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Schweiz
Durchsetzungsinitiative abgelehnt

Die Schweizer haben über eine Volksinitiative der rechtskonservativen SVP abgestimmt. Eine Mehrheit von 58,9 Prozent hat die sogenannte Durchsetzungsinitiative klar abgelehnt. Bei der Abstimmung ging es nicht allein um die Ausweisung krimineller Ausländer, sondern auch um das Schweizer Rechtssystem.

Von Stefanie Müller-Frank | 29.02.2016
    "Wir sagen Nein zur Duchsetzungsinitiaitve" - Demonstranten in Zürich (22.02.2016)
    "Wir sagen Nein zur Duchsetzungsinitiaitve" - Demonstranten in Zürich. (dpa / picture-alliance / Ennio Leanza)
    Die Eckkneipen im Basler Stadtteil Kleinhüningen sind am Sonntagabend nach der Abstimmung nicht besonders gut gefüllt. Wer doch gekommen ist, trinkt lieber schweigend sein Bier, während der Wirt schon mal die Gläser spült.
    "Ich bin sehr enttäuscht, dass die Initiative abgelehnt wurde. Weil wir haben so viele von diesen Kriminellen in der Schweiz. Finde ich nicht lustig. Das Umsetzen hapert, mit dieser Kuscheljustiz, die wir hier haben. Das geht nicht."
    Unter den Stammgästen sind auch zwei Ausländer, die vor über 20 Jahren als Gastarbeiter aus Serbien gekommen sind. Sie nicken zustimmend, abstimmen durften sie nicht, ohne roten Pass. Ein junger Schweizer ergreift dann doch das Wort.
    "Es ist ein trauriges Ergebnis für unsere Schweizer Bevölkerung, finde ich. Weil ich der Meinung bin, wer hier Ausländer ist, kann hier leben und sich daheim fühlen, aber ist trotzdem irgendwo immer Gast. Und wer dann kriminell wird, der hat einfach zu gehen. Mir macht es Sorgen, dass wir in der Schweiz fremdbestimmt sind und langsam, aber sicher übernommen werden."
    Die Schweiz bewegte ein Abstimmungskampf
    Er spricht aus, was viele Schweizer denken. Noch im November waren über 60 Prozent der Stimmberechtigten für eine Annahme der sogenannten Durchsetzungsinitiative. Dann aber entwickelte sich plötzlich eine Art Widerstand – nicht zentral gesteuert wie die Parolen der SVP – sondern aus Privatinitiative. So kam es zu einem Abstimmungskampf, der die Schweiz bewegt und vielleicht sogar verändert hat. Justizministerin Simonetta Sommaruga klingt im Schweizer Fernsehen so, als könne sie das Ergebnis selbst noch nicht ganz glauben.
    "Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, dass die Durchsetzungsinitiative klar angenommen werden würde. Was dann geschehen ist, haben wir in dieser Form noch kaum je erlebt. Es wurde mobilisiert, mit neuen und klassischen Kommunikationsmitteln, mit sozialen Medien, mit dringlichen Aufrufen, Manifesten, Aktionen. Ich würde mal behaupten, dass diese Kampagne einige junge Menschen politisiert hat."
    Die Schweizerinnen und Schweizer, so legt es die Justizministerin aus, haben mit ihrem Votum den Rechtsstaat verteidigt. Mehr noch:
    "Heute haben die Stimmberechtigten gesagt: In einer direkten Demokratie darf niemand allmächtig werden – auch die Stimmbürger nicht. Oder anders gesagt: Die Gewaltenteilung gehört zur Demokratie. Die Stimmbürger selber haben entschieden, dass sie nicht auch noch die Rolle des Parlaments und der Gerichte übernehmen wollen. Diese Selbstbeschränkung ist ein Zeichen von Reife, von demokratischer Mündigkeit. Und heute war viertens ein wichtiger Tag für die Schweiz, weil die Mehrheit der Stimmbürger gesagt hat: Nationales Recht soll nicht über die Menschenrechte gestellt werden."
    Hieb gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
    Genau darum aber wird es in der nächsten Initiative gehen, die die SVP bereits eingereicht hat. Dann lautet die Parole: "Schweizer Recht statt fremde Richter" – ein weiterer Hieb gegen die Europäische Menschenrechtskonvention im Namen der Selbstbestimmung. Mit vermeintlicher Überfremdung und angeblicher Fremdbestimmung durch die EU holt die SVP immer wieder Stimmen. Zumal, wenn sie verknüpft sind mit Ressentiments gegen die eigene politische Elite, die angeblich den Volkswillen ignoriere. De facto wurde die vom Volk angenommene "Ausschaffungsinitiative"– also die ursprüngliche Initiative zur Abschiebung krimineller Ausländer – bereits vom Parlament in einem verschärften Strafgesetz umgesetzt. Solange kein Härtefall dagegen spricht, können straffällige Ausländer heute also des Landes verwiesen werden. Der SVP aber geht das nicht weit genug. Fraktionschef Adrian Amstutz fürchtet, dass die Härtefallklausel missbraucht werde – und diffamiert sie als "Täterschutzklausel".
    "Das ist zum Beispiel, dass die Täterschutzklausel bei schweren Verbrechen nicht gilt. Das heißt, dass das Gesetz angepasst werden muss. Es braucht einen Bundesbeschluss zu diesem Thema, wonach Vergewaltiger, Frauenhändler, Mörder ohne Wenn und Aber ausgeschafft werden. Und wenn das passiert, dann sind wir einen guten Schritt weiter."
    Die Gegner der rechtspopulistischen Initiativen dagegen hoffen, dass die Deutungshoheit der SVP damit beendet und die Zivilgesellschaft wieder erwacht ist. Aber selbst wenn sich eine derartige Mobilisierung aus der Mitte der Gesellschaft nicht bei jeder Abstimmung wiederholen lässt, das Vertrauen in die direkte Demokratie hat sie in jedem Fall gestärkt.