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Schwere Entscheidungen

Richard lebt in einem fortwährenden Zwiespalt: Der Rundfunkjournalist steht zwischen zwei Frauen - der Mutter seiner Kinder und der jungen Kollegin. Da entscheidet er sich zunächst für eine neue Bleibe - im Nirgendwo der Berge Tirols.

Von Martin Lüdke | 18.04.2011
    Irgendwann – er wusste den Augenblick ziemlich genau - war an den Rand getreten, an den Rand der Klippe, um einmal den Abgrund zu sehen. Dann war er zurückgetreten. Er wollte nicht abstürzen. Und doch konnte er nicht aufhören, diesen Blick (hinunter) zu wiederholen - in seinem Kopf.

    Wieder eine der üblichen Liebesgeschichten? Kennen wir doch alles. Ein Mann zwischen zwei Frauen. Auf der einen Seite die Macht der Gewohnheit, die Ehefrau, zwei Kinder, Arbeit, Alltag. Auf der anderen Seite: das Verlangen, diese verrückte Liebe, die Leidenschaft. Und das Ganze in einer Zeit der großen Veränderungen. In Berlin fällt die Mauer. Eine halbe Welt bricht zusammen. Und unser Held schwankt.

    Ihm stellt sich die Frage: Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach?
    Doch so einfach macht es Joseph Zoderer sich - und uns - nicht.

    Zoderer, der Autor, bleibt auch als Erzähler ein Poet. Die autobiografischen Bezüge dieser Geschichte sind zwar nicht zu übersehen, zeitversetzt hat der Autor den Job seines Helden selbst ausgeübt. Auch die Fluchtbewegungen sind ihm nachzuweisen. Aber es ist, wenn ich das mit leichten Beben in der Stimme sagen darf, erst der Atem der Dichtung, der seine Geschichte beseelt.

    Eines Tages entdeckt Richard, der als Rundfunkjournalist arbeitet, ein Zeitungsinserat: Haus zu verkaufen, "in sonniger Lage am Waldrand". Es war schon immer sein Traum gewesen, abseits, oben in den Bergen, direkt am Wald zu wohnen. Richard kauft das Haus. Eine Ruine, etwa 400 Jahre alt, eine gute Stunde von der Stadt entfernt, in der er als Reporter arbeitet. Er war nicht naiv, er wollte kein neues Leben beginnen. Er wollte sein Altes neu ordnen.

    Richard lebt in einem fortwährenden Zwiespalt. Mit Selma ist er verheiratet. Sie haben zwei Kinder. Mit Ursula, einer jungen Kollegin, hat er ein Verhältnis. Vielleicht nicht die große, ewige Liebe, doch sicher eine obsessive, die ihn verrückt macht, gefangen nimmt.

    Aber nun wird die Zeit für ihn knapp. Der Umbau, die Renovierung des Hauses muss organisiert werden. Und vieles muss er selber machen. Das führt bald zur Trennung der beiden. Richard leidet. Die Glut schwelt weiter.

    Er hatte noch nie so geliebt. Richard schleppte gewaltige Wackersteine, nur mit einer Hebestange zu bewegende Granitbrocken, aus allen Winkeln des Waldes zum Traktor, den sein Nachbar in einer Wegschneise abgestellt hatte. Jede Minute, die er frei war, genoss er als einen Selbstvernichtungsdienst für eine Zukunft, die ein Leben mit seinen Kindern sein sollte.

    Richard sucht, wie viele der Helden Zoderers, eine "Heimat". Er wird sie, ebenso wie seine Vorgänger, niemals finden. Der letzte Satz von Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung" könnte als Motto über Zoderers Werk stehen. Erst wenn der Mensch, "ohne Entäußerung und Entfremdung" zu sich gekommen sei, dann entstehe "in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."

    Auch das individuelle Glück bedarf der entsprechenden Umstände. Fast in allen Romanen und Erzählungen Zoderer haben die spezifischen Verhältnisse Südtirols bis in die persönlichen Beziehungen hinein gewirkt. Mussolini wollte vor dem Zweiten Weltkrieg Südtirol italienisieren. Er siedelte vor allem Süditaliener in den Norden um. Hitler holte dafür seine Landsleute "heim ins Reich". Doch diese Lösung hatte aber keinen Bestand. Viele Südtiroler kehrten nach dem Krieg wieder zurück. Nach langen Kämpfen erhielten sie eine partielle Autonomie. Noch heute leben in Südtirol Italiener und 'Deutsche' weniger mit- als nebeneinander. Ein schwieriges Zusammenleben.

    Zoderer wurde 1935 in Meran geboren. Er ist in Graz aufgewachsen, in der Schweiz zur Schule gegangen, hat in Meran Abitur gemacht, in Wien studiert, in Berlin, Rom, aber auch in den USA gelebt. Die Italiener nennen ihn einen, "scrittore italiano di lingua tedesca".

    Für seine Landsleute und die Österreicher ist er, das Inbild eines Europäers, zu dem Repräsentanten der Südtiroler Literatur geworden. Die frühen Romane, aus den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, "Das Glück beim Händewaschen" und "Die Walsche", wie auch in den späteren Erzählungen und Romanen, immer beschreibt Zoderer, wie die Südtirol-Problematik auch das private Leben seiner Figuren bestimmt. Er gilt seitdem als "Fremdheitsspezialist" aus einem "Sprachgrenzgebiet".
    Der neue Roman nun vermeidet allerdings jede genauere Lokalisierung. Das Wort "Südtirol" taucht nicht ein einziges Mal auf. Trotzdem wird man kaum behaupten können, dass sich für Zoderer das Problem damit erledigt hätte. Die Zerrissenheit des Helden scheint mehr als nur ein individuelles Problem. Zudem wird Richard, als das Haus fertig ist und die Idylle perfekt scheint, von seinem Sender befördert zum Auslandskorrespondenten, einer Art Europareporter. Er berichtet aus Paris und Rom und schließlich aus Berlin, vom Zusammenbruch der DDR, dem Fall der Mauer.

    In Berlin trifft er eines Abends wieder auf Ursula, seine ehemalige Geliebte. "Sie war kein Mädchen mehr", sondern "eine selbstbewusste junge Frau". Ein Blick genügte. Richard spürt sofort, dass er sich nicht gegen sein, lange Zeit nur unterdrücktes Verlangen wehren konnte.
    Ich werde stürzen, ich werde fliegen und stürzen, nichts fürchte ich so wie Abgründe, jäh abfallende Felswände, aber ich übe in mir den Sturz, das Durchbrechen von Glas und Beton. (Paul Nizon, der Schweizer Generalvertreter obsessiver Liebe, könnte bei der Lektüre dieses Romans neidisch werden.)

    Wie viele große Schriftsteller hat auch Joseph Zoderer lebenslang nur an einem einzigen Buch geschrieben, das allerdings viele Kapitel enthält. Jetzt, mit dem neuen Roman, "Die Farbe der Grausamkeit", hat er wieder ein neues Kapitel aufgeschlagen.

    Stärker als in den vorangegangenen Arbeiten verlagert Zoderer die sozialen und politischen Konflikte seiner Umwelt in das Ich seines Helden. Die Absurdität der Verhältnisse spiegelt sich (jetzt?) in seiner Lebensgeschichte. Das Fremde, das Entfremdete, Lieblingsvokabeln jeder literaturkritischen Beschäftigung mit Zoderer, Fremdheit überhaupt erscheint hier ins Existenzielle gewendet, ohne damit – unbedingt – an politischer Brisanz zu verlieren.

    Richard bleibt, was immer er auch anstellt, die alte Zerrissenheit. Am Ende des Romans kehrt er zurück, auf den Berg, zu Selma seiner Frau. Ein Happy End? Einsicht in die Verhältnisse? Resignation? Sicher – irgendetwas dazwischen.

    Die "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt", so hieß einst ein Handke-Büchlein. Zoderer hat das damit formulierte Programm jetzt weiter radikalisiert. Denn: Er beschreibt zugleich die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt.

    Joseph Zoderer: "Die Farben der Grausamkeit". Roman
    Haymon Verlag, Innsbruck 2011, 334 S.