Dienstag, 16. April 2024

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Die Lange Nacht einer besonderen Beziehung
Mütter und Töchter

Alle Frauen werden wie ihre Mütter, das ist ihre Tragödie, sagte schon Oscar Wilde. Kaum eine Beziehung ist so ambivalent und bietet so viel Zündstoff, wie die Mutter aller Beziehungen: die Mutter-Tochter-Beziehung.

Von Gesine Schmidt | 12.05.2018
    Tochter und Mutter: Lara Woitge und ihre Mutter Silke Woitge von der Insel Rügen stehen am 24.05.2017 vor der Mercedes-Benz-Arena in Berlin um ein Konzert der Girlband Little Mix zu besuchen.
    Töchter und Mütter, hier im Chorale Feminale (dpa)
    Nicht alle Frauen werden Mütter, aber alle sind Töchter und Töchter haben Mütter.
    Und wenn sie unter sich sind, geht es nicht hauptsächlich um die Männer, sondern um die längste Zweierbeziehung des Lebens. „Es ist wie ein riesiges Gespenst, das sich plötzlich auf einen stürzt, wenn man die Tür zum Kinderzimmer öffnet, denn es ist und bleibt die Tür zum Kinderzimmer, auch wenn man es längst vergessen hat.
    Hört man denn nie auf, Mutter und Tochter zu sein?“, fragt Eva ihren Mann in Ingmar Bergmans ‚Herbstsonate‘. „Einige schaffen es vielleicht“, lautet seine verzagte Antwort.
    Die Mutter ist die allererste Bindung, die erste große Liebe, das Rollenvorbild, und sie prägt zeitlebens die Körperlichkeit und das Gefühlsleben einer Frau. „Nur wenn die Tochter ihren Weg zwischen dem Hass auf das Mutterobjekt einerseits und der totalen Verschmelzung andererseits findet, gelangt sie zu einer befriedigenden Weiblichkeit.“, schreibt die Analytikerin Hendrika Halberstadt-Freud.
    Eine tragikomische, reale und fiktionale ‚Lange Nacht‘ über die emotionalen Achterbahnfahrten zwischen Müttern und Töchtern.
    Ellen, Geraldine und Karo - Ich habe eigentlich gedacht, ich bin nicht wie meine Mutter
    Karo: "Ich habe eigentlich gedacht, ich bin nicht wie meine Mutter. Es war gar nicht so sehr, dass ich dachte, ich will nicht so werden, aber ich bin ganz anders. Und immer mehr merk ich so mit der Zeit, mit den Jahren, dass ich da doch ihr immer ähnlicher werde, ihr auch immer ähnlicher sehe. Immer mehr Leute sprechen mich drauf an als meine Mutter, dass ich aussehe wie meine Mutter."

    Geraldine: "Echt?"

    Karo: "Schon. Das war früher nicht so. Die ersten 15 Jahre sah ich aus wie mein Vater und jetzt so…"

    Geraldine: "Bei mir ist das auch ne Alterssache, dass ich das Stück für Stück so merke selber. Gar nicht so in der Fremdzuschreibung, aber dass ichs selber merke: Oah, das klang jetzt grad wie meine Mutter. Oder ich hör ihr zu und denk, oah, das hast du gestern auch genauso gesagt!"

    Karo: "Ja."

    Geraldine: "Also ich hab da auch so ne Distanzlosigkeit von meiner Mutter mitgekriegt und so sich in alles einmischen und dass ich selber auch meine eigene Meinung so wichtig finde. Dann merke ich, wie wichtig sie ihre Meinung findet. Dann denk ich: Gott, wie kann man nur!"

    Ellen: "Ja, das erinnert mich manchmal auch daran." (alle lachen)
    "Du bist wie deine Mutter!"
    Kein Satz weckt bei Frauen so viel Emotionen und Spannungen und Sie befinden sich unversehens in einem Minenfeld! Der irische Schriftsteller Oscar Wilde hat das einmal so formuliert: "Alle Frauen werden wie ihre Mütter, das ist ihre Tragödie. Kein Mann wird wie seine Mutter, das ist seine Tragödie."
    "Töchter, schafft euch die Mütter, die ihr braucht!"
    Über den Mutterkomplex bei Männern ist viel geredet worden. Und was ist mit dem Elektra- oder dem Schneewittchen-Komplex? Auch für die Frauen ist die Beziehung zur eigenen Mutter die "Mutter aller Beziehungen". Während der Vater Einfluss auf die spätere Partnerwahl seiner Tochter hat, hat die Mutter Einfluss auf die Identitätsfindung. Sie gilt als Rollenvorbild prägend für die Bildung des Selbstbildes ihrer Tochter.
    In ihrem Buch "Wie meine Mutter" formulierte Nancy Friday: "Egal wie wir das Netz von Emotionen zwischen uns und anderen weben, häufig ist es geprägt von dem Muster, das zwischen ihr und uns besteht. Viele der Beziehungen, die wir als Erwachsene führen, enthalten Elemente der Mutter-Tochter Beziehung. Entweder spielen wir die Rolle des Kindes und machen die andere Person zur Mutter oder wir übernehmen ihre Rolle."

    Deshalb gibt die Psychologin Kim Chernin den einfachen und doch so verzwickten Rat: "Mütter, lasst die Töchter los! Und Töchter, schafft euch die Mütter, die ihr braucht!"
    "Mama löst das."
    Ellen: "Bei meiner Mutter, es war immer klar, du kannst alles sagen. Alles ist okay. Du musst nichts verbergen. Es ist immer ein offenes Ohr da und egal, was es ist, wir finden eine Lösung."
    Geraldine: "Ja, das hab ich auch total, das Lösung-finden."
    Ellen: "Und es ist bis heute so, wenn ich irgendein Problem habe als erwachsene Frau und wenn ich meine Mutter angerufen habe und ihr das geschildert habe, erstmal kann ich weinen wie ein Schlosshund. Es ist eine wahnsinnige Erleichterung, weil jetzt ist es dort angekommen, wo es hin muss und es ist alles ausgepackt. Es ist alles auf dem Tisch und jetzt gibt‘s ne Lösung."

    Karo: "Mama löst das."

    Ellen: "Ja. Es ist immer noch der Zufluchtsort."

    Karo: "Die Mütter sehen doch jede Information dann als Aufforderung. Meine Mutter kann nicht sehen, dass ich zu ihr sage, ich habe schlecht geschlafen, ohne dass sie jetzt überlegt, was sie dafür tun kann, dass ich besser schlafe. Aber das ist nicht mehr ihre Aufgabe. Ich bin ja 30. Und ich glaube auch ganz oft, sag ich ihr trotzdem Dinge, weil ich hoffe, da kommt jetzt irgendwas oder kommt ein Angebot oder so. Also ich verführe sie auch."
    Annemarie Norden - Sie liebte mich, ich wusste es genau
    "Die Nacht brach herein. Schwarz hoben sich die Wälder vom blassen Himmel, ein Stern nach dem anderen erschien. Meine Mutter ging unruhig unter dem Baum auf und ab. Meine Beine brannten, dort, wo sie auf dem Ast auflagen. Meine Hände, unbeweglich um den Stamm geschlungen, erstarrten in der kalten Nachtluft. Nur noch mühsam konnte ich mich festhalten. Ab und zu wimmerte ich leise vor mich hin. "Geht es noch?" fragte meine Mutter. Mein Wimmern schwoll zu lautem Geschrei an. "Warte!" sagte meine Mutter plötzlich. Sie trat zum Baum und griff nach dem untersten Ast, den sie gerade noch erreichte. Ich konnte nicht mehr viel von ihr erkennen, nur noch einen dunklen Schatten dicht am Stamm. Sie zog sich hoch, oder vielmehr, sie bemühte sich, sich hochzuziehen. Ich hörte ihren hastigen Atem und hörte, wie ihre Schuhe gegen den Stamm stießen. "Mama ... "rief ich, so, wie ich als ganz kleines Kind gerufen hatte. "Halte dich fest! "rief meine Mutter. "Gleich bin ich bei dir!" An ihrem Ächzen und ihren kurzen Atemstößen hörte ich, wie verzweifelt sie sich bemühte, sich auf den untersten Ast zu schwingen. Schließlich schaffte sie es. Sie verschnaufte einen Augenblick und kletterte dann weiter, vorsichtig und gewiss voll großer Angst, denn sie war ja jahrzehntelang nicht mehr geklettert. Aber sie kam höher, immer näher zu mir. Ich sah ihr Gesicht als hellen Fleck zwischen den Zweigen auftauchen und wartete stumm und zitternd auf sie. Und dann war sie endlich in meiner Höhe. Sie setzte sich aufatmend auf einen Ast an der gegenüberliegenden Seite des Stammes und umschlang den Stamm mit dem linken Arm, um sich festzuhalten. Aber mit ihrer freien Hand suchte sie meine Hand und legte dann ihre darüber. "Mama! "schluchzte ich, und ein Strom von erlösenden Tränen brach aus meinen Augen. Nichts konnte mir mehr geschehen. Meine Mutter war gekommen und war bei mir und beschützte mich. Sie hielt meine Hand. Sie liebte mich, ich wusste es genau. Ganz still saßen wir auf dem Baum, bis kurz nach zehn Uhr. Dann tauchte ein Licht auf der Landstraße auf, und ein Leiterwagen fuhr heran. "Hier!" schrien wir. "Hier sind wir!" Der Wagen hielt unter dem Baum. Bauer Meckentin vom anderen Ende des Dorfes saß darauf, und neben ihm meine Schwester. "Mutti, wo bist du?" rief sie ängstlich, als der Bauer ihr vom Wagen geholfen hatte. "Hier" sagte meine Mutter, "oben im Baum."
    Annemarie Norden: Auf dem Pflaumenbaum. In: Schriftsteller erzählen von ihrer Mutter. Hrsg. Von Hans Peter Richter. Kolmar 1968
    Marie Luise Kaschnitz - Ich, eine gute Mutter, eine gute Erzieherin, ach nein.
    "Ich, eine gute Mutter, eine gute Erzieherin, ach nein. Eine Amüsierpädagogin hat mich mein Mann einmal genannt, und das stimmte, ich langweilte mich nicht, wenn ich mit Kindern spielte, ich ließ mich nicht zu ihnen hinab, war mittendrin, war eines von ihnen. Die größte Sünde, die ich an meinem Kind begangen habe, war die Liebe zu meinem Mann, das Ein-Herz-und-eine-Seele-Sein. Dies ist der Grund, warum ich immer behaupte, eine schlechte Ehe sei für Kinder, besonders für Einzelkinder, vorzuziehen. "Da wissen sie doch, an wen sie sich zu halten haben. "Die Verschwörung eines sich immer einigen Ehepaares hingegen macht das Kind klein und hilflos, macht dass es sich vor Eifersucht verzehrt. "Ihr haltet auch immer zusammen", hat meine Tochter, vierjährig, einmal gesagt und hat sich umgedreht und mit dem Fuß aufgestampft. Wir beide werden auch noch dazu gelacht haben. Wenn ich an die Einsamkeit des Kindes denke, wird mir übel zumute."
    Marie Luise Kaschnitz: Das Bild der Mutter. In: Orte, Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1973
    Die Füße einer Mutter und eines Kindes sind auf einer Hängematte zu sehen.
    Biografische Angaben der Protagonisten in Selbstaussagen
    Ellen Uhrhan, 32 Jahre, Theatermacherin und Kulturmanagerin

    Géraldine Mormin, 33 Jahre, Theatermacherin und Prozessbegleiterin

    Karoline Schulze, 31 Jahre, Theatermacherin und Kulturpädagogin

    Alle drei sind von der Berliner Performancereihe "Geschichten aus der Stadt", einer performativen Kolumne, die seit zweieinhalb Jahren in unregelmäßigen Abständen ein treues und wachsendes Publikum in Kreuzberg versammelt und das individuelle Ringen um eine selbstbewusste, gleichberechtigte weibliche Sexualität bespricht. Jede erzählte Geschichte ist wahr und wurde von einer der Performerinnen oder einer anderen Frau erlebt. Gemeinsam mit Matin Soofipour, 33, Theatermacherin und Autorin, stellen die 4 Frauen weibliche Sexualität in den Fokus, reflektieren den Umgang in unserer Gesellschaft mit weiblicher Lust und erkunden Vorurteile, Klischees und Tabus.

    Geschichten aus der Stadt und bei Facebook
    Else Gabriel

    Else Gabriel ist in ihrem Elternhaus, erbaut 1701, in Halberstadt, damals Zonenrand DDR, geboren. Während der langen und komplizierten Geburt lief der Fernseher mit Westempfang auch nachts… Sturmflut in Hamburg. Else heißt bürgerlich Hanna-Elisabeth Simone, studierte in Dresden Bühnen- und Kostümbild. Währenddessen gründete sie zusammen mit ihren Kommilitonen Micha Brendel, Via Lewandowsky und später Rainer Görß die Künstlergruppe der Auto-Perforations-Artisten. Weder den Begriff der "künstlerischen Performance", noch der "Installation" gab es in der Terminologie der DDR. Nach ihrer Ausreise nach Berlin/West 1989 lebte sie 1992/93 mit einem Stipendium für ein Jahr nach Los Angeles, später noch ein Jahr in London. Seit 1997 ist sie Professorin - zuerst in Hamburg, später noch in Braunschweig, Kassel, Kiel und Saarbrücken. Seit 2009 lehrt sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Dort gründete sie gemeinsam mit Thaddäus Hüppi die KUNSTHALLE am Hamburger Platz, für die sie wesentlich die Programmatik bis 2016 mit bestimmte. Else lebt in Berlin und hat zwei fast erwachsene Kinder.
    Ute Plötner

    Ich bin 56 Jahre alt, verheiratet und wir haben drei erwachsene Kinder. Ich bin Diplominformatikerin und gehe meinem Beruf gerne nach. Meine Hobbys sind Familie, Freunde und der Garten.
    Katrin Plötner

    1985 geboren und aufgewachsen in Berlin. 2006-2011 Regiestudium an der Universität Mozarteum Salzburg, die Diplominszenierung Angriffe auf Anne wird zum Fast Forward (Europäisches Festival für junge Regie) ans Staatstheater Braunschweig eingeladen. 2012 laut Theater heute unter den drei wichtigsten Absolventen der letzten 10 Jahre der Universität Mozarteum Salzburg. Inszenierungen u.a. am Residenztheater, Schauspiel Frankfurt, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Staatstheater Karlsruhe, Theater Regensburg, Landestheater Linz, Landestheater Niederösterreich, Staatstheater Darmstadt, Theater Augsburg und Mainfranken Theater Würzburg. Außerdem Einladungen zu diversen Festivals und Gastspielen im In- und Ausland.

    Ein ausführliches Porträt finden Sie hier .
    Anke Heinrich

    Anke Heinrich, geboren am 14.5.1940 in Kyritz, 1943 Umzug nach Posen, 1945 Flucht nach Potsdam, arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Diplom-Pädagogin an der Schwerhörigenschule Potsdam.
    Claudia (47) möchte anonym bleiben
    Barbara Bronnen - "Meine Mutter und das Meer"
    Barbara Bronnen, 1938 in Berlin als Tochter des Schriftstellers Arnolt Bronnen geboren, wuchs in Österreich auf und studierte Germanistik und Philosophie in München, wo sie als freie Autorin lebt. In ihren Romanen hat sie sich wiederholt mit dem Bild der Mutter auseinandergesetzt. "Meine Mutter und das Meer ist in ihrem Sammelband "Mamma mia. Geschichten über Mütter" erschienen.

    "Meine Urgroßmutter, davon gibt es ein Foto, besaß einen Flügelaltar, einen richtigen Schrein, von oben bis unten mit Bildern, Fotos, Gemälden ihrer Vorfahren, Kinder und Kindeskinder bestückt.

    Meine Großmutter hegte einen Hauptaltar mit ihrer Mutter; Mann, Tochter und Enkelkinder standen in den Nebenaltären.

    Der Hauptaltar meiner Mutter besteht aus meiner Schwester, mir und dem Enkelkind; ihre Mutter besitzt einen separaten Altar.

    Von Zeit zu Zeit bittet sie uns um ein neues Foto, denn das Enkelkind wächst (wir dagegen werden kleiner). Früher habe ich mich mitleidig betrachtet, wie ich da gut angezogen neben meiner Schwester im Silberrahmen dastand, mit einem Lächeln, als wüsste ich, dass es eine Zeitlang vorhalten muss.

    Heute sage ich zu meinem Mann: Mach bitte ein neues schönes Foto für meine Mutter."
    Annette Pehnt - Mutter bedroht Annie mit dem Tod, das kann sie gut.
    Annette Pehnt erzählt in ihrem Roman "Chronik der Nähe" eine Geschichte zwischen Liebe und Hass. Großmutter, Mutter, Tochter. Immer und immer wieder versuchen sie, einander nahezukommen. Doch in jeder Generation finden sich neue Hindernisse, an denen ihr Bemühen scheitern könnte.
    Mutter bedroht Annie mit dem Tod, das kann sie gut. Ich sterbe, sagt sie zunächst leise, aber es genügt, um den Herzschlag des Kindes zu beschleunigen, um Annie an Mutters Seite zu holen, sie nimmt Mutters Hand und presst sich an ihre Schulter.
    "Ich sterbe, das fühle ich, diesmal sicherlich, es ist so weit."
    Annie wird totenblass und hängt an Mutters Lippen. Mutter sieht rosig aus, aber ihre Lippen sind trocken, weil sie stoßweise ein- und ausatmet, sie atmet so rasch, dass sie irgendwann keine Luft mehr bekommt und anfängt zu zittern. Da weiß Annie, dass Mutter diesmal wirklich recht hat, jemand, der stöhnt beim Einatmen und stöhnt beim Ausatmen, der macht es nicht mehr lange, Mutter macht es nicht mehr lange.
    "Mutter", sagt Annie angstvoll. Mutter sinkt in einen Sessel und packt Annie am Arm, sie hält sie sehr fest, damit sie sich nicht aus dem Staub macht, aber das würde sie nie tun, sie wird die sterbende Mutter nicht allein lassen, sie wird alles für Mutter tun und sie vielleicht retten, wenn sie es erlaubt.
    "Ganz allein bin ich", stöhnt Mutter, und nun weiß Annie endlich wieder, was sie zu tun hat. Sie hatte es nur vergessen, das letzte Mal ist eine Weile her, damals hat es geholfen, und es wird wieder helfen, und schon ist Annie nicht mehr so angst und bange, denn sie wird sich anstrengen und wird Mutter wieder retten, wie beim letzten Mal. Auf einmal spürt sie eine Freude, dass sie so viel tun kann für ihre sterbende Mutter.
    "Mutter", ruft sie und drängt sich an die Mutter, die sie gleich noch fester umfasst, als wollte der Tod sie von ihrem Kind wegreißen, "ich habe dich doch so lieb, du darfst nicht sterben."
    "Nein", murmelt die Mutter, »das glaube ich nicht, keiner ist für mich da, am Ende ist man allein."
    "Doch", ruft Annie triumphierend, sie erinnert sich nun sehr gut an die Worte, die sie zu sprechen hat und immer wieder sprechen wird, "doch, ich bin bei dir, Mutter, ich liebe dich." Mutter macht abwehrende Bewegungen mit der Hand und dreht kraftlos den Kopf zur Seite, vom Kind weg. Annie tänzelt auf die andere Seite, hinüber in Mutters Blick, und fasst die abwehrende Hand, hält sie fest und fängt an, Mutter zu streicheln. Mutter atmet laut und schnell, ihre trockenen Lippen stehen halb offen, sie gurgelt aus der Kehle, das gehört alles dazu, wie konnte Annie es vergessen. Sie lässt schnell die Hand los, rennt in die Küche, befeuchtet ein Geschirrhandtuch mit Wasser und ist schon wieder an Mutters Seite, tupft ihre Lippen ab mit dem feuchten Tuch, fasst die Hand, die nun endlich zugreift und das Kind festhält. Mutters Stöhnen wird leiser, sie öffnet die Augen und schaut Annie an, die dem Blick nicht ausweicht.
    "Du bist meine Tochter", murmelt Mutter, "du lässt mich nicht allein." Annie nickt, drückt die Hand und sinkt an Mutters Schulter. Nun, da sie weiß, dass Mutter diesmal wieder nicht sterben wird, ist sie auf einmal sehr müde.
    Annette Pehnt: Chronik der Nähe. München 2012
    Virginia Woolf - Zauber, aber auch Schrecken und Abgründe ihrer Kindheit
    Neben ihren Tagebüchern und Briefen hat Virginia Woolf einige Memoiren hinterlassen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Den ersten dieser Texte schrieb sie mit 26 Jahren, lange bevor sie als Schriftstellerin hervortrat; an dem letzten arbeitete sie bis wenige Monate vor ihrem Tod. Mit fast analytischer Genauigkeit hält sie in "Augenblicke des Daseins" den Zauber, aber auch die Schrecken und Abgründe ihrer Kindheit fest. Sie berichtet von der allmählichen Befreiung aus der Enge ihres viktorianisch-prüden Elternhauses und von den Anfängen der legendären "Bloomsbury Group".

    "Gewiss ist, dass sie genau im Mittelpunkt dieser großen Kathedrale stand, die sich Kindheit nennt, und dort stand sie von Anfang an. Meine erste Erinnerung an sie ist ihr Schoß, und dabei fällt mir das Kratzen der Glasperlen an ihrem Kleid wieder ein, wenn ich meine Wange dagegen presste. Dann sehe ich sie in ihrem weißen Morgenrock auf dem Balkon, und die Passionsblume mit dem violetten Stern auf ihren Blütenblättern. Ihre Stimme ist mir noch ganz entfernt im Ohr - entschieden und lebhaft, und besonders die drei kurzen "ha-haha ...", mit denen ihr Lachen endete. Auch ich ende zuweilen ein Lachen in der gleichen Weise. Und ich sehe ihre Hände vor mir, wie Adrians; mit den ganz charakteristischen breiten Fingerspitzen - jeder Finger hatte eine schmale Stelle in der Mitte -, deren Nägel nach oben breiter wurden. Sie hatte drei Ringe: einen Brillantring, einen Smaragdring und einen Opalring. Meine Augen starrten gewöhnlich fasziniert auf die irisierenden Reflexe in dem Opal, während er über die Seite des Lehrbuchs glitt, wenn sie uns unterrichtete, und ich war glücklich, dass sie ihn mir vererbt hatte. … Aber wie war sie selbst, abgesehen von ihrer Schönheit, falls man beides überhaupt trennen kann? Sehr schlagfertig, sehr direkt, praktisch und amüsant, sage ich spontan. Sie konnte scharf sein, denn Affektiertheit war ihr ein Greuel.

    Ich erinnere mich, dass sie einmal zu mir sagte, als wir am Wagen vor einem Haus hielten: "Wenn du deinen Kopf so schief hältst wie jetzt, kommst du nicht mit auf die Party." Sie war ernst, mit einem Hintergrund von Erfahrung, der sie traurig machte. Sie hatte ihr persönliches Leid, das auf sie wartete, dem sie sich im Stillen hingab. … Und sie war natürlich Mittelpunkt. Ich schätze, das Wort "Mittelpunkt" kommt dem Gefühl am nächsten, das ich gewöhnlich hatte, so absolut in ihrer Atmosphäre zu leben, dass man sich nie weit genug von ihr entfernen konnte, um sie als Person zu sehen. Sie war alles: Talland House war voll von ihr, die Hyde Park Gate war voll von ihr. Jetzt sehe ich auch, wenngleich diese Feststellung übereilt, vage und nicht sehr verständlich ist, weshalb sie bei einem Kinde keinen sehr persönlichen und besonderen Eindruck hinterlassen konnte. Ich möchte fast sagen, sie hielt ihren lebendigen Schutz wie einen Baldachin ständig über uns gebreitet, unter dem wir alle zusammen lebten. Ich sehe jetzt, dass sie einen so ausgedehnten Wirkungskreis und deshalb weder die Zeit noch die Kraft hatte - außer für einen Augenblick, wenn man krank oder sonst in einer kindlichen Krise war -, sich besonders um mich oder irgendeinen von uns zu kümmern - falls es nicht Adrian war. Ihn liebte sie besonders zärtlich. Sie nannte ihn "Meine Freude". … Kann ich mich überhaupt erinnern, je mehr als ein paar Minuten mit ihr allein gewesen zu sein? Irgendjemand kam immer dazwischen. Wenn ich unverhofft an sie denke, ist sie immer in einem Raum voller Menschen: Stella, George und Gerald sind da, mein Vater sitzt mit übergeschlagenen Beinen da und liest und dreht eine Haarsträhne um seinen Finger. «Geh, und nimm den Krümel aus seinem Bart», flüsterte sie mir zu, und schon trottete ich los. Es sind Besucher da, junge Männer wie Jack Hill, der Stella liebt, viele junge Leute, Georges und Geralds Freunde aus Cambridge, alte Herren, die um den Teetisch herumsitzen und sich unterhalten - … Ich sehe sie mit ihrem Einkaufskorb in die Stadt gehen, und Arthur Davies begleitet sie; ich sehe sie strickend auf den Eingangsstufen sitzen, während wir Kricket spielen; ich sehe sie mit ausgestreckten Armen auf Mrs. Williams zugehen, als der Gerichtsvollzieher Besitz von ihrem Haus ergriff und der Hauptmann am Fenster stand und brüllend Krüge, Schüsseln und Nachttöpfe auf den Kies hinunterschleuderte - "Kommen Sie zu uns, Mrs. Williams"; "Nein, Mrs. Stephen", schluchzte Mrs. Williams, "ich lasse meinen Mann nicht im Stich." - Ich sehe sie in London schreibend an ihrem Tisch sitzen, die Silberleuchter und den hochlehnigen, geschnitzten Stuhl mit den Klauen und dem rosa Sitz und das dreieckige Tintenfass aus Bronze; ich schaue verstohlen unter den Rouleaus hindurch und warte verzweifelt, dass sie die Straße herunterkommt, wenn sie sich verspätet hat und die Laternen schon angezündet sind, und ich bin überzeugt, dass sie überfahren worden ist.
    Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen. Frankfurt am Main 2012
    Eine Mutter erzählt im Freien ihren Kindern eine Geschichte.
    Auch Kinder mögen es, wenn ihnen erzählt wird. (imago stock&people)
    Zitierte Literatur im Überblick
    Simone de Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Hamburg 1981
    Barbara Bronnen: Meine Mutter und das Meer. In: Mamma mia. Geschichten über Mütter. Hrsg. von Barbara Bronnen. München 1989
    Marie Luise Kaschnitz: Das Bild der Mutter. In: Orte, Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1973
    Waltraud Anna Mitgutsch: Die Züchtigung. München 1988
    Annemarie Norden: Auf dem Pflaumenbaum. In: Schriftsteller erzählen von ihrer Mutter. Hrsg. Von Hans Peter Richter. Kolmar 1968
    Annette Pehnt: Chronik der Nähe. München 2012
    Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen. Frankfurt am Main 2012
    Literaturempfehlungen
    Primärtexte

    Anne Rademacher (Hrsg.); Töchter und Mütter. München 1997
    Johanna Haarer / Gertrud Haarer: Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind - Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter. Hannover 2012
    Maria Riva: Meine Mutter Marlene. München 1992
    Angelika Schrobsdorff: Du bist nicht so wie andre Mütter. Die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau. München 2005 (1992)
    Doris Lessing: Das Leben meiner Mutter. Berlin 1994
    Ingmar Bergman: Herbstsonate. Film und Theaterstück 1978
    Claudia Erdheim: Bist du wahnsinnig geworden? München 1984
    Sekundärtexte

    Hendrika C. Halberstadt-Freud: Elektra versus Ödipus: Das Drama der Mutter-Tochter-Beziehung. Stuttgart 2000
    Caroline Eliacheff / Nathalie Heinrich: Mütter und Töchter: Ein Dreiecksverhältnis. Düsseldorf 2004
    Kim Chernin: Als Tochter geboren. Die Aussöhnung mit der eigenen Mutter. Frankfurt am Main 2000
    Gaby Gschwend: Mütter ohne Liebe. Vom Mythos der Mutter und seinen Tabus. Bern 2009
    Ingrid Riedel: Demeters Suche. Mütter und Töchter. Zürich 1989
    Mütter - Töchter - Frauen: Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hrsg. von Helga Kraft und Elke Liebs. Stuttgart 1993
    Mathias Jung: Schneewittchen. Der Mutter-Tochter-Konflikt. Eine tiefenpsychologische Interpretation. Lahnstein 2003.
    Musikliste
    1. Stunde
    Titel: Journey of a traveller
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers
    Titel: Because it must
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers
    Titel: 7 Fingers
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers
    Titel: Human range
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers
    Titel: 8 2
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers

    Titel: Long enough
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers
    Titel: Show your teeth
    Interpret: Anne Müller
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: 7 Fingers
    2. Stunde
    Titel: Less
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    Titel: Unter
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    Titel: Pause
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    Titel: More
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    Titel: Aborted beginning
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Spaces
    Titel: Says
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    Titel: Circeling
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Solo
    Titel: Wall
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    3. Stunde
    Titel: Four hands
    Interpret: Niels Frahn
    Komponist: Niels Frahn
    Label: Erased Tapes
    Plattentitel: Felt
    Titel: Oh mother
    Interpret: Christina Aguilera
    Komponist: Christina Aguilera, Derryck Thornton
    Label: RCA Records Label
    Best.-Nr: 717641-2
    Plattentitel: Oh mother
    Titel: Wer hat mein Lied so zerstört, Ma?
    Interpret: Daliah Lavi
    Komponist: Melanie Safka
    Label: Spectrum
    Best.-Nr: 519650-2
    Plattentitel: Die großen Erfolge
    Titel: Mama
    Interpret: Genesis
    Komponist: Anthony Banks, Philip Collins, Michael Rutherford
    Label: W S M
    Best.-Nr: 833124-2
    Plattentitel: David Copperfield - The sound of magic
    Titel: Mein blondes Baby
    Interpret: Marlene Dietrich
    Komponist: Peter Kreuder
    Label: Polydor
    Best.-Nr: 525247-2
    Plattentitel: Jawohl, meine Herr'n - Heinz Rühmann & Freunde
    Titel: Blues for Mama
    Interpret: Nina Simone
    Komponist: Nina Simone, Abbey Lincoln
    Label: RCA Records Label
    Best.-Nr: 673334-2
    Plattentitel: Nina Simone sings the Blues
    Titel: Mama said (Momma said)
    Interpret: The Shirelles
    Komponist: Luther Dixon, Willie Denson
    Label: BACKLINE RECORDS
    Best.-Nr: BLCD9.00937
    Plattentitel: Rockfile Vol. 27