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Schweizer Franken
Im Wallis-Dorf Grächen zählt der Euro

Seit der Entkoppelung des Schweizer Franken vom Euro sind viele Tourismusgebiete in der Schweiz in Bedrängnis geraten. Doch die Hoteliers und Gastwirte helfen sich in vielen Gemeinden selbst weiter. Zum Beispiel mit selbst festgelegten Wechselkursen, die den Ausländern den Urlaub in der Schweiz weiterhin attraktiv machen.

Von Henning Hübert | 12.04.2015
    Eine Euro-Münze und ein Schweizer Franken werden am 15.01.2015 in Köln (Nordrhein-Westfalen) vor der Fahne der Eidgenossen zwischen den Fingern gehalten. Völlig überraschend hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) am Donnerstag die Kopplung des Franken an den Euro aufgehoben und damit Turbulenzen an den Finanzmärkten ausgelöst.
    Ein Franken - ein Euro: Völlig überraschend hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Kopplung der Währungen aufgehoben und damit Turbulenzen an den Finanzmärkten und in den Tourismusgebieten ausgelöst. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Im Glacier-Express sitzen Reisende aus allen Nationen. Es ist der Lebenstraum vieler, einmal das Matterhorn zu sehen, am Talende hinter Zermatt. Dieses Jahr wird der Ansturm besonders groß ausfallen, jährt sich doch 2015 die Erstbesteigung dieses zackig-steilen Berges durch die Seilschaft des Briten Edward Whymper zum 150. Mal. Wir steigen aber kurz vor dem Felsturz von Randa aus dem Glacier-Express aus, um von der Bahnstation St. Niklaus in aller Ruhe eine Bergflanke neben dem Riedgletscher hoch zu fahren. Ziel ist das Walliser Bergdorf Grächen. Etwa 1.000 Einwohner leben hier, bis um das Jahr 1900 waren sie Selbstversorger und kauften im Tal nur Kaffee, Salz, Pfeffer und Tabak. Heute wollen die Grächener auch ihren Teil vom Kuchen der internationalen Mattertal-Besucher abhaben. Was nicht leicht ist, seit im Januar der Schweizer Franken so stark an Wert gegenüber dem Euro gewonnen hat. Grächen sagt deshalb: Bei uns am Berg steht der Wechselkurs nicht bei ungefähr 1 zu 1, sondern bei 1 Euro zu 1 Franken 35.
    Der hölzerne Chilch-Brunnen vor dem alten Gemeindehaus ist schon eisfrei. Sonnenstrahlen wärmen die Hauswand an unseren Treffpunkt: Es handelt sich um ein typisches, noch gut erhaltenes Walliserhaus. Ohne Fenstervergrößerung. Ohne angehängte Balkone. Also ein typisches Walliser Bergbauernhaus. Das hölzerne, fast schwarze alte Gemeindehaus liegt in einer steilen Gasse im autofreien Teil von Grächen. "Man hat dazu einheimisches Holz gebraucht. Und zwar für die Außenwände Lärchenholz. Ist das härteste Nadelholz, was wir hier haben. Und das ist sehr wetterbeständig. Man braucht es auch nicht irgendwie mit Farbe zu behandeln. Die Sonne bringt eine natürliche Patina auf die Wand, so dass das über die Jahrhunderte gleich aussieht." Reinhard Walter ist seit 16 Jahren Pensionär, aber die schwarze Aktentasche schlenkert an seinem Arm noch wie in den vier Jahrzehnten, als er hier Primarlehrer war und die Grächener Schuljugend unterrichtet hat. Reinhard Walter hat ein dickes Buch über seinen Ort in der Tasche: "Grächen im Strom der Zeit - Von der Speerspitze zum Trekkingstock". Einige zu groß geratene Appartementhäuser am Hang stören ihn. Umso mehr freut er sich, dass sich der Lärchenwald rund um Grächen seit Jahren kräftig ausdehnt. Denn wo Wald ist, wird nicht neu gebaut: "Sämtlichen Wald, den Sie hier sehen, gehört den Burgern. Heute haben wir natürlich eine Einwohnergemeinde und sehr viele Leute, die nicht Burger sind, die später zugezogen sind. Aber Wald und Alpweiden, das gehört alles den Burgern."
    Dialekt wird gepflegt
    Die Bürger hier im Wallis sprechen und schreiben sich ohne die sonst üblichen Ü-Striche. Fast alle Burger sind katholisch, die Messen in der Pfarrkirche Sankt Jakob sind gut besucht. Es wird Dialekt gesprochen, außer bei den Lesungen und Gebeten. Vor gut 120 Jahren haben die Grächener Geld in die Hand genommen und ihre Dorf-Kirchengemeinde endgültig freigekauft von der Mutterpfarrei in Visp - tief unten im Tal. Der Sittener Bischof hat ihnen ohnehin nicht mehr hineinregiert. Reinhard Walter: "Bis um 1634 war der Bischof Landesherr. Und dann haben ihm die Patrioten allmählich die Macht weggenommen. Und er hatte von da an noch die Funktion eines Ehrenfürsten ähnlich wie die englische Königin. Und das konnte er behalten bis zur Französischen Revolution. Er wohnte dem Landrat bei, aber er hatte nichts mehr zu sagen."
    Das Sagen im Wallis hat heute zum einen der Großrat in Sitten - französisch Sion - und zum anderen die Bevölkerung mit ihren vielen Volksabstimmungen. Auch über den Fremdenverkehr. Beatrice Meichtry spricht für Grächen als eigene Unternehmung: "Das war eine Abstimmung auf kantonaler Ebene - das sogenannte Tourismusgesetz. Und da hat die Bevölkerung abgestimmt, ob das Tourismusgesetz akzeptiert wird oder nicht. Und ein Bestandteil war darin auch die Destinationsbildung. Und es wurde dann abgelehnt. Infolgedessen ist Grächen heute eine eigene Destination zusammen mit Sankt Niklaus." Und macht finanziell, was es will. Hier gab es schon einmal einen von der Nationalbank in Zürich tolerierten Grächen-Dollar. Und seit den starken Wechselkurs-Einbrüchen des Euro bis heute den Grächen-Euro: Das ist ein Rabatt-Versprechen mit einer Parallel-Währung - die Ansage, für einen Euro nicht nur den Gegenwert von rund einem Schweizer-Franken, sondern von 1,35 Franken zu bieten. Wie oben im Skigebiet auf der Hannigalp im Kurs von Roger Nicolas. Die Abfahrten ziehen sich entweder durch eine spektakuläre Felsbrocken-Landschaft, oder durch lichten Fichten- und Lärchenwald. Mit seinen hellgrünen Telemark-Ski schwingt er zu einem Aussichtspunkt. Man hat fast einen Rundumblick vom Matterhorn bis ins Tal von Saas Fee. Walter: "Oh, aber hier ist ein wunderschönes, fast 360-Grad-Panorama. Auf dieser Seite ist Wallis, auf der anderen Seite ist der Berner Kanton. Das ist das Weißhorn. Ist 4.500 Meter hoch irgendwie, ich weiß nicht genau. Wir haben hier 23 Berge höher als 4.000 Meter. Der da vorne ist das Bitschhorn. Für mich der liebste Berg. Wie eine Pyramide. Auf der rechten Seite haben wir das Aletsch-Horn. Der Aletsch-Gletscher geht rum um den Berg. Und nachher haben wir den Weissmies, auch ein 4.000er und den Weissmies-Gletscher."
    Grächen geht seinen eigenen Weg
    Ein braungebrannter Skilehrer, die Sonnenbrille ist voll verspiegelt. Den starken Euro-Rabatt gibt es bei der Skischule, in der er angestellt ist, für den Wochen-Kinderskikurs. Roger Nicolas zog vor 16 Jahren aus Sion aus dem französischsprachigen Teil des Wallis hoch ins Bergdorf: "Ich habe nicht viel gemerkt wegen des Franken-Crashs. Die Leute kommen trotzdem. Es wird vielleicht ein Problem sein für Wallis. Aber die anderen müssen wie hier in Grächen ihre Möglichkeit suchen und etwas machen. Die sind speziell hier. Wenn die ein Problem hier haben, gehen die trotzdem weiter nach vorne. Hände nach oben und weiter machen."
    Auch im Hannigalp-Hotel haben sie einfach weiter gemacht. Inhaber Olivier Andenmatten stöhnt zwar ein wenig über das hohe Lohnniveau. So bekommen schon die Reinigungskräfte von ihm 25 Franken Stundenlohn, Minimum. Dennoch zückt er bei jedem Gast, der Zimmer, Speisen und Getränke bar in Euro bezahlen möchte, weiter den Taschenrechner und dividiert die Rechnung wie versprochen durch 1,35. Auch noch, seit die Nationalbank am 15. Januar ihre milliardenschweren Stützungskäufe für den lange Zeit gültigen Mindestkurs aufgab und sich Franken und Euro im Kurs zwischenzeitlich fast anglichen. Andenmatten: "Natürlich haben wir zuerst ein bisschen schockiert auf diesen Entscheid hingeschaut. Ich weiß nicht wie es bei jedem Wohnungsbesitzer war. Aber die Leistungsträger, die die größten Umsätze erzielen wie Sportgeschäfte, Skischulen, Hoteliers, Bergbahnen, waren alle dafür." Bei ihm hätte noch kein Gast aus dem Euroraum seinen Urlaub storniert, sagt der Geschäftsführer von vier Hotels. Jetzt schmilzt zwar die Gewinnspanne, aber für Umsatz ist gesorgt. Hendrik Hoffmann aus Mannheim blieb mit seiner vierköpfigen Familie zehn Tage, trotz des seit Januar dramatisch schlechteren offiziellen Tauschkurses bei den Banken: "Ganz schöner Wahnsinn. Gefreut habe ich mich für alle Einzelhändler im Süden Deutschlands in der Nähe zur Schweizer Grenze. Umso bitter dann natürlich für die Kollegen auf der Schweizer Seite. Aber deswegen den Urlaub vermiesen zu lassen oder zu überlegen, ich sage ab, kam für mich nie in Frage, da ja hier beim Oli Andenmatten eben der Wechselkurs 1,35 Franken ist."
    Schweizer Gäste sind Sorgenkinder
    Bleiben als Sorgenkinder die Schweizer Gäste. Bisher stellten sie 60 Prozent der Besucher in Grächen. Aber der starke Franken macht für sie einen Urlaub jenseits der Grenzen jetzt so attraktiv wie nie. Andenmatten: "Also, ich muss sagen: Das ist sicher die größte Schwäche, die wir durch diesen Kurs bekommen. Wir haben vor ein paar Jahren, als es den ersten Euro-Knacks gab, schon einmal erlebt, dass uns die gewissen Euroländer ein bisschen ausgelassen haben. Das war so. Aber jetzt wird das Ganze für den Schweizer sehr attraktiv, sei es nach Italien, sei es nach Frankreich, sei es nach Südtirol, nach Österreich zu reisen. Es gibt dort viele schöne Skigebiete. Man kann natürlich Geld sparen. Auf der anderen Seite: Er muss sich schon bewusst werden, ob er das wirklich will. Weil: Wenn er sein Geld auch in der Schweiz verdient, muss man sich auch überlegen: Wo gibt man es wieder aus. Dieser Kreislauf muss irgendwie wirtschaftlich funktionieren. Wenn nicht, dann kann es früher oder später zu Schließungen von Tourismusbetrieben kommen. Ob das gut für ein Land ist, weiß ich nicht."
    Seit der Kursfreigabe hat der Grächener wegen des örtlichen Wechselkurs-Versprechens auch schon den einen oder anderen Euro annehmen müssen, den ihm findige Schweizer auf den Tresen der Rezeption gelegt haben. So ging und geht es auch dem Bergbahndirektor Berno Stoffel. Er setzt sich in eine der gelben Gondeln hinauf zur Hannigalm und redet über die zweite Währung in seinen Kassen: "Ja, wir nehmen sie bar ein. Ist auch wichtig. Weil: Mit Kreditkarten funktioniert es nicht. Die Kreditkartenhersteller erlauben es nicht, einen speziellen Kurs zu hinterlegen. Aus diesem Grund müssen wir es bar nehmen. Und die Gäste nutzen das häufig und wir haben recht viel Euro-Münzen." Die sie versuchen, wieder im Euro-Raum auszugeben. Also besorgen sich Grächener Hoteliers ihre neue Dampfsauna inzwischen in Österreich. Und die Bergbahnen ordern Seilbahn-Technik in Italien. Wenn es geht, über international aufgestellte Schweizer Betriebe. Also über Firmen, die auch im Euro-Raum Niederlassungen haben. Denn es soll am Ende nicht heißen, Grächener würden den Schweizer Markt boykottieren. Jetzt, am Ende der Wintersaison, ist Kassensturz bei allen, die den besseren Euro-Wechselkurs von 1,35 Franken angeboten haben. Ihn auch über diesen 12. April hinaus anbieten, etwa für die Bergwandergäste? Nein, das werden sie nicht. Obwohl die Übernachtungszahlen in diesem Ort kräftig gestiegen sind. Denn dazu ist für Berno Stoffel als Sprecher der Grächener Kampagne der Euro einfach zu schwach: "Wenn man sieht, wie viel Geld in die Schweiz kommt und wie stark der Schweizer Franken als Fluchtwährung ist. Und wie die Krisenherde überall in der Welt existieren: Ich denke, der Schweizer Franken ist extrem stark. Ich stelle eher die Frage: Wie geht es weiter mit dem Euro?" Wird schon irgendwie weiter gehen. Sonst würde er sich am Ende des Gesprächs nicht aus dem Gondelfenster lehnen mit seiner Prognose für die nächste Wintersaison: "Wir werden sicherlich nächstes Jahr weiterfahren. Vielleicht machen wir es ganz flexibel mit dem Kurs - eine eigene Nationalbank-Strategie. Aber wir werden festhalten: Wo der Kurs genau liegt, das ist Spekulation, wie bei der Nationalbank." Damit die Gäste weiter hinauf kommen in die Euro-Enklave in den Schweizer Bergen, die umzingelt ist vom starken Franken.