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Schwerpunktthema: Talkshow, Tatort und die politische Kultur

Unser Geschichtsbild und unsere politische Bildung werden heute nicht nur über Bücher, sondern vermehrt über Medien und im Unterhaltungsformat angesprochen. Medienwissenschaftler haben in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung sich daran gemacht, das Verhältnis von Unterhaltung und politischer Aufklärung zu untersuchen.

Von Peter Leusch | 08.11.2012
    "Berlin. Auf einer historischen Sondersitzung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hat der Generalsekretär des ZKs der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR-Genosse Erich Honecker in einer großen humanitären Geste der Einreise der seit zwei Monaten in den DDR-Botschaften Prag und Budapest Zuflucht suchenden BRD-Bürgern zugestimmt."

    Im Film "Good bye, Lenin" gaukelt der 21-jährige Alex Kerner mit inszenierter Nachrichtensendung seiner aus dem Koma erwachten Mutter vor, dass die DDR weiterexistiert. Um die angegriffene Gesundheit der überzeugten Sozialistin zu schonen, stellt er die historischen Ereignisse des Mauerfalls auf den Kopf.

    "- Nachrichtensprecher: "Arbeitslosigkeit, mangelnde Zukunftsaussichten und die zunehmenden Wahlerfolge der neonazistischen Republikaner haben die deutlich verunsicherten BRD-Bürger in den letzten Monaten dazu bewogen, dem Kapitalismus den Rücken zu kehren und einen Neuanfang im Arbeiter- und Bauernstaat zu versuchen."
    - innerer Monolog: "Irgendwie muss ich zugeben, dass sich mein Spiel verselbständigte, die DDR, die ich für meine Mutter schuf, wurde immer mehr die DDR, die ich mir vielleicht gewünscht hätte.""Good Bye, Lenin" aus dem Jahr 2003 ist eine Komödie mit Tiefgang. Gerade weil die Story die Ereignisse der Wiedervereinigung buchstäblich verdreht und verrückt, stiftet der Film auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken an – über die Zeit der Wende, über das Scheitern des sozialistischen Experiments, über die deutsch-deutschen Verhältnisse. In den erfundenen Stoff der Erzählung ist immer wieder dokumentarisches Videomaterial eingestreut, sodass Fiktion und Fakten sich gegenseitig kommentieren. Historisches Bewusstsein und politische Bildung, so der Marburger Medienwissenschaftler Malte Hagener, werden nicht nur über Geschichtsbücher, sondern auch über Filme vermittelt.

    ""Ich denke, dass es gerade in Deutschland immer wieder Filme gibt, die sehr wichtig sind für die politische Bildung. Das müssen nicht immer deutsche Filme sein. Man könnte, wenn man auch aufs Fernsehen ausgreift, auf die Fernsehserie Holocaust, die Ende der 70er-Jahre in Deutschland ausgestrahlt wurde, verweisen, durch die ein breiteres Bewusstsein über den Holocaust geschaffen wurde. In gewisser Weise wurde das fortgesetzt durch Schindlers Liste, der in den 90er-Jahren dieses Thema aufgriff. Und nicht umsonst sind viele der deutschen Filme, die im Ausland Beachtung finden, solche, die sich mit Themen der deutschen Geschichte auseinandersetzen, sei es die Zeit des Nationalsozialismus und die Zeit der DDR wie in "Das Leben der anderen"."

    Film und Fernsehen, die gesamte Medienkultur hat sich seit Mitte der 80er-Jahre, seit die privaten TV-Sender hinzukamen, immer stärker unterhaltungsorientiert entwickelt, erklärt der Politik- und Medienwissenschaftler Andreas Dörner von der Universität Marburg.

    "Die Forschung spricht vom sogenannten Unterhaltungsslalom der Zuschauer. Die umfahren Informationsangebote und finden sich gerne bei der Unterhaltung ein. Das bedeutet aber, dass auch über Politik in den Medien, insbesondere im Fernsehen, nur erfolgreich und reichweitenstark gesprochen werden kann, wenn es unterhaltend gerahmt wird."
    Hervorragendes Beispiel für diese Kombination aus spannender Unterhaltung und gesellschaftlich-politischer Thematik ist die Krimiserie Tatort. Seit 40 Jahren wird der Tatort am Sonntagabend ausgestrahlt, eine Institution in der schnelllebigen Medienwelt. Mit Zuschauerzahlen bis zu elf Millionen erreicht der Tatort Einschaltquoten wie sonst nur ein Fußballländerspiel. Andreas Dörner hat die Erfolgsformel von Unterhaltung plus Politik genauer untersucht.

    "Der Krimi lädt den Zuschauer dazu ein, sich in den Unterhaltungsmodus zu begeben, sich in den Spannungsbogen einholen zu lassen, und sozusagen en passant passiert es dann, dass man mit bestimmten Problematiken, die gesellschaftlich wichtig sind, konfrontiert wird. Zuletzt ein Tatort zum Thema Afghanistan-Heimkehrer. Das ist ein Thema, das kann man sehr abstrakt behandeln. Aber wenn es als Schicksal eines Menschen, der traumatisiert ist, erzählt wird, wenn es mit der Frage, wie ist unsere Ordnung durch ein Verbrechen bedroht und wie kann sie wieder hergestellt werden, verbunden werden kann, dann ist das für die Zuschauer spannend und dann sind sie auch ansprechbar für solche gesellschaftlichen und politischen Probleme."

    Die ältere Medienwissenschaft - in der Nachfolge der Frankfurter Schule, und noch ganz im Banne von Adornos vernichtendem Urteil über die Kulturindustrie, die den Menschen verdummt - hat die zunehmende Unterhaltungsorientierung gegeißelt. Dagegen reagiert die jüngere Medienwissenschaft gelassener, prüft, wie es um das Verhältnis von medialer Unterhaltung und Bildung im Einzelnen bestellt ist. Und kommt zu dem Ergebnis: Unterhaltungsformate vermögen durchaus ernste Themen zu transportieren. Die Good-Feel-Stimmung der Unterhaltung, so Andreas Dörner, lockert, die Spannung weckt Aufmerksamkeit, sodass sich Menschen gesellschaftlichen und politischen Problemen gegenüber öffnen.

    Allerdings stellt sich die Frage, was passiert, wenn der Film zu Ende ist. Überdauert die Wirkung den Kinogang oder Fernsehabend, anders gesagt - gibt es nachhaltige Effekte? Das war eine der Fragestellungen, die die Marburger Medienwissenschaftlerin Angela Krewani veranlasst hat, einmal die Spuren des Medienkonsums im Internet zu verfolgen. Und zwar hat sie konkret die Fankulturen im Netz untersucht, die sich um bestimmte Sendungen herum gebildet haben, zum Beispiel zur ARD-Serie "Die Lindenstraße".

    "Die Lindenstraße hat eine Homepage. Die ARD selber hat das Portal der Lindenstraße ausgestaltet, in dem man jetzt einzelne Sendungen nachsehen kann, also es funktioniert auch als Archiv für die Lindenstraße. Sie können die Sendungen anklicken und die einzelnen Folgen noch mal anschauen auf dem Rechner."

    Die Lindenstraße gibt es seit über 20 Jahren, ein Dauerbrenner in der Medienlandschaft wie der Tatort. Vergleichbar auch, was die im Schnitt ältere Fangemeinde angeht. Die Lindenstraße grenzt sich von den Soap Operas amerikanischen Zuschnitts ab und erhebt einen sozialkritischen Anspruch. Die Drehbücher müssen Raum lassen für aktuelle Bezüge. Angela Krewani:

    "Das ist das Interessante an der Lindenstraße: Tagesaktuelle Themen werden diskutiert, sei es die Behandlung in Krankenhäusern, Patientenrechte, Homosexualität, Abtreibung. Alle möglichen Probleme werden in der Lindenstraße narrativ in der Fernsehserie umgesetzt und können dann im Einzelnen noch mal diskutiert werden über die Web-2.0.-Funktionen vonseiten der Zuschauer. Ich habe mir die Kommentare zu jeweiligen Sendungen angeschaut und war erstaunt, wie spezifisch und wie differenziert die Probleme in der Lindenstraße vonseiten der Zuschauer da weiter nachvollzogen und auch diskutiert werden."

    Das Unterhaltungsformat transportiert erfolgreich politische und gesellschaftliche Themen, die zur Alltagswirklichkeit gehörten, so Angela Krewani, während abstraktere und ferne Probleme wie etwa die Finanzkrise Griechenlands nicht von den Zuschauern aufgegriffen werden. Inzwischen präsentiert sich die Lindenstraße auch auf Facebook, hier wendet sie sich an ein jüngeres Publikum, das medienkompetent mit den Inhalten spielt, das Mittel der Ironie einsetzt, wogegen das ARD-Portal die weniger Weberfahrenen stärker an die Hand nimmt und dabei in manchem an die klassische Zuschauerpost erinnert.

    Angela Krewani hat die Webfankultur der Lindenstraße mit derjenigen der ARD-Telenovela "Sturm der Liebe" verglichen, die am Nachmittag für ein jugendliches Publikum ausgestrahlt wird.

    "Der enge Rahmen, den die Telenovela vorgibt, der wird in der Homepage eingehalten, der wird auch in dem Diskussionsforum des Portals eingehalten. Es hat überhaupt keine tagespolitischen Dimensionen mehr, sondern es geht da nur noch um die engeren Probleme der Schauspielerinnen, um das Auftreten der Schauspielerin in der Serie. Wie komme ich an die Haarfarbe? Welche Diät halte ich ein, um diese Figur zu bekommen? Und es wird natürlich auch Fiktion kommentiert, es wird über die Figuren diskutiert, über das Verhalten der Figuren, aber der große politische, sozialkritische Bezug der Lindenstraße ist in der Telenovela "Sturm der Liebe" nicht vorhanden."

    Unterhaltung ist nicht gleich Unterhaltung. Ob und wie darin politisch-gesellschaftliche Themen auftauchen, muss im Einzelfall bestimmt werden. Das gilt nicht nur für den fiktionalen Bereich der Filme und Serien, sondern auch für die Welt der Talkshows. Die Soziologin Ludgera Vogt von der Universität Wuppertal, die zusammen mit Andreas Dörner den Sammelband herausgibt, hat die deutsche Talkkultur untersucht.

    "Erstmal ist es ein Riesenboom, die Talkshowwelt ist sehr präsent, allein in den ersten Programmen, also ohne Dritte und Comedy-Formate, haben wir zur Zeit mindestens fünf, die wir nennen können: Will, Maischberger, Plasberg, Beckmann und Jauch. Und in der nächsten Woche startet Stefan Raab mit einem ganz neuen hybriden Mix zwischen Talkshow und Gameshow, wo er auch Politiker einlädt, was im Moment schon breit diskutiert wird."

    Ludgera Vogt unterscheidet Debattenshows, in der primär politische, soziale und andere Fragen von öffentlichem Interesse verhandelt werden, von sogenannten Personalityshows, wo Prominente, oft Politiker sich selbst präsentieren, und dabei – so hofft man – möglichst authentisch auch über Privates sprechen.

    Was auf dieser medialen Bühne möglich ist, wie kritisch oder unkritisch es zugehen kann, das hat Ludgera Vogt am Bespiel verschiedener Talkshowauftritte von Ursula von der Leyen untersucht.

    "Von der Leyen habe ich verglichen, einmal bei Beckmann und einmal im Dritten, das war Tietjen und Dibaba. Einmal wurde ihr quasi eine Bühne bereitet bei Tietjen, wo sie alles bringen konnte, selbst in Redebeiträgen der anderen sich zu platzieren. Da war die Super-Nanny noch da, Katharina Saalfrank. Also von der Leyen hat eine perfekte Bühne zur Inszenierung ohne jede Kritik bekommen. Bei Beckmann war die Situation anders, da wurde sie auseinandergenommen. Der hat sich irgendwann vorgenommen, die Leute stärker ranzunehmen. Man kann auch einem Politiker in unterschiedlichen Formaten Unterschiedliches bieten. Am Ende wurde es bei Beckmann wieder versöhnlich, weil sie von der Situation erzählen konnte, wo sie zu ihrem Vater gezogen ist, der dement war. Also es handelt sich in diesem Bereich Personality auch um riskante Bühnen, weil ihnen etwas passieren kann, womit sie so nicht rechnen."

    Es ist also durchaus abhängig von der jeweiligen Talkshow, von Moderator, Publikum und den anderen Gesprächspartnern, ob ein Politiker sich ungestört in Selbstdarstellung und Eigenwerbung ergehen kann. Oder ob ihm auch unangenehme Fragen gestellt werden, ob das Gespräch plötzlich - in einer Live-Sendung - eine unerwartete Wendung nimmt. Natürlich wissen gerade Politiker um dieses Risiko, versuchen es zu kontrollieren, indem sie sich mitunter sogar in die Regie einmischen, zum Beispiel bei der Gästeliste. Ludgera Vogt:

    "Was im Extremfall zur Folge hat, dass mein Mitherausgeber einmal kurzfristig wieder ausgeladen wurde, weil zwei Spitzenpolitiker sich nicht von einem Politikwissenschaftler analysieren lassen wollten. Und der Zug nach Berlin war schon gebucht, das heißt, dass selbst Politiker manch kritischen Blick von uns Soziologen und Politikwissenschaftlern gerne vermeiden."

    In einer Mediengesellschaft lassen sich die Vorstellungen von Politik und das Bild von Politikern nicht mehr abstrahieren von der Weise, wie sie im Leitmedium Fernsehen, im Rundfunk, aber auch in den Zeitungen dargestellt werden. Die Boulevardblätter, allen voran die Bild-Zeitung äußern sich plakativ zu Politik ebenso wie zu Sex, Crime, Geld und Promiklatsch. Der Boulevard ist gleichsam seichte Unterhaltung im Printformat, politisch ist er auch, aber anders, als die Medienkritiker früher meinten. Andreas Dörner:

    "Die Forschung ist sich heute relativ einig, dass man diesem klassischen Feindbild des Boulevards, wo sozusagen Bild-Zeitung und ähnliche Produkte als ideologische Mittel in der Hand des Großkapitals einzig und allein verhandelt wurden, dass man davon abgerückt ist und ein bisschen differenzierter zu sehen versucht. Die sind gar nicht unbedingt so konservativ, diese Zeitungen, sondern sie sind primär populistisch. Das heißt, das Hauptziel besteht nicht in der politischen Meinungsbildung, sondern in der Steigerung der Auflage. Und wenn man die Auflage steigern will, dann muss man Stimmungen in der Bevölkerung auffangen, sich auf die Welle draufsetzen und möglichst gut darauf surfen."

    Deshalb ist das Medium Boulevard für Politiker ein zweischneidiges Schwert. Der schnelle Aufstieg in der öffentlichen Gunst wird mit dem hohen Risiko eines noch schnelleren Absturzes erkauft:

    "Wenn man vom Boulevard geliebt wird, wie einstmals auch Christian Wulff, dann kann man Sympathiewerte bei der Bevölkerung dadurch bekommen, man kann wie das Ehepaar Guttenberg gehypt werden. Sobald aber die Stimmung umschlägt, kann sich die ganze Aggressivität, die der Boulevard auch hat, gegen den Politiker richten. Christian Wulff hat das sehr extrem erfahren müssen, andere Politiker erfahren es auch immer wieder. Einerseits ist Populismus natürlich auch demokratisch, denn er fragt, was ist die Stimme des Volkes. Auf der anderen Seite ist es oft eine geradezu unverantwortliche Stimmungsmache, die ihre Effekte aus starken Vereinfachungen zieht. Und die eine abwägende, differenzierte Sicht der Dinge verhindert. Und das ist die große Gefahr, die vom Boulevard ausgeht."

    Im Durchgang quer durch die verschiedenen Medien, vom Noch-Leitmedium Fernsehen zum kommenden Leitmedium Internet mit seinen interaktiven Portalen und Foren, vom Kinofilm bis hin zum Boulevardblatt haben die Medienwissenschaftler in ihrem Sammelband das Verhältnis von Unterhaltung und politischer Bildung beleuchtet. Deutlich wird: Die alte Wasserscheide zwischen E und U, zwischen ernster und Unterhaltungskultur existiert in dieser Deutlichkeit nicht mehr. Unterhaltung kann sehr wohl einer politischen Kultur dienen. Und zur Schriftkultur, zum Buch als klassischem Träger von Aufklärung sind neue Medien hinzugekommen. Malte Hagener:

    "Wir müssen einfach verstehen, dass die Medien Teil der Gesellschaft sind, und dass sie möglicherweise auch Risiken und Gefahren bergen, aber vor allem dass sie auch viele Chancen und Möglichkeiten bergen. Und ich sehe das sehr deutlich bei den Studierenden, wie selbstverständlich da mit Bildern und Tönen umgegangen wird, wie auch selber montiert wird, also dass die Art auch kreativ mit den Dingen umzugehen, sich das Ganze anzueignen und damit etwas Eigenes zu schaffen, dass das ausgeprägter ist, als das noch vor zehn oder 15 Jahren war. Und insofern denke ich, dass wir noch sehr viel auf die Bildungspotenziale, die in den Medien sind, eingehen müssen. Ich glaube nicht, dass der Text oder die Schrift der einzige Weg zur Erkenntnis ist, sondern dass es genauso möglich ist über mediale Inhalte aller Art."

    Buchinfos:
    Andreas Dörner, Ludgera Vogt (Hrsg.), Schriftenreihe (Bd. 1259): "Unterhaltungsrepublik Deutschland. Medien. Politik und Entertainment", Bundeszentrale für politische Bildung