der schon als intelligent."
    Professor Gerhard Roth, Institut für Hirnforschung, Universität Bremen.
    "Intelligente Tiere können aber unglaublich viel mehr. Sie können sich komplexe Dinge merken, sie haben Aha-Erlebnisse. Sie können Kategorien bilden, Analogien schließen – all das kann ein Krake, kann ein Rabenvogel, können wir. Das sind Leistungen, die im technischen Bereich sehr, sehr selten sind – wenn überhaupt. Intelligenz hat mit bewusstem Problemlösen zu tun. Es geht hier um kreatives Problemlösen. Das heißt um das Lösen von Problemen, die neuartig sind. Und Neuartigkeit erfordert immer ein bewusstes Erfassen. Insofern wäre ein automatisiertes Problemlösen nicht ein intelligentes Problemlösen."
    Doch was, wenn ein Schwarm nicht aus simplen, dummen Elementen besteht, lediglich in der Lage, auf einfachste Weise zu kommunizieren? Was, wenn er sich aus intelligenzbegabten Mitgliedern zusammensetzt, fähig zu differenzierter und komplexer Kommunikation? Ein Schwarm wie die Nutzerschar im Internet. Bilden sie einen neuen, einen hyperintelligenten Superschwarm?
    "Ein schönes Beispiel für Schwarmintelligenz sind die Plagiatsprüfungen."
    Jan-Hinrik Schmidt, Soziologe, Hans-Bredow-Institut, Hamburg.
    "Das Internet hat es möglich gemacht, dass eine Vielzahl von Menschen unabhängig voneinander, aber trotzdem koordiniert, eine große Aufgabe – Prüfung einer Dissertation auf Plagiate – in viele kleine Arbeitspakete unterteilt haben, und dann innerhalb von unglaublich kurzer Zeit – bei zu Guttenberg waren es glaube ich zwei oder drei Tage – eine Aufgabe verrichtet haben, für die eine Kommission, die eine Universität einsetzt, mehrere Wochen oder Monate gebraucht hätte."
    Eine besondere Rolle spielen hierbei soziale Plattformen wie Facebook und Twitter.
    "Die sozialen Medien machen es leicht, Fragen oder Anliegen in sein eigenes Netzwerk einzuspeisen. Um zu hoffen, dass vielleicht irgendwo jemand ist, der einem diese Frage beantworten kann."
    Getreu dem Motto: Weiß ich die Antwort nicht, kennt sie vielleicht der Schwarm – jene diffuse Schar aus Facebook-Freunden, Twitter-Followern und anderen, oft anonymen Mitnutzern.
    Jan-Hinrik Schmidt: "Genau durch die vernetzten Strukturen können so etwas wie Schwarmeffekte bei Facebook beobachtet werden. Dass irgendwo eine Information eingespeist wird und dann durch Menschen, die sich kennen, diese Informationen auf Facebook weitergereicht werden."
    Eine Struktur, die zu verblüffenden Ergebnissen führen kann.
    Kanada, November 2012. Eine junge Frau stellt einen selbstgezeichneten Comic ins Netz. Er zeigt eine scheinbar harmlose Begebenheit, die gerade ihrem Freund widerfahren ist. Der hat im Medizinschränkchen einen Schwangerschaftstest gefunden. Aus Jux und Dollerei pinkelt er auf den Streifen und siehe da – offenbar ist der Junge schwanger! Kaum ist der Comic online, schlagen andere User Alarm: "Wenn das wahr ist, sollten Sie sich auf Hodenkrebs untersuchen lassen!", warnt einer. Und ein anderer: "Hier schreibt ein Medizinstudent. Schwangerschaftstests basieren auf dem Hormon HCG, das in der Plazenta gebildet wird. Aber bei Männern kann es ein Zeichen für Hodenkrebs sein!" Und tatsächlich: Als sich der junge Mann untersuchen lässt, finden die Ärzte einen Tumor. Sie können ihn erfolgreich operieren.
    (www.cbc.ca/news/canada/hamilton/news/internet-flags-hamilton-man-s-pregnancy-test-result-as-cancer-1.1214830)
    Doch nicht immer liefert der Schwarm korrekte, vielleicht sogar lebensrettende Informationen. Er kann auch anderes hervorbringen.
    Jan-Hinrik Schmidt: "Es gibt Beispiele dafür, dass sich auch Gerüchte oder falsche Behauptungen verbreiten können. Das kann man dadurch erklären, dass es keine zentrale Instanz gibt, die diesen Schwarm irgendwie steuert und irgendwann eingreifen kann: Passt mal auf, Ihr fliegt in die falsche Richtung! Interessanterweise verbreiten sich Korrekturen von Gerüchten oder fälschlich verbreiteten Informationen nicht mehr ganz so rasant wie das Gerücht selber."
    Immer häufiger muss sich die Polizei mit Gerüchten beschäftigen, die ungefiltert und ungeprüft über soziale Netzwerke im Internet in Windeseile tausendfach verbreitet werden. Leidliche Erfahrungen machte die Ermittlungskommission "Mirco". Als die Polizei auf der Suche nach dem vermissten Jungen und seinen Entführern war, hatte jemand im Internet ein Foto von einem Ehepaar an einer Bushaltestelle gemacht und behauptet, es hätte den Jungen verschleppt. "Das Paar hatte überhaupt nichts mit dem Fall zu tun. Aber weil der Fall Mirco bundesweites Aufsehen erregte, wurde die Mitteilung geteilt, geteilt und geteilt", so ein Polizeisprecher. Es habe Wochen gekostet, dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen.
    (Rheinische Post Online, 16. Juli 2013)
    Koordination im Schwarm
    Das Beispiel zeigt: Aus Schwarmintelligenz kann schnell Schwarmdummheit werden.
    "Intelligentes Verhalten braucht auch Zeit. Da ist so eine ganz schnelle Kommunikation eher nachteilig. Das verhindert eher Intelligenz, wenn ich schnell antworten muss. Es gibt da ein Optimum: Zu wenig oder zu langsame Kommunikation ist schlecht. Aber zu schnell ist auch nicht gut",
    sagt Hirnforscher Gerhard Roth,
    "Schwarmintelligenz beim Menschen bedeutet eigentlich etwas ganz anderes. Nämlich die menschliche Intelligenz ist in hohem Maße sozial bedingt. Menschen lernen in früher Jugend, ihre Intelligenz zu entwickeln. Und die Vorbilder, die Imitation von den Eltern, von den Geschwistern spielt eine ungeheure Rolle. Unsere Intelligenz ist in hohem Maße von unserer Sozialität bedingt."
    Das aber ist nichts Neues – nichts, das erst durch die rasante Kommunikation im Internet entstanden wäre. Schon immer war der Mensch angewiesen auf Austausch und soziales Miteinander. Schwarm muss man das nicht nennen, sondern, so Gerhard Roth:
    "Sozialintelligenz, eine gesellschaftliche Intelligenz. Darauf beruht unsere Kultur, unsere Sprache und Wissenschaft!"
    Wikipedia (auch: die Wikipedia) ist ein am 15. Januar 2001 gegründetes Projekt zur Erstellung eines freien Onlinelexikons in zahlreichen Sprachen.
    So der Eintrag über Wikipedia in der Wikipedia. Auf den ersten Blick ein Paradebeispiel für Schwarmintelligenz.
    "Der Clou dabei ist, dass eigentlich jeder mitschreiben kann."
    Peter Wuttke, Wikipedia-Autor, Hamburg.
    "Der Vorteil liegt darin, dass ganz viele Leute, die etwas wissen oder meinen etwas zu wissen, dazu beitragen können und ändern und verbessern können – hoffentlich verbessern können."
    In gewöhnlichen Lexika zeichnen Fachautoren für die Einträge verantwortlich. Bei Wikipedia sind es – im Prinzip – alle.
    Peter Wuttke: "Der Vorteil kann sein, dass nicht die individuelle Linie eines einzelnen Fachautoren durchschlägt, sondern die Vielheit auf ein gutes Gesamtspektrum achtet und auch Aspekte, die nicht gleich im Fokus stehen, einarbeiten kann. Das kann der Vorteil sein."
    Doch es gibt auch Schattenseiten.
    Wuttke: "Es ist so, dass bestimmte Artikel sehr umlagert sind von Interessengruppen. Nehmen wir Artikel aus der Politik oder aus der Wirtschaft, Unternehmen beispielsweise. Da kann es sein, dass Leute den Artikel in ihre Richtung gestalten wollen. Das sind die Gefahren, die da sind, wenn jeder schreiben kann."
    Gefahren, die den Wikipedia-Machern bewusst sind. Deshalb haben sie für jeden Artikel eine Diskussionsseite eingerichtet.
    "Da soll Einigung erzielt werden – so es denn möglich ist. Das hat Kompromissbereitschaft aller Seiten zur Voraussetzung. Und die ist natürlich nicht immer gegeben. Sodass es in vielen Fällen schwierig ist, bei heiß umstrittenen Sachen Konsens zu finden."
    Diskussionsseite zum Artikel "Piratenpartei Deutschland".
    User 1: "Laut SPIEGEL haben die Piraten nur noch etwa 11.650 Mitglieder."
    User 2: "Hast Du die persönlich gezählt? Vielleicht sollten wir uns einfach auf die Zahlen verlassen, die der Generalsekretär vermeldet, statt irgendwelchen Gerüchten zu folgen?"
    User 3: "Sorry, aber das ist falsch. Wenn es erhebliche, belegte Differenzen gibt zwischen Eigenaussagen zur Mitgliederzahl und externen, gehören die externen in den Beitrag zwingend mit rein!"
    User 4: "Irgendwie komm ich mir hier wie in der Sonderschule vor, wo man auch immer wieder dieselben Argumente hin und herwälzt."
    Diskussionen, nicht immer höflich im Umgangston. Wollen die Streithähne partout zu keiner Lösung kommen, kann ein Artikel zeitweise sogar gesperrt werden. Und wie ist das nun mit Wikipedia und der Schwarmintelligenz? Peter Wuttke hat da seine eigenen Erfahrungen:
    "Die Vielheit der Autoren sind ja erst einmal ein Schwarm. Dennoch glaube ich, dass gute Artikel überhaupt nicht nach dem Prinzip der Schwarmintelligenz entstehen. Sondern sie entstehen, weil ein Mensch sich sagt: Ich lege eine gute Grundlage hin, ich als Einzelner. Ich sorge dafür, dass 80 bis 90 Prozent des Artikels eine gute Basis haben. Dann kommt der Rest. Dann kommen diejenigen, die sagen: Ich baue hier noch ein gutes Bild ein, ich mache hier mal Rechtschreibfehler raus. Der Schwarm ist gut, aber man braucht einen Hauptakteur, der sich diesem Thema widmet und erst einmal eine Grundlage reinkriegt. Der Schwarm ist Optimierer, und der Einzelne ist der Themensetzer und Themengestalter."
    Gerhard Roth: "Die größte Kritik gegen diesen mystischen Begriff Schwarmintelligenz ist: Es muss durch den Flaschenhals eines einzigen Gehirns gehen. Zehn Gehirne können nicht zusammen denken, wir können nur kommunizieren. So sind wir gebaut. Wir können unsere Gehirne nicht aneinander koppeln. Und solange das nicht geht, kann es keine echte Schwarmintelligenz geben."
    Das Schwarmprinzip ist faszinierend: Simple Elemente, die sich mit einfachen Regeln verständigen und dennoch ein hochkomplexes Verhalten zustande bringen. Kollektive, die auch ohne zentrale Instanz und ohne straffe Organisation zum Ziel kommen. In speziellen Fällen, für bestimmte Anwendungen bringen diese Schwarmprinzipien großen Nutzen: Etwa wenn Informatiker Computerprogramme schreiben, die die kürzesten Routen schneller finden als jede andere Software. Oder wenn sich Menschen im Internet zusammenfinden, um Plagiate aufzudecken oder das umfassendste Lexikon der Welt zusammenzutragen. Eines aber sind diese Schwärme nicht – eine neue, eine eigene Form von Superintelligenz.