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Schwarzes Erbe

Der Jubel hing schon seit Tagen in der Luft. Er trieb das Blut schneller durch die Adern der Stadt. (...) Vor dem Einschlafen hatte mein Vater mich vorbereitet: "Morgen wirst du einen Tag erleben, den du nie vergessen solltest.” "Warum?”, hatte ich ihn gefragt. "Die Amerikaner ziehen aus Haiti ab. Jetzt weht unsere Fahne wieder allein. Sperr die Augen auf und merk dir alles. Damit du’s später deinen Enkelkindern erzählen kannst.

Von Wera Reusch | 22.07.2004
    Die Freudenfeiern vom 21. August 1934, als die 19-jährige Besatzung Haitis durch die Amerikaner zu Ende ging, gehören zu den frühesten Erinnerungen von Alice Bienaimé, der Protagonistin von Yanick Lahens Roman Tanz der Ahnen. Im Land herrscht Aufbruchstimmung, doch schon bald wird deutlich, dass die Probleme Haitis mit dem Abzug der USA nicht gelöst sind. Die Zerrissenheit des Landes spiegelt sich in der Entwicklung des Mädchens wider: Da sie einer Familie entstammt, die sich seit der Sklavenbefreiung zur schwarzen Mittelschicht hochgearbeitet hat, werden von Alice Anpassungsleistungen verlangt. Sie muss sich die Haare entkrausen und die Nase "klammern”, damit diese nicht zu breit wird. Mit Grauen erinnert sie sich an ihre Schulzeit:

    Aus uns jungen Negerinnen sollten farbige kleine Französinnen werden, die Frankreich gehörten, der alten fernen Metropole. Wie wir alle waren auch die Demoiselles Védin afrikanischer Herkunft, doch für sie war das ein Grund für Hass und Selbstverachtung, die sie auf uns zu übertragen gedachten, weil sie die Last nicht alleine schultern mochten.

    Alice fühlt sich vom afrikanischen Erbe Haitis angezogen. Sie nimmt an verbotenen religiösen Voodoo-Zeremonien teil und lernt gegen den Willen ihres Vaters traditionelle Tänze. Unterstützt wird sie dabei von ihrem Onkel Héraclès. Der stürmische junge Mann gehört zu einer Gruppe von Malern und Schriftstellern, die auf der Suche nach den afrikanischen Wurzeln Haitis ist. Sie pflegen enge Kontakte zu westafrikanischen Intellektuellen, die die politischen Ideen der Negritude vertreten und für die Unabhängigkeit ihrer Länder streiten. In den 40er Jahren war die Frage der afrikanischen Identität das große Thema der Intellektuellen Haitis. Yanick Lahens:

    In Haiti gab es seit jeher eine Auseinandersetzung zwischen der wahren Identität, das heißt, der Identität der Mehrheit und dem Bestreben der Führungsschicht, westlich zu sein. Dazu muss man wissen, dass zwei grundlegende Faktoren der haitianischen Kultur, nämlich die Religion des Voodoo und die kreolische Sprache im Unabhängigkeitskampf, eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben. Doch als die französische Kolonialzeit 1804 zu Ende war, installierte die Führungsschicht Haitis eine Art internes Kolonialsystem, da das das einzige war, was sie kannten. Hautfarbe spielte eine wichtige Rolle. Die Mulatten mit ihrer helleren Haut hatten die Macht, und diejenigen, die eher afrikanisch aussahen, bildeten die Mittelschicht und wollten nach oben. Es war de facto ein Kampf zweier Eliten. Und das ist in dem Buch zu spüren.

    In Tanz der Ahnen lässt die Protagonistin Schlüsselszenen ihrer Kindheit in den 40er Jahren Revue passieren: Situationen, in denen sie mehr ahnt als versteht, dass kulturelle Selbstverleugnung Spannung erzeugt, wenn nicht gar latente Gewalt. Der Konflikt zwischen der schwarzen und der weißen Welt erweist sich für die Heranwachsende als nicht lösbar. Sie scheut den offenen Bruch mit ihrem Vater und geht stattdessen in die USA, um dort Tänzerin zu werden. Solange sich Haiti nicht mit seinem schwarzen Erbe versöhnt, wird das Land vor Gewaltausbrüchen nicht gefeit sein, stellt Alice Jahrzehnte später fest:

    Diese Insel hat ihre Vergangenheit zu lange getragen, sie streift sie ab wie eine Dirne ihr Kleid. Und sie legt dabei eine Eile und einen Eifer an den Tag, dass ich fürchte, diese Vergangenheit könnte in neuem Gewand, anders maskiert, sehr schnell wiederkehren. Scham und Unordnung haben seit langem schon zu viel Platz hier, und die Götter haben noch Appetit. Sie werden sich erst in ihre alten Häuser zurückziehen, wenn sie endgültig satt sind.

    Tanz der Ahnen ist ein einfühlsamer Entwicklungsroman, erzählt in einem verhaltenen Ton, der beim Lesen ein Gefühl latenter Beunruhigung entstehen lässt. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst von Jutta Himmelreich, die das Buch exzellent übersetzt und mit einem hilfreichen Glossar versehen hat. Zwar sind zeitgeschichtliche Bezüge nur sehr sparsam angedeutet, dennoch ist Tanz der Ahnen vor allem ein historischer Roman, der den kulturellen Aufbruch Haitis in den 40er Jahren festhält. Für Alice erweist sich Tanz als die adäquate Ausdrucksform. Lahens hat für ihre Erzählung eine Form gewählt, die stark an Malerei erinnert: Es gibt keine durchgehende Handlung, stattdessen entwickelt sich die Geschichte entlang detailliert dargestellter Momentaufnahmen wie ein Bilderbogen.

    Es gibt eine Verbindung zwischen haitianischer Malerei und Tanz. Auch die naive Malerei hat Bewegung, hat Rhythmus, wie der Tanz. Dies war mein erster Roman, ich schreibe sonst Kurzgeschichten, die einen ganz anderen Rhythmus haben und auch der Roman, den ich zur Zeit schreibe, ist anders. Aber hier wollte ich mich in eine alte Frau hineinversetzen, die sich erinnert, und dieser Stil passt zu ihren Erinnerungen.

    Yanick Lahens
    Tanz der Ahnen
    Rotpunktverlag, 160 S., EUR 17,-