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Schwerelosigkeit der Erinnerung

Die Romanheldin von Valeria Luisellis Buch "Die Schwerelosen" schreibt über ihre Vergangenheit: Sie hatte für einen kleinen Verlag nach lateinamerikanischen Schriftstellern gesucht, deren Werke verschollen oder aus dem Fokus des Interesses geraten waren. Beim Schreiben gerät ihr Leben aus den Fugen.

Von Claudia Cosmo | 05.09.2013
    In der Schwerelosigkeit versucht man, die Kontrolle über die eigenen Körperbewegungen zu behalten und die Gegenstände und Handlungen des Alltags wie gewohnt zu verrichten. Jedoch ist die Schwerelosigkeit stärker als die eigene Willenskraft. In solch einem Spannungsverhältnis steht Valeria Luisellis namenlose Protagonistin, die – um es einmal mit einem Filmtitel von Jim Jarmusch zu sagen - mit den "Limits of control" konfrontiert und der Schwerelosigkeit ausgeliefert ist. So wie ein Astronaut im All schwebt, gleitet Luisellis Hauptfigur durch die eigene Vergangenheit. Die Erinnerung daran wird in Valeria Luisellis Roman als ein schwereloser Raum erfahrbar, dem die Hauptfigur mit Literatur die notwendige Gravitation verleihen möchte.

    Der Roman "Die Schwerelosen" ist als literarisches Experiment zu verstehen. Dahinter steht die Frage, ob die Vergangenheit, die aus der Erinnerung erbaut ist und zu einem mythologischen Ort wird, mittels der Literatur zurückzuerobern ist. Nachts, wenn ihre Kinder schlafen, führt die junge Frau dieses Experiment aus, begibt sich an ihren Schreibtisch in einem Einfamilienhaus in Mexiko City und schreibt einen Roman über ihr vergangenes Leben in New York City. Sie versucht über dieses Leben zu schreiben, so als ob sie es noch genau spüren könnte, wie es tatsächlich gewesen ist. Doch die Schwerelosigkeit der Erinnerung hat ein eigentümliches Gewicht.

    "Alles hat in einer Stadt begonnen und in einem anderen Leben, vor diesem jetzt, aber nach jenem damals. Deshalb kann ich diese Geschichte nicht so schreiben, wie ich gerne möchte - als wäre ich noch dort und nur diese andere Person. Ich finde nicht die zutreffenden Zeiten für die Verben. Ich war jung, meine Beine waren kräftig und dünn."

    Ob es nun tatsächlich eine anatomische Übereinstimmung zwischen der Autorin Valeria Luiselli und ihrer Protagonistin gibt, bleibt dahin gestellt. Fest steht aber, dass "Die Schwerelosen" autobiografische Züge birgt. Valeria Luiselli selbst lebt abwechselnd in Mexiko City und New York. Und genauso wie ihre Romanfigur interessiert sich Valeria Luiselli als Lektorin für lateinamerikanische Literatur.

    So ist ihre Figur im Buch eine Suchende, die in ihrem vergangenen Leben in New York nach untergegangenen literarischen Schätzen Ausschau hält. In New York arbeitet Luisellis Romanheldin als Lektorin für lateinamerikanische Literatur in einem kleinen Verlag, für den sie nach den "Vergessenen"; eben nach denjenigen lateinamerikanischen Schriftstellern sucht, deren Werk teilweise verschollen und aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten ist.

    "Der Verlag hatte seinen Sitz in der Edgecombe Avenue 555. White war sich sicher, dass es nach dem Erfolg von Bolano vor gut fünf Jahren bald wieder einen Lateinamerika-Boom geben würde. Als Passagierin auf dem Zug seiner Begeisterung schleppte ich ihm jeden Montag einen Rucksack voll Bücher an und schrieb in meinen Bürostunden detaillierte Gutachten über jedes einzelne."

    Im Roman spielt die New Yorker U-Bahn eine große Rolle. Für Valeria Luiselli ist es ein Ort, an dem die Zeit aufhört, zu existieren. Gesichter zischen in vorbeifahrenden Wagons durch den Raum. Genau dort erblickt die Romanheldin das Gesicht von Gilberto Owen. Der 1904 in Mexiko geborene und 1952 im US-amerikanischen Philadelphia gestorbene Poet verkörpert die zweite Erzählstimme in Luisellis Roman. Er verschmilzt derart mit der Stimme der jungen Hauptfigur, dass der Leser am Ende nicht mehr unterscheiden kann, wer nun gerade als Erzähler auftritt.

    Luisellis junge Lektorin ist von Gilberto Owen besessen und versucht ihren Verlag für den literarischen Außenseiter zu begeistern, der Ende der 1920er-Jahre in New York lebte. Sie schreibt nicht nur ein fulminantes Gutachten, sondern fälscht das passende Manuskript gleich mit und krönt das ganze mit einer Lüge, die sie ihrem Verlagschef namens White auftischt.

    "Ich sagte ihm, dass ich ein anonymes Manuskript gefunden hätte, mit einer Reihe von kommentierten Übersetzungen von Owens Gedichten. White bat darum, das Originalmanuskript sehen zu dürfen. Ich musste es am Wochenende fabrizieren."

    Valeria Luisellis Roman "Die Schwerelosen" ist ein leichtfüßig daher kommendes, aber hoch intellektuelles Buch, das Literaturgeschichte und Philosophie mit kleinen, geistreichen Flunkereien verbindet. Das macht die ganze Angelegenheit temporeich und zu einem vergnüglichen Leseerlebnis. Luiselli inszeniert ihr literarisches Spiel auf mehreren Zeitebenen gleichzeitig, die wie Zahnräder ineinander gleiten. Und in dem Moment, in dem Owen beginnt, selbst zu erzählen, erscheint ihm Luisellis Protagonistin als Geist seiner Erinnerungen in der New Yorker Metro.

    "Ich sah die Frau meistens dann, wenn zwei Züge ein Paar Sekunden lang parallel nebeneinander in der gleichen Geschwindigkeit fuhren und man die anderen vorbeiziehen sah wie die Bilder auf einem Filmstreifen."

    "Tu tienes más realidad en el recuerdo - Du hast mehr Realität in der Erinnerung": So umschreibt es der mexikanische Schriftsteller Gilberto Owen in seinem 1925 entstandenen "Ensayo novelado", seinem in Romanform gebrachten Essay "La llama fría". Mit ihrem Debütroman "Die Schwerelosen" knüpft Valeria Luiselli an die Tradition der großen lateinamerikanischen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts an und versteht es trotzdem, ihre eigenständige Erzählstimme zu finden. Luisellis literarische Gesten sind manchmal intimistisch, surreal, melancholisch und von Einsamkeit durchzogen. Einen wirklichen Schluss gibt es nicht im Roman, keine Auflösung der Geschehnisse, keine alles ordnende Erklärung.

    Es gibt nur ein starkes Schlussbild, mit dem Valeria Luiselli das Ende von "Die Schwerelosen" inszeniert und an die Filme des Surrealisten Luis Bunuel erinnert: mit einer zuschnappenden Hand eines Kindes, das unter einem Laken den Hausgeist endlich gefunden hat.

    Valeria Luiselli: "Die Schwerelosen". Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Kunstmann Verlag, München