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Schweizer Freiheitskampf und interne Streitigkeiten

Viel Wirbel gibt es derzeit im Züricher Opernhaus. Inszenierungen wurden kurzfristig abgesagt, die Sopranistin Waltraud Meier verließ das Ensemble und der Dirigent des aktuellen Stücks "Guillaume Tell", Thomas Hengelbrock, gekündigt. Kein gutes Omen für die Premiere?

Von Frieder Reininghaus | 14.11.2010
    Die aus Legenden gewobene Geschichte des Sennen und Wildschützen Wilhelm Tell begründete eine besondere Geschichtsdimension: die der Separation der Eidgenossenschaft vom römisch-deutschen Reich. Nicht zuletzt geht es da um die Motivation eines historischen Prozesses, der sich bis heute in der europäischen Sonderrolle des Alpenstaats fortsetzt.
    Ende der 1820er Jahre klinkte sich Gioacchino Rossini in die Tell-Mode ein – damals wurde nicht nur Gretrys revolutionär gestimmte Oper von 1791 reaktiviert (unter strengen Auflagen der Behörden!), sondern herrschte durch Arbeiten von Adolphe Adam u.a. nachgerade 'Tellomanie’ auf den Bühnen. Allein: Rossini, den zurechtzustutzen die Zensur in Paris fürs erste leichtfertigerweise vergaß, erwies sich als unschlagbar mit seiner Version der Konfrontation von Geßler und Tell, Feudalfürstenwillkür und Bergbauernstolz, Knechtschaft und Freiheit.

    Suisse aujourd’hui: Noch bevor die Ouverture mit dem emphatischen Cello-Solo anhebt und unter Gianluigi Gelmettis Leitung über die Sphären der alpenländischen Landschaftsmalerei zum werbewirksamsten Geschwindmarsch aller Zeiten vordringt, zeigt der Bühnenbildner Jörg Zielinski einen Parkplatz am Rand einer Hochalpenstraße. Ein knappes Dutzend Ausflügler blickt stumm von den Bänken an der Bushaltestelle übers tiefe Tal hinweg auf einen Berggrat im Hintergrund. Ein Wegweiser zeigt die Stunden zu lohnenden Zielen an. Ein Radler kommt herangeschnauft. Auch ein Trupp aus der Geriatrie (ja: selbst die immerjunge Schweiz altert und verjüngt sich durch Zuwanderinnen mit Kopftüchern!). Von nun an und bis zum menschheitsumschlingenden Jubel am Ende des 4. Akts wird das Werk als Jubiläumsveranstaltung genutzt. Das ist ein im Prinzip würdiger Umgang mit ihm, seinem ferngerückten Pathos und seinem Freiheitsgeist, der den Nachgeborenen so gründlich abhanden kam.

    Der Dorfplatz vor den schmucken Häuschen unter der Nordwand – auch er mit Bushalt versehen – erinnert konsequent an die trostlosen Wartezeiten, die jeder Bergbegeisterte an einem Ort wie diesem bereits absolvieren musste. Ruodi fischt heutzutage nicht mehr Felchen sondern Eispapier und Zigarettenkippen. Die habsburgischen Söldner erscheinen als EU-Einheit, die den freien Schweizern den Appenzeller Käse und die Toblerone wegfressen. Die Jagdgesellschaft macht am Schillerstein halt – und konsequenterweise erscheint auch der Rütli-Schwur als Reduktion: aus der Verschwörung wurde die touristische Verödung der Eidgenossen.

    Wenn der wuchtige Michele Pertusi, der Tell-Darsteller mit der Spielzeug-Armbrust vom sonor-gutmütigen Alfred Muff, der den Geßler aussteht, zum lustigen Apfelschuss genötigt und dann trotzdem mitgenommen wird, dann muss einer der Statisten, die zu wachen und zu verhaften haben, weggeschleppt werden, weil er der nervlichen Belastung solch einer Stresssituation nicht gewachsen ist. Im Publikum wird die Gratis-Zeitung Blick verteilt. Der Tod des Tyrannen am Seeufer tritt nicht durch ein gut platziertes Geschoss ein, sondern durch Tells Gesang – wie überhaupt am Ende dem Singen die Lufthoheit überlassen wird. Dabei zeichnet sich neben Pertusi in der Titelpartie vor allem Antonio Siragusa mit seinem strahlenden Heldentenor aus, mit dem er Arnoldo Malcthal vom blind verliebten vaterlandslosen Gesellen zum Kämpfer für die einst gerechte Sache in die Höhe drückt.

    Neben Siragusa wirkt Eva Mei als Matilda mit gepresster Stimme leider technisch überfordert. – Wenn am Ende zu den Chören aus höheren Sphären, dem zweiten Rang also, die Schweiz wie ein angeknabbertes Stück Käse in der Größe von etwa 2,90 mal 1,70 m als Île flottante durchs Blau des Bühnenbodens schippert, dann schlagen die Schweizerherzen höher und zu frenetischem Beifall aus. Es ist ja auch noch einmal gut gegangen mit ihrem Nationalepos.