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Schwere Themen leicht erzählt

Es ist damit nicht anders, als mit der Demokratie oder der großen Liebe oder der heilen Familie oder dem Weltfrieden. Früher gehörte der liebe Gott noch dazu, und es ist immer dasselbe Prinzip: Entweder man glaubt es, oder man glaubt es nicht. Wenn alle daran glauben, heißt es, es funktioniert.

Von Natascha Freundel | 03.03.2004
    Natürlich funktioniert es dann längst noch nicht unbedingt, aber das ist nicht so furchtbar wichtig. Wenn nur alle dran glauben, wird es schon funktionieren, und die, bei denen es nicht funktioniert, haben eben nicht stark genug daran geglaubt.

    Das ist der Vanderbeke-Sound! Ist das der Vanderbeke-Sound? Man kennt die schlichten, leichtfüßigen Sätze aus ihren früheren Büchern. Aber noch nie kamen sie so simpel daher, nie verhandelten sie auf derart naive Weise derart große Themen: Demokratie, Liebe, Familie, Weltfrieden. Überhaupt, schon der Titel macht ein wenig stutzig: "Geld oder Leben". Das lässt an Kinderspiele denken, an Parolen kleiner Abenteurer mit einer imaginären Knarre in der Hand. Aber das könnte auch die etwas verallgemeinernde Headline einer soziologischen Studie über die vernichtenden Nebenwirkungen des Turbokapitalismus sein. - Bei Birgit Vanderbeke kommt hier ein bisschen von beidem zusammen. Man erinnere sich: "Abgehängt" hieß ihr vergangenes Buch und da war zu lesen: "der Himmel war völlig leer, ganz einfach leer, alle Geigen abgehängt". Wo der Himmel sich ausgehimmelt hat, bleibt auf Erden nur ein Glaube übrig, der Glaube ans Geld. Und mit dieser "Geldreligion" rechnet Vanderbeke – unter dem Schein der kindlichen Naivität – gründlich ab.

    Mich hat in den 90er Jahren, wie uns alle, sehr fasziniert, den plötzlichen Glauben der Menschen an die Börse. Und mich hat besonders fasziniert, wie dieser Glauben zusammenkrachte und damit auch Geld verschwand und vernichtet wurde. Es sind ja unglaubliche Mengen Volksvermögen vernichtet worden im Jahr 2001 und ich habe über diesen Vorgang lange nachgedacht und wollte darüber etwas erzählen.

    Birgit Vanderbeke holt weit aus, um ihrem doch eher prosaischen Thema auf den Grund zu gehen: Kurz nach dem zweiten Weltkrieg beginnt ihre Geschichte, die sich eigentlich aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzt – aus Stationen der Bundesrepublik Deutschland nämlich, die zugleich die Lebensstationen der Erzählerin darstellen. Am Anfang steht die Großmutter. Sie konserviert alles, was sie "zwischen die Finger" bekommt, in Gläsern, am liebsten Pfifferlinge, und erntet dafür den Spott der Jüngeren, die auf Tiefkühltruhen und Tiefkühlspinat schwören. Das Prinzip der Erinnerung, an die "verfluchten Hungerjahre" und den "verdammten Krieg", verliert gegen das Prinzip Zukunft. Die Familie der Erzählerin verlässt den Osten Richtung Westen, Richtung Wirtschaftswunder. Ein winziges Zimmer erwartet sie dort, Streitigkeiten und "Kein-Geld".

    Man staunt über Vanderbekes formelhafte Zusammenfassung der Zeit: die 60er, 70er, 80er und 90er schnurren wie ein Daumenkino ab. Die Figuren, Mutter, Vater, Sohn und Tochter haben keine Psychologie, sondern bloß hohle Glaubenssätze im Kopf: Sätze, die sich immer wieder um "die Freiheit", "die Zukunft" und eben "Geld" oder "Kein-Geld" drehen.

    Es stellte sich dann heraus, dass zwischen dem Kinderbett und der Zukunft jede Menge Autos lagen. Es fing mit Kein-Geld, einem Gespräch bei der Bank und einer Isetta an, ging mit dem Volkswagen weiter, dann folgten ein Opel Rekord, ein Ford Taunus mit einer Weltkugel auf dem Kühler, ein Audi 100, ein Mercedes 220, danach kamen zu dem Mercedes noch ein Fiat, dann ein Opel Kadett, ein VW Passat und zuletzt ein kleiner BMW, irgendwo erschien kurz einmal ein Alfa Romeo und verschwand bald darauf wieder, aber auf der Höhe des zweiten BMW war schließlich die Zukunft da, und es war klar, dass es einen Zusammenhang zwischen Geld und PS geben musste, aber ich interessierte mich nicht für PS, weil Matz und ich jeden Samstag die Autos putzen mussten.

    Der schönen neuen Autowelt folgen Firmensiedlungen, Sprühdosen, die Atomkraft, Basisdemokratie, das Ozonloch, Drogen, Aids, Kabelfernsehen, Minijobs, Medienwissenschaften und eben die Luftblase des Neuen Markts. Dazwischen taucht das Gründungsdokument der Umweltbewegung auf, die Analysen des Club of Rome von 1973: Als ein "lauter Knall", der schnell wieder vergessen wird. All dies auf nicht mehr als 140 Seiten. All dies Episoden eines Lebens, so merkwürdig kindlich-distanziert erzählt, als betrachte die Erzählerin ihre Vergangenheit aus der Vogel- oder besser Engelperspektive.

    Meine Hauptfigur, wenn Sie die genau anschaun, gibt’s gar nicht. Das ist vielleicht das Riskanteste an dem ganzen Projekt, aber ich konnt's nicht anders machen. Ich brauchte jemand, in dem praktisch die ganzen kleinen Erzählungen, die kleinen Geschichten gebündelt werden und der die wiedergibt. Diese ganze Figur ist ein Konstrukt. Und ich hoffe, dass man's nicht allzu sehr merkt. Ich will, dass die Bundesrepublik Deutschland die Hauptfigur dieser Erzählung ist.

    Vielleicht ist diese Erzählerin am besten als Gedächtnis, ja als Gewissen dieser infantilen, selbstvergessenen Republik zu verstehen. Dennoch geht sie zur Uni und jobbt in einem Warenhaus, sorgt sich um ihre Telefonrechnung, verliebt sich, bekommt einen Sohn und verweigert sich der grassierenden Verkabelung und Verteuerung schließlich mit selbst genähten Sachen, selbst gebastelten Möbeln und – Pilzen aus dem Wald. Einerseits ist sie also unbeteiligter Zeuge, andererseits ein kreativer Sozialfall. Eine Kombination, die sich leicht zu einem Heiligenschein verdichtet, obwohl Vanderbeke nichts dergleichen im Sinn hatte: (35)

    Diese Frau ist selbst gestrickt, und darüber lächle ich, weil ich weiß, dass man die globale Problematik nicht mit Selbstgestricktem lösen können wird.

    Also kein Ausweg, nirgends. Deutschland, ein Schauermärchen der Reihenhausmonokultur, ein Kinderreim vom Ausverkauf der großen Worte und Ideale. Das Lachen, das dieses Daumenkino manchmal hervorruft, bleibt einem bald im Hals stecken:

    Das Buch ist sehr böse. Es wollte, sollte böse sein. Es sollte natürlich die Leichtigkeit haben, das kann ich gar nicht anders, so schreibe ich, das ist meine Art Geschichten zu erzählen. Ich würde sagen, dass angesichts einer augenblicklichen Weltsituation, sagen wir mal, das Wort "Verhängnis" doch angebracht ist. Und wenn man sich erzählt, wie es zu "Verhängnissen" kommt, muss man es leider böse tun.

    Literarisch sind solche piktogrammartigen "Verhängnis"-Geschichten allerdings eher enttäuschend: Und zwar weniger, weil man der traurigen Wahrheit nicht ins Gesicht sehen möchte; sondern weil sie so vorhersehbar sind, weil sie einem so simplen Strickmuster folgen, das sich weder um sprachliche noch um inhaltliche Überraschungen kümmert. Der katastrophalen Realität dieser Zeit und dieses Landes ist mit Kindersätzen einfach nicht beizukommen. Und wo sind die Rätsel des Alltags, die Birgit Vanderbeke sonst so wunderbar zum Klingen bringen konnte? Andererseits hat sie vollkommen Recht, wenn sie sagt:

    Ich bin nicht verpflichtet, anderer Leute Bilder von mir zu bedienen.

    Birgit Vanderbeke:
    Geld oder Leben
    S. Fischer Verlag; Frankfurt am Main 2003, 144 S., 16,90 EUR