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Schwermütig und schwungvoll zugleich

Vier Romane hat der 34-jährige Franzose Tanguy Viel bislang geschrieben, aber der jetzt vorliegende mit dem Titel "Unverdächtig" ist der erste auf Deutsch. Das Buch liefert eine gelungene Untersuchung zum Thema Verlierer-Gewinner.

Von Peter Urban-Halle | 14.01.2008
    Der junge Sam ist ein Nichtsnutz, ein richtiger Tagedieb. Die Zeit verbringt er trinkend vor dem Fernsehgerät. Seine Freundin Lise arbeitet als Animierdame in einem Nachtklub - einer muss ja das Geld verdienen. Diesen beiden vom Glück Vernachlässigten bietet sich die Chance ihres Lebens, als sich Lises Lieblingskunde Henri in sie verliebt und sie heiraten will. Sie machen einen Plan. Sam gibt sich als Lises Bruder aus, wird zu ihrem Trauzeugen, sie soll sich entführen lassen, und dann wollen sie von Henri ordentlich viel Geld erpressen. Denn der ist ein reicher Auktionator mit großartiger Villa. Allerdings gehören ihm die Herrlichkeiten nicht allein, denn er hat noch einen Bruder, sogar einen echten, der nun zeigt, dass auch ein echter Bruder ein falscher Fuffziger sein kann, während Lises falscher Bruder Sam letztendlich nur naiv ist. Dieser kleine, dichte Roman ist eine gelungene Untersuchung zum Thema Verlierer-Gewinner, der Autor erklärt, was er darunter versteht:

    "Ein Gewinner, jedenfalls in der Mythologie des Buches, ist jemand, der alle Kodes kennt. Er beherrscht die Macht, das Geld, er hat die Autorität. Der Verlierer dagegen ist natürlich der kleine Bruder, der Schwächere und so weiter. Und aus seiner Perspektive muss erzählt werden, denn er ist es ja, der irgendwie etwas reparieren muss, indem er die Geschichte erzählt, also damit der Verlierer ein Gewinner werden kann, muss er schreiben."

    Sam, der den reichen Henri Delamare schröpfen will, tritt in eine fertige Welt ein, die ihm völlig fremd ist. Sein Unbehagen versucht er durch Überheblichkeit zu überspielen. Und anfangs klappt sein Plan auch wie geschmiert. Als Sam und Henri nach dem gemeinsamen Golfspiel spät heimkommen, ist Lise verschwunden und Henri völlig verzweifelt.

    Tanguy Viels Kidnapping-Geschichte lehnt sich an Brian de Palmas Film "Schwarzer Engel" an, der wiederum Hitchcocks "Vertigo" nachempfunden ist. Ohne den Film sind Viels Bücher kaum zu denken, das macht sich vor allem in der Vorherrschaft der Inszenierung bemerkbar, durch die man auch das Unwahrscheinliche schluckt, die meisterhafte Atmosphäre ist wichtiger als alle Plausibilität. Aber der Film ist eindeutiger, mimetischer, während die Literatur reflexiver ist, nachdenklicher. Doch Sam braucht sage und schreibe zehn Jahre, um nachzudenken und seine Geschichte erzählen zu können.

    Vielleicht auch deshalb gleicht sie einem Puzzle, mit jedem Teilchen versteht man die Zusammenhänge ein bisschen besser. Das hat mit der Position des Erzählers zu tun. Er kennt die Geschichte ja schon, aber er muss sie so erzählen, als steckte er noch mittendrin. Daher tauchen die Informationen auf, wie die Elemente der Erinnerung im Kopf des Erzählers auftauchen: nach und nach und nicht unbedingt in der richtigen Reihenfolge. Hier erzählt jemand eine Geschichte, deren roten Faden er noch sucht. Damit übrigens der Autor selbst den roten Faden nicht verliert, bedient er sich just des Kriminalgenres.

    "Ich benutze es als dramatische Struktur, die verhindert, dass ich mich im Stoff verliere, es erlaubt mir ein zentrales Ereignis zu erschaffen, hier zum Beispiel die Entführung, um das ich dann Elemente gruppieren kann, die eher außerhalb des Sensationellen liegen, zum Beispiel die Landschaft, das Licht, die Gefühle usw. Wenn ich nicht dieses sozusagen Rückgrat habe, verliere ich mich. Ja, und dann kann ich mit so einer Kriminalgeschichte mit viel größerer Intensität inszenieren, die Dinge, die mich interessieren, zum Beispiel den Verrat, die Rache, die Schuld."

    Sam weiß also, wie die Sache ausgeht, aber er hat alles doch noch nicht richtig verstanden, das sind gleich zwei Gründe, warum das Buch von Anfang an diesen melancholischen Ton hat, ein dritter ist, dass Sam schon vorher im Innern, in seiner Seele ein Melancholiker war. Es ist das Wunder dieses Buches, dass es sich nicht totschleppt an der Schwermut, sondern einen hinreißenden Schwung hat - was der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel mit großer Klasse übertragen, stellenweise sogar betont hat, auch im Deutschen ist der Text schwermütig und schwungvoll zugleich, so wie die folgende Passage, mit der Sams Unglück und Niederlage gewissermaßen besiegelt werden:

    "Ich sah seinen Körper schräg im Verlauf des Falls, ich sah den Koffer, der aufzufliegen schien, durch die salzige Luft wirbelte, und dann so langsam, so langsam auf den Boden fiel, der zu hart für ihn war, für den Koffer, ich sah, wie er beim Aufprall explodierte, er explodierte geradezu und öffnete sich weit."

    Auch das ist natürlich ein filmisches Bild, teilweise sogar in Zeitlupe, es handelt sich um den Koffer mit dem Lösegeld, aber jetzt sieht man, dass es keine Geldscheine, sondern Papierschnipsel sind, damit nimmt das Unglück seinen Lauf, die fingierte Entführung endet blutig, und am Schluss triumphiert Henris durchtriebener und geduldiger Bruder Edouard, der einfach auf seinen Moment gewartet hat, jetzt ist er da, jetzt holt sich Edouard etwas zurück, was ihm einige Jahre früher selbst genommen worden ist durch seinen nun toten Bruder. Aber wie Viels Buch ausgeht, ist nicht so wichtig, weil es nur bedingt dem Krimigenre zuzuordnen ist, obwohl es sich dessen bedient. Es geht nicht um Täter und Opfer, um Aufklärung und Vertuschung. Es geht um die Erschaffung einer diffusen und dadurch rätselhaften und verlockenden Atmosphäre und um die nie geklärten Fragen, ob einerseits ein Verlierer seine Niederlage womöglich verdient und andererseits ob er sie, indem er sie im wahrsten Sinne niederschreibt, mit ästhetischen Mitteln am Ende vielleicht in einen Sieg verwandelt hat.


    Tanguy Viel: Unverdächtig. Roman
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
    Wagenbach Verlag, Berlin 2007
    121 Seiten, 15,90 Euro