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Schwerpunktthema
Max Weber: Charismatisch, exzessiv und besessen

Bis heute gehört er zu den meistzitierten Wissenschaftlern der Soziologie. Mit Max Weber kann man den Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus erklären, Tiefsinniges über das Wesen der Bürokratie oder Formen charismatischer Herrschaft erzählen und schließlich über den "Polytheismus der Werte" klagen.

Von Ingeborg Breuer | 17.04.2014
    Die Bibliothek der Universität Heidelberg
    Die Bibliothek der Universität Heidelberg - an der Hochschule war Max Weber Student und später Lehrender (picture alliance / dpa / Ronald Wittek)
    Noch immer wächst die Sekundärliteratur über ihn ständig an. Anlässlich seines 150. Geburtstags fand in Heidelberg eine Tagung zur Aktualität Max Webers statt und zwei neue Biografien versuchen, das Leben des Wissenschaftlers in seiner Epoche auszuleuchten. Der Mitbegründer der Soziologie litt nämlich an der zeittypischen "Nervenkrankheit". Er arbeitete wie besessen und vollendete dennoch kaum ein Buch. Doch erst nach seinem Tod fasste seine Frau die hinterlassenen Fragmente zu einem "Werk" zusammen.
    "Es ist der Calvinismus, also eine Unterform des Protestantismus, der die Leute motiviert, ... danach zu gucken, wie sie erfolgreicher sein können als andere", sagt der Soziologe Dirk Kaesler, emeritierter Professor der Universität Marburg. Es ist Max Webers wohl bekannteste These. Für Calvinisten und Puritaner, jene von der Reformation abstammenden Glaubensrichtungen, war ökonomischer Erfolg ein Zeichen dafür, dass sie von Gott auserwählt waren. "Das war vormodern nicht selbstverständlich. Menschen, die allzu ökonomisch erfolgreich waren, waren mit religiösen Rechtfertigungsfragen konfrontiert", sagt Thomas Schwinn, Soziologe an der Universität Heidelberg.
    Arbeit als gottgewollter Lebenszweck
    Die Reformierten betrachteten Arbeit als gottgewollten Lebenszweck. Der Erwerb von Geld und Reichtum wurde geradezu zur sittlichen Pflicht. Kaesler: "Nicht weil sie viel Geld oder Vermögen anhäufen wollen, sondern weil es ein Indiz, ein Hinweis sein könnte, dass der liebe Gott es mit ihnen besonders gut meint. Dass sie also eher zu den gottgefälligeren Menschen zählen als die, denen es nicht so gut geht."
    Calvinisten und Puritaner lebten fromm und asketisch. Und brachten doch jenen Lebensstil hervor, ohne den sich der moderne Kapitalismus nicht hätte entwickeln können. "Es ist eine religiöse Suche nach einer Bewährung in Gottes Augen, die aber dazu führt, dass diese Leute genau so wirtschaften und investieren, wie es dem modernen Kapitalismus entspricht", sagt der Marburger Soziologe. Und das heißt: "Das Gewinnstreben muss sich nicht mehr rechtfertigen", so Schwinn.
    Protestantische Ethik und Geist des Kapitalismus
    "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" ist Max Webers bekanntestes Buch. Darin erzählt er, warum - zu seiner Zeit - Protestanten wirtschaftlich erfolgreicher waren als Katholiken. Wie sie aus frommer Überzeugung der kapitalistischen Gesinnung allmählich den Weg bahnten. Und wie ihr Erfolg die Frömmigkeit schließlich zurückdrängte und stattdessen äußere Güter eine "unentrinnbare Macht über den Menschen" gewannen. Jürgen Kaube, Redakteur bei der FAZ in seiner im Frühjahr erschienenen Biografie über Max Weber: "Das heißt, irgendwann kaufen sich die holländischen Kaufleute von ihren asketisch erwirtschafteten Überschüsse dann eben doch Pelze. Und Bilder, auf denen diese Pelze dargestellt sind. Und so kommen wir allmählich in eine Welt hinein, in der sich das streng Asketische dann zurückzieht."
    Max Weber lebte in einer Umbruchzeit. Er wurde 1864, kurz vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs geboren. Und als er 1920 starb, war der Kaiser schon im Exil. In dieser Zeitspanne versuchte das deutsche Bürgertum, seinen Platz zwischen Aristokratie und herandrängendem Proletariat zu behaupten. Die Industrialisierung schritt fort, Deutschland entwickelte imperialistische Gelüste. Es gab Kriege und Revolutionen. Kaesler: "1864 gibt es eine ganz andere Grundkonstellation als 1920. Und dass diese ganzen Ereignisse, die dazwischen liegen, das Leben und das Werk dieses Mannes geprägt haben, genau das habe ich versucht zu rekonstruieren." Kaesler veröffentlichte anlässlich des 150. Geburtstags von Max Weber eine 1000 Seiten umfassende Biografie. "Es sind diese Epochenbrüche, die in dieses Leben hineingefallen sind, diese ganzen Untergangs- und Auflösungstendenzen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, das man dann als Fien de siecle bezeichnet hat. Dann der Verlauf und das Ende des Ersten Weltkriegs, dann die beiden russischen Revolutionen, die Ereignisse der Revolution und Gegenrevolution im untergehenden deutschen Reich 1918 /19. Und dann die Ereignisse um die Weimarer Republik. Und all dieses liefert genau jene Themen, die sich dann auch im Werk Max Webers niedergeschlagen haben", so Kaesler.
    Charakter der Moderne
    Max Webers Denken kreiste um die Frage, was die anbrechende Moderne charakterisiert. Was unterscheidet die westliche von anderen Kulturen? Welcher Menschentyp wird dabei hervorgebracht? Schwinn: "Das ist Webers Fragestellung und die muss man erweitert sehen, insofern es ihm nicht nur um Kapitalismus ging, sondern das gesamte Ensemble moderner Ordnung. Es geht auch um die Entstehung moderner politischer Institutionen wie die Entstehung von Demokratie, es geht ihm um Entstehung von Wissenschaft, die Verselbständigung von Kunst als ein erweitertes Verständnis der Moderne."

    Max Weber kam zu dem Schluss, dass das "europäisch-amerikanische Gesellschafts- und Wirtschaftsleben" durch und durch "rationalisiert" sei. Wissenschaft und Technik hätten die Welt "entzaubert". Deshalb sei sie berechenbar und beherrschbar geworden. Dieser "okzidentale Rationalismus" ist für ihn die zentrale Voraussetzung für alle Entwicklungen der Moderne. Kaesler: "Es geht darum, dass in der Wissenschaft, im Recht, in der Musik, in der Staatsverwaltung, in der Politik zunehmend mehr Prozesse der Rationalisierung und der Bürokratisierung zu verzeichnen sind. Und etwas, was in Westeuropa, Nordeuropa anfing, nach seiner Vision verbreitet sich das transatlantisch und von dort über den ganzen Globus."
    Rationalisierung des eigenen Lebens
    Die "Rationalisierung" seines eigenen Lebens ist Max Weber allerdings nie gelungen. Zwar promovierte er früh mit 25 Jahren. Drei Jahre später folgten die Habilitation, dann Professuren in Berlin, Freiburg und Heidelberg. Doch liegt etwas Manisches über seinem Leben. Er arbeitet exzessiv. Doch alles, was er zu Papier bringt, bleibt unausgereift. Er isst und trinkt unmäßig: in einem Brief seiner Frau Marianne ist von 40 Butterbroten, 20 Bieren und sechs nachgeschobenen Pfannkuchen die Rede. Zudem ist er Zeit seines Lebens nervös, unbeherrscht und extrem reizbar. Im Frühjahr 1898 spitzen sich seine psychischen Probleme zu. Noch vor Semesterende beantragt er Urlaub, um zur Kur in eine Nervenheilanstalt am Bodensee zu gehen. Es folgen Zeiten des unablässigen Unterwegsseins.

    Kaube nennt ihn in seiner Biografie einen "völlig Erschöpften mit exzessiver Lebensführung": Er hatte ja einen Nervenzusammenbruch fast drei Jahre lang, was ihn komplett aus allen wissenschaftlichen und sonstigen Aktivitäten herausnahm. Er war in Nervenkliniken, es werden dann Kuraufenthalte daraus. Es war ein unabsehbar langer Ferienaufenthalt in Italien und dann bessert sich unter der exzessiven Einnahme von Medikamenten das allmählich, die Schlaflosigkeit, die Neurasthenie."
    Das Leben eines Privatgelehrten
    1903 gibt Max Weber seine Professur auf und wird erst 1918 wieder einen Lehrstuhl innehaben. In Heidelberg lebt er seither das Leben eines Privatgelehrten ohne Lehrverpflichtungen. Er nimmt aber rege am akademischen Leben teil - über Aufsätze, über Gespräche, über Gutachten. Zunehmend beschäftigt er sich mit der Frage, wie es einem Staat gelingt, seine Ordnung durchzusetzen. Wieso halten Menschen den Herrschaftsanspruch eines Staates für "legitim" und unterwerfen sich dessen Gesetzen? In vormodernen Gesellschaften gehorchte der Untertan dem König, weil das als die natürliche Ordnung galt. In modernen Gesellschaften überwiegt dagegen die Herrschaft des Gesetzes. Man gehorcht einem für alle verbindlichen, unpersönlichen System von Regeln, das von einem Verwaltungsstab geführt wird. Es herrscht die Bürokratie, die alle Individualität tötet. Sie arbeitet geradezu kafkaesk. Wie eine Maschine: sachlich, präzise und seelenlos.
    Schwinn: "Er spricht auch vom Gehäuse der Hörigkeit, das uns dann alle einzwängt. Es ist so, dass er das einfach überzogen hat, diese These der Bürokratisierung. Keine Frage haben wir heute Bürokratisierungstendenzen. Aber das Bild eines Gehäuses der Hörigkeit ist zu korrigieren." Manchmal, so Max Weber, versuchen die Menschen, diesem Gehäuse der Hörigkeit zu entkommen. Gerade in Krisenzeiten kann dann das "Charisma" einer Person Autorität und Befehlsgewalt verleihen. Die klingt beängstigend, denkt man an charismatische Gestalten wie Hitler oder Stalin. Ist aber heute noch aktuell, wie Soziologe Kaesler meint: "Obama wurde in seiner ersten Amtszeit als ein solcher charismatischer Führer wahrgenommen, sogar in Deutschland. Die Frage in Deutschland war, warum haben wir keinen Obama, sondern nur eine Angela Merkel? Und dann tauchte auf einmal die Lichtgestalt des Baron zu Guttenberg auf und wurde durchaus belegt mit Hoffnungen auf einen neuen charismatischen Politikertyp. Also, man sollte bei charismatischer Herrschaft nicht nur an die Schreckensvisionen denken."
    Deutungshoheit der Kirche und der Tradition
    Es gibt aber noch ein weiteres Charakteristikum der Moderne, das Max Weber beschreibt. Kirche und Tradition haben nicht länger die Deutungshoheit über richtig und falsch oder gut und böse. Vielmehr konkurrieren unterschiedlichste "Wertideen" miteinander. Der Wissenschaft geht es um Wahrheit, der Kunst um Schönheit, der Wirtschaft um Rentabilität, der Ethik um Gerechtigkeit, der Erotik um Leidenschaft. Doch keiner dieser Werte kann Vorrang vor den anderen beanspruchen. Das religiöse Postulat der Brüderlichkeit zum Beispiel prallt an dem wirtschaftlichen Ideal der Profitmaximierung ab. Wir haben heute gelernt, mit einem solchen Wertepluralismus umzugehen. In der Zeit Max Webers war dieser "Polytheismus der Werte" eher ein Skandal.
    Schwinn: "Die Webersche Idee ist, dass wir in der Moderne im Bezugsfeld vieler Ordnungen, vieler Wertsphären leben und es irgendwie balancieren müssen und es auch aushalten müssen, dass es da Spannungen gibt . Wie wir Arbeit, Privatleben, Kunstinteressen, erotische Aspekte, politische Interessen balancieren, das ist hochspannungsreich. An dieser Grundsignatur hat sich bis heute nichts verändert." Hochspannungsreich wurde allerdings die Wertsphäre der Sexualität auch für das Ehepaar Max und Marianne Weber. Das frühe 20. Jahrhundert war die Zeit der Psychoanalyse, die Zeit, in der das Thema Sexualität in Kunst und Kultur allmählich gesellschaftsfähig wurde. Und in der die Scheidungszahlen im professoralen Heidelberg deutlich anstiegen. Das Ehepaar Weber ist beeindruckt vom libertären Zeitgeist. Gemeinsam kommen beide zu dem Schluss, dass "die verantwortungslose Erotik des Sinnenglücks wertvolle Lebenskräfte zu steigern vermöchte". Da dieses "Sinnenglück" in ihrer Ehe allerdings niemals stattgefunden hat, ist es nur zwangsläufig, es außerehelich zu suchen. Max Weber entdeckt die Leidenschaft.
    Max Weber entdeckt die Leidenschaft
    "Es bahnt sich eine Affäre, eine Liebe an, zu Else von Richthofen. Eine Frau, der damals ganz Heidelberg zu Füßen liegt. Eine offenkundig hinreißende Erscheinung, intelligent, erotisch attraktiv und unglaublich frei. Sie ist in seiner Nähe, akademisch, sie sind befreundet, auch mit der Gattin. Und dann wird sie die Geliebte seines Bruders. Und trotzdem hört das nicht auf, dass Weber diese Frau verehrt, nachdem er zuvor eine andere Geliebte hat, eine Schweizer Pianistin. Dies alles mit Duldung durch die Frau, die nichts dagegen hat", sagt Kaube.

    1920 stirbt Max Weber an einer Lungenentzündung, erst 56jährig. Ein früher Tod, der Preis vielleicht für sein exzessives und konfliktreiches Leben. Und erst nach seinem Tod fügen sich seine unzähligen Schriften, Aufsätze, unvollendeten Manuskripte zu einem Werk zusammen. Kaesler: "Marianne Weber unmittelbar nach seinem Tod setzt sich an seinen Schreibtisch, der nun ihr Altar geworden ist. Und dort baut sie aus dem, was da liegt, ein Werk. Und die Bücher, über die wir heute reden, sind das Werk Marianne Webers. Wir müssen uns auf die Fassungen verlassen, die Marianne Weber aus dem hinterlassenen Werk gestaltet hat."
    Übergang in die Moderne
    Max Weber ist heute ein Klassiker. Er gehört zu den meist zitierten Wissenschaftlern der Soziologie, bis heute wächst die Sekundärliteratur über ihn ständig an. Unverkennbar ist sein Werk ein Werk des Übergangs in die Moderne, verströmt den Kulturpessimismus der Jahrhundertwende. Ist die Zeit an seinem Denken vorbeigezogen, das allenfalls noch historisch interessant ist? Oder kann man an seine Analysen anknüpfen, wohl wissend, dass sie in unserer fortgeschrittenen Moderne weiter gedacht werden müssen?

    Es gibt das bekannte Bild, dass das weiterziehende Licht der Kulturprobleme den Wissenschaftler auch zwingen würde, über den Standard seiner Begriffe nachzudenken und gegebenenfalls neue Begriffe und neue Modelle zu entwickeln. Aber es ist so, dass die Weberschen Begriffe noch nicht entwertet sind. Wir stehen nach wie vor in der Epoche, die wir Moderne nennen. Aber wir stehen im 21. Jhd., die Begriffe müssen differenziert, weiterentwickelt und an der einen oder anderen Stelle auch modifiziert werden.