Freitag, 19. April 2024

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Schwerpunktthema: " Und wenn sie nicht gestorben sind ..."

Die "Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm" sind eines der weltweit bekanntesten Bücher der deutschen Kulturgeschichte. Mit der Erstausgabe 1812 legten die Kasseler Sprachforscher nicht nur den Grundstein für die Germanistik, sondern auch für eine interdisziplinäre und internationale Märchenforschung.

Ein Feature von Andrea und Justin Westhoff | 20.12.2012
    "Ich hab euch ein Märchen mitgebracht, das vielleicht der eine oder andere kennt."

    Märchenstunde mit Marlies Ludwig: Die sieben- bis achtjährigen Kinder sitzen oder liegen auf bunten Kissen am Boden.

    Marlies Ludwig: "Und das beginnt…"
    Kinder: "Es war einmal"
    Marlies Ludwig: "Es war einmal…"

    Die Erzählerin trägt einen langen, lilafarbenen Brokatmantel mit weiten Ärmeln und geht zwischen den kleinen Zuhörern herum. Manche haben sich zusammengerollt, viele schauen gebannt – langsam wird es ruhig.

    Marlies Ludwig: "... mitten im Winter, die Schneeflocken fielen."
    Kinder: "Ahhh – pscht."
    Marlies Ludwig: "Da saß eine Königin am Fenster von schwarzem Ebenholz und nähte."
    Kinder: "Schneewittchen. Frau Holle? Schneewittchen?"
    Marlies Ludwig: "Das Schneewittchen!"
    Kinder: "Jaaah!"

    Märchen sind eine Reise in eine andere Welt, fremd, zugleich aber vertraut, ein Stück Kindheit.

    Kristin Wardetzky: "Die Zeit steht still und das Universum öffnet sich (lacht) und die Ewigkeit bricht an, und in dieser Ewigkeit ist alles möglich, und wir sind als Erzähler und als Zuhörer gemeinsam verbunden in der Kreation einer eigenen Welt."

    In diesem Fantasiereich tummelten sich auch Generationen von Forschern verschiedener Disziplinen. Wer dieses Feld wissenschaftlich beackern will, muss unterscheiden zwischen zunächst nur mündlich erzählten "Volksmärchen" sowie der Literaturgattung "Kunstmärchen", erdacht und aufgeschrieben von so berühmten Autoren wie Hans-Christian Andersen oder Wilhelm Hauff.

    "Die Volksmärchen hatten sicherlich irgendwann auch einen, der sie sich ausgedacht hat, einen Autor, aber sie wurden nicht aufgeschrieben, sie wurden immer weiter erzählt."

    Erklärt Silke Fischer, die Direktorin von "Märchenland", dem Deutschen Zentrum für Märchenkultur.

    "Vom Großvater ans Enkelkind, das Enkelkind wieder an seine Geschwister und so weiter und so breiter, und so ist ein Märchenschatz entstanden, wo man nicht mehr weiß, wer der Urheber war."

    Die orientalischen "Geschichten aus 1001 Nacht" gehören zu diesem Volkspoesie-Schatz, in unserem Kulturraum vor allem: Grimms Märchen.

    "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien."

    Volksmärchen gehörten ursprünglich zur Kultur jener, die nicht lesen und schreiben konnten. Mit der Aufklärung in Europa entwickelte sich das, was man "Hochkultur" nennt. Fortan wurden Volksmärchen als "Vergnügen des Pöbels" angesehen.

    Alltagssprachlich ist bis heute eine gewisse Ambivalenz spürbar: "Märchenhaft" bedeutet "wunderbar", "unglaublich schön". Aber wenn jemand "ein Märchen erzählt", dann soll das heißen, dass er flunkert oder übertreibt – oder eben infantil und blauäugig ist wie "das Volk".

    "Märchen" ist die Verkleinerungsform des mittelhochdeutschen "Märe", es bedeutet zunächst "Kunde", im späten Mittelalter dann kleine "Erzählung" von wundersamen Begebenheiten. Die Gebrüder Grimm schreiben in der Vorrede zum ersten Band der "Kinder- und Hausmärchen":

    "Wie in den Mythen, die von der goldnen Zeit reden, ist die ganze Natur belebt, Sonne, Mond und Sterne sind zugänglich, geben Geschenke, oder lassen sich wohl gar in Kleider weben. In den Bergen arbeiten die Zwerge nach dem Metall, in dem Wasser schlafen die Nixen, die Vögel, Tauben sind die geliebtesten und hülfreichsten. Pflanzen, Steine reden und wissen ihr Mitgefühl auszudrücken."

    Und dann gibt's jede Menge Zauberer und Hexen, Feen, böse Geister, Teufel, Engel, Riesen, sowie Drachen und anderes Getier. Aber: Die Märchenwirklichkeit ist "eindimensional": Realität und Erfindung sind nicht zu trennen, Diesseits und Jenseits gehen wie selbstverständlich ineinander über. Professor Heinz Rölleke, Literaturwissenschaftler aus Wuppertal und einer der bekanntesten Märchenforscher Deutschlands:

    "Dieses Wunder muss ganz selbstverständlich sein, also es wundert sich keiner über das Wunder. Das Märchenpersonal nicht, die gehen da überhaupt nicht drauf ein, dass das etwas anderes ist als die Realität, der Märchenerzähler darf sich nicht wundern, sonst verdirbt er die Stimmung, und der Märchenhörer, der muss auch, solange er im Bereich des 'Es war einmal...' ist, an Wunder glauben, sonst braucht er nicht mehr zuzuhören."

    "Und wie sie so klagte, rief ihr jemand zu: 'Was hast du vor, Königstochter, du schreist ja, dass sich ein Stein erbarmen möchte.' Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken hässlichen Kopf aus dem Wasser streckte. 'Ach, du bist's, alter Wasserpatscher', sagte sie."

    Silke Fischer: "In afrikanischen Völkern ist es so, wenn jemand ein Märchen erzählt und dann lachen muss, dann weiß man, dass es gelogen ist. Wenn er aber ernst bleibt, dann war es die Wahrheit."

    Volksmärchen haben eine bestimmte Rhythmik, das hilft enorm, um sie sich über Generationen merken und frei weiter erzählen zu können. Silke Fischer vom Deutschen Zentrum für Märchenkultur in Berlin:

    "Also 'man hat es gewonnen, dann ist es wieder zerronnen und dann muss man es wieder finden' - 'Ein König hatte drei Töchter: die erste war schon schön, die zweite war sehr schön, aber die jüngste war die allerschönste.' - Zuerst kommt man an ein kupfernes Schloss, dann an ein silbernes und zum Schluss an ein goldenes. Also diese Dreischritte sind eigentlich typisch für diese Zaubermärchen, die Volksmärchen."

    Der Wiedererkennbarkeit dienen Formeln wie "Es war einmal" und Reime, oft von Tieren und übernatürlichen Wesen aufgesagt. Und selbstverständlich Zaubersprüche.

    "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

    Es waren einmal... - zwei Märchensammler

    Es sind Wilhelm und Jacob Grimm, geboren 1785 und 1786 in Hanau, die Märchen erstmals ernst nehmen und zum Forschungsobjekt machen. Sie selbst haben sich schon "Die Brüder Grimm" genannt. Carola Pohlmann, Kuratorin der Ausstellung "Rotkäppchen kommt aus Berlin" zum 200. Grimm-Jubiläum, beschreibt das Verhältnis:

    "Jakob und Wilhelm Grimm waren tatsächlich sehr eng miteinander verbunden, sie hatten ja auch andere Geschwister, aber die beiden, die ja nur ein Jahr auseinander waren, hatten eine ganz intensive Lebens- und Arbeitsbeziehung, und das ist umso erstaunlicher, als Wilhelm Grimm ja auch verheiratet war und drei Kinder hatte, aber Jakob Grimm hat bei ihm gelebt, und die Kinder von Wilhelm Grimm nannten ihn auch A-Papa, also so eine Art zweiter Vater, er war in die Familie seines Bruders integriert, und am deutlichsten kann man es auch daran erkennen, dass Jakob Grimm einen Nachruf auf seinen verstorbenen Bruder geschrieben hat, Wilhelm Grimm ist 1859 gestorben, und die ersten anrührenden Sätze lauten: "Ich soll hier vom Bruder reden, den nun schon ein halbes Jahr lang meine Augen nicht mehr erblicken, der doch nachts im Traum, ohne alle Ahnung seines Abscheidens, immer noch neben mir ist."

    Ihre letzte Ruhestätte haben die Brüder tatsächlich nebeneinander gefunden, und zwar in Berlin. Dort wohnten Jacob und Wilhelm die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens. 1840 hatte sie auf Vermittlung von Bettina von Arnim sowie Alexander von Humboldt der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. zu Universitätsprofessoren und Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften berufen. Aber als Märchensammler hatten sich die Grimms schon viel früher in ihrer hessischen Heimat betätigt.

    Carola Pohlmann: "Die Brüder Grimm sind ja durch Savigny und Clemens Brentano mit dem Sammeln von Quellen in Kontakt gekommen, Savigny hat die Brüder Grimm, die seine Studenten waren, dazu angehalten, sich mit historischen Quellen zu beschäftigen, und Clemens Brentano und Achim von Arnim, haben dann die Brüder Grimm dazu ermutigt, Volkstexte zu sammeln, und ungefähr um das Jahr 1812 hatten sie dann eine erkleckliche Sammlung von Texten zusammen, die eben am 20. Dezember 1812 in Berlin erschienen sind.""

    Clemens Brentano und Achim von Arnim waren mehr an Volksliedern interessiert, ihre Sammlung erschien unter dem Titel "Des Knaben Wunderhorn". Die Grimms dagegen faszinierten Märchen. Insgesamt 240 haben sie zusammengetragen, und es sind nicht nur alles "ächt hessische Märchen", wie sie in ihrer ersten Vorrede zum Buch behaupten. Viele lagen bereits schriftlich vor, zum Beispiel als Übersetzungen aus romanischen Märchensammlungen. Aschenputtel in barocker italienischer Version klang da so:

    "Nun wurden wieder die Proben mit dem Pantoffel angestellt, und sobald letzterer sich Lukretias Fuß näherte, als er gleich dem Eisen, welches auf den Magnet losfährt, von selbst an den Fuß dieses Herzblattes Amors fuhr."

    Gianbattista Basile, napolitanischer Höfling, gilt als Europas erster großer Märchenerzähler, sein Hauptwerk "Il Pentamerone" entstand zwischen 1634 und -36. Das "Fünf-Tage-Werk" enthält Versionen von "Schneewittchen", "Dornröschen" und "Rapunzel", vom "Gestiefelten Kater" und vom "Froschkönig".

    In Frankreich kursierten zur selben Zeit bereits orientalische Märchensammlungen, am berühmtesten aber waren die "Contes de ma mère l'oye, zu deutsch: "Märchen meiner Mutter Gans" von Charles Perrault. Sie sind 1697 entstanden und enthielten ebenfalls Versionen von "Aschenputtel", "Der gestiefelte Kater" oder "Dornröschen". Perrault schließt fast immer mit der Moral von der Geschicht, wie etwa bei "Rotkäppchen":

    "Kinder, insbesondere attraktive, wohl erzogene, junge Damen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie in diesem Fall sehr wohl die Mahlzeit für einen Wolf abgeben könnten."

    Die Grimms haben neben den schriftlichen aber vor allem mündlich überlieferte Märchen gesammelt.

    "Einer jener guten Zufälle war es, dass wir aus dem bei Kassel gelegenen Dorfe Niederzwehren eine Bäuerin kennenlernten. Die Frau Viehmännin war noch rüstig und nicht viel über 50 Jahre alt. Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtnis."

    "Der Teufel mit den drei goldenen Haaren", "Die Gänsemagd", "Die kluge Else" – über 30 der Märchen aus der Grimmschen Sammlung gehen auf jene Dorothea Viehmann zurück. Sie hatte als Kind im Wirtshaus ihres Vaters die Geschichten der fahrenden Gesellen, Handwerksleute und Reisenden gehört und verfügte damit über ein schier unerschöpfliches Repertoire an Märchenerzählungen. Das Brauhaus Knallhütte in der Nähe von Kassel gibt es übrigens bis heute. Die Grimms über ihre "Viehmännin":

    "Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab."

    Viele Märchenzuträgerinnen aber stammten nicht aus Bauers- oder Gastwirtsfamilien, sondern waren eher bürgerliche, zum Teil sogar gebildete Frauen. Die Frau des Apothekers Wild in Kassel etwa und auch ihre Töchter Gretchen und Dorothea waren geübte Erzählerinnen. Frau Holle und Tischlein deck dich zum Beispiel stammen von "Dortchen", die passenderweise später Wilhelms Frau wurde.

    Zur gleichen Zeit wie die Grimms trugen auch Andere Märchen zusammen. Die Sammlung der Brüder aber ist weltweit die größte und berühmteste. Holger Ehrhardt, Literaturwissenschaftler, Germanist, seit 2012 Grimm-Stiftungsprofessor an der Uni Kassel:

    "Die Grimms haben es besser verstanden, die Märchen zu inszenieren, erstens Mal als Brüder, das hat so dieses Häusliche, damit hat man eine gewisse Stimmung geschaffen, die Sprache, die den Märchen gegeben wurde, durch die stilistische Bearbeitung Wilhelm Grimms, die viele Elemente aus der Volkssprache aufgenommen haben, das mag zur Popularisierung stark beigetragen habe."

    "Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm: "Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen." Der König sprach zum Müller: "Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt, wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloss, da will ich sie auf die Probe stellen."

    Die Grimms haben sich nach eigenem Bekunden bemüht, die Volksmärchen "auf Treue und Wahrheit" wiederzugeben. Das gilt allerdings nur für den Inhalt, nicht für die Sprache. Schon zu Lebzeiten der Brüder hat es 17 Überarbeitungen gegeben. Daraus ist der ganz eigene "Grimm-Ton" entstanden. Insbesondere Wilhelm hat versucht, die Märchen, wie er sagte, "nachzuempfinden", hat Klang und Formulierungen aus bestimmten Zeiten mit hineingenommen, das Frühhochdeutsche, Luthers Sprache, auch den Volksmund – und das alles neu zusammengemischt.

    Holger Ehrhardt: "Gewisse Formulierungen, die die Grimms aufgrund ihrer Studien der deutschen Sprache und der deutschen Literatur für alt hielten, die wurden von ihnen immer mehr in die Märchen hineingebracht. Wenn man sich die Bearbeitungsgeschichte im Detail anschaut, merkt man, dass auch beispielsweise 1850 noch, in der 6. Auflage der Märchen, Veränderungen vorgenommen werden, die darauf zielen, alte Elemente in die Märchen zu integrieren. Aber das wurde auch von ihnen künstlich in die Märchen hinein gebracht, beispielsweise wenn man sich im Froschkönig anschaut, wie die Pferde geschmückt sind, die dann den Prinzen abholen, und ganz zum Schluss bekommen diese Pferde Straußenfedern auf den Kopf, und man fragt sich, wieso setzt der denen Straußenfedern auf' Und wenn man dann mal nachschaut, sieht man, dass die Straußenfeder schon ein mittelhochdeutscher Schmuck für Pferde war. Das wussten die Brüder Grimm und haben so versucht, die Märchen künstlich alt zu machen."

    Noch weitere charakteristische Veränderungen hat Kristin Wardetzky gefunden, Berliner Professorin für Theaterpädagogik und Erzählkunst:

    "Sie haben den Aspekt der Grausamkeit verstärkt. Zum Beispiel die Geschichte mit Aschenputtel, dass die am Ende zum Schloss reitet mit ihrem Prinzen, die beiden Schwestern neben ihr reiten, kommen die Tauben, setzen sich auf die Schultern der beiden Schwestern und hacken ihnen die Augen aus. Das ist eine spätere Einfügung der Grimms. Oder Akte der Bestrafung, die wurden verstärkt bei den Grimms, also wenn zum Beispiel so eine falsche Braut in ein Fass mit Nägeln ausgeschlagen gesteckt wird und davor werden Rappen gespannt und sie wird durch die Straßen der Stadt gezogen, dann ist das eine spätere Einfügung, aber die Grimms haben das bewusst gemacht, nicht um der Grausamkeit zu frönen, sondern sie waren Rechtshistoriker. Und sie kannten Bestrafungsrituale aus der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Rechtspraxis, und um diese Geschichten tatsächlich authentisch als alte Geschichten deutlich zu machen, haben sie solche Elemente mit hineingenommen, die sie gefunden haben."

    Es waren einmal ... - Die märchenhaften Wurzeln der Germanistik

    "Wir sind fest überzeugt, will man noch jetzt in allen gesegneten Teilen unseres Vaterlandes suchen, es werden auf diesem Wege ungeachtete Schätze sich in ungeglaubte verwandeln und die Wissenschaft von dem Ursprung unserer Poesie gründen helfen."

    Die Brüder Grimm markieren mit ihrer Sammlung nicht nur den Beginn der Märchenforschung und der Volkskunde als Wissenschaft. Sie waren auch Sprachwissenschaftler, haben das "Deutsche Wörterbuch" begonnen, die "Deutsche Grammatik", aber auch Sagen-Sammlungen herausgegeben sowie die "Deutschen Rechtsaltertümer". Jacob und Wilhelm Grimm haben vor allem die deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, die Germanistik, begründet.

    Holger Ehrhardt: "Die Beschäftigung der Grimms mit den Märchen rührt daher, dass sie versucht haben, deutsche Mythen in den Märchen zu entdecken. Sie müssen ja immer vor Augen haben, dass bis zur Romantik der kulturelle Bezugspunkt die klassische griechisch-römische Antike war. Kein Mensch hat im 16. Jahrhundert daran gedacht, ins deutsche Altertum zurückzudenken, das galt als barbarisch, heidnisch, kulturlos, es war überdies nicht verschriftlicht, und so hatte man auch keinen einfachen Zugang dazu, das haben die Grimms alles wieder versucht zu rekonstruieren, und sie versuchen, durch mündlich überlieferte Geschichten ins Altertum vorzudringen."

    Dies hat durchaus mit den damaligen politischen Verhältnissen zu tun: Die Brüder sammelten überlieferte Geschichten in Zeiten großer Umbrüche. Napoleons Herrschaft ging zu Ende, Europa wurde neu geordnet, auch in Deutschland entstanden ein Interesse an der eigenen Geschichte und ein Nationalgefühl. Man kann die Grimms selbst mit Fug und Recht als "national" bezeichnen. Jacob war Abgeordneter der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche; beide Brüder waren Mitglieder der "Göttinger Sieben", jener Professoren, die 1837 gegen die Aufhebung der Verfassung von 1833 durch König Ernst August II. von Hannover protestierten.

    In den Märchen haben die Grimms urdeutsche Mythen gesehen. Und bei der Suche nach ihrem Ursprung waren sie zunächst von der "Wandertheorie" ausgegangen: Demnach stammten die Geschichten aus dem indogermanischen Raum und wären von hier aus in alle Welt verbreitet worden. Grimmforscher Holger Ehrhardt aus Kassel:

    Holger Ehrhardt: "Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat man beispielsweise auch festgestellt, als man sich mit dem altindischen, mit dem sogenannten Sanskrit befasst hat, dass auch in diesen Kulturkreisen, in dieser Sprache, Ähnlichkeiten, Motive mit den Märchen, die in Europa erzählt werden, zu verzeichnen sind. Und so ist man auf diese sogenannte Migrationstheorie gekommen, dass die Märchen gewandert sein müssen mit den Völkern und weitergegeben sein müssen – mündlich."

    Aber es gibt auch eine andere Ursprungstheorie, "Polygenese" genannt.

    Holger Ehrhardt: "Es gibt Beobachtungen, dass es Motive gibt, die in Kulturkreisen auftauchen, die keinen Kulturkontakt mit anderen Kulturen hatten, und somit muss man davon ausgehen, dass gewisse Motive einfach "menschlich" sind, und deswegen hat man diese polygenetischen Theorien, in denen man davon ausgeht, dass Märchen an verschiedenen Punkten der Welt gleichzeitig oder zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind."

    Gerade weil Märchen über Jahrhunderte nicht in Büchern, sondern ausschließlich im Gedächtnis von Menschen aufbewahrt worden waren, ist davon auszugehen, dass nur diejenigen tradiert wurden, die von universellen menschlichen Phänomenen und Problemen handelten, sagt die Pädagogin Kristin Wardetzky aus Berlin, die ihre Habilitation zum Thema Märchen geschrieben hat:

    "Ganz sicher enthalten die Märchen Konfliktkonstellationen, die jeder Mensch, egal in welcher Zeit, egal in welcher gesellschaftlichen Situation, irgendwann einmal durchlebt. Das ist einmal, dass ein Kind sich loslösen muss von den Eltern, auf sich allein gestellt und der Welt mit Mut und Selbstvertrauen entgegen treten muss. Vielen Menschen, egal in welcher Zeit, wird es so gehen, dass sie Geschwister oder Spielgefährten haben, mit denen sie in Rivalität geraten. Dann: wie ist denn das mit der Begegnung mit dem anderen Geschlecht' Also nicht nur mal ein Techtelmechtel zu haben, sondern wirklich in eine wirkliche, den gesamten Menschen erschütternde Beziehung zu geraten, das erzählt ja das Märchen auch."

    Die Grimms jedenfalls haben im Laufe der Beschäftigung mit dem Ursprung der Märchen offenbar dazu gelernt. Während sie alle ihre anderen großen Werke mit dem Attribut "deutsch" im Titel versehen hatten, verzichteten sie bei den Kinder- und Hausmärchen darauf. Die Erklärung dafür findet Kristin Wardetzky in der Gesamtausgabe der Märchen. Neben den zwei Sammelbänden gibt es nämlich einen umfangreichen dritten:

    "Und in diesem Anmerkungsband auf 262 eng beschriebenen Seiten geben sie zu jedem der Märchen internationale Varianten an. Und in diesen Zeugnissen führen sie alles das auf, was ihnen bekannt war, von märchenhaften Motiven, märchenhaften Geschichten von den nordamerikanischen Indianern über Afrika bis in die Mongolei. Und da finden Sie wirklich aus allen Ecken und Ende der Welt, was sie zu ihrer Zeit haben lesen und sich anschauen können. Zum Teil in aller Breite zitiert und in einer äußerst respektvollen Weise kommentiert. Sie haben sich nie, in keiner Weise nationalchauvinistisch darüber erhoben."

    Nichtsdestoweniger haben später die Nazis Jacobs und Wilhelms Märchensammlung begierig aufgenommen, weil sie von der anfänglichen Grimmschen These der Märchen als "urdeutsche Mythen" fasziniert waren. Holger Ehrhardt:

    "Es ist vor allem Heinrich Himmler, der diesen Kult und dieses Ahnenerbe einsetzte und versucht, mit diesen germanischen Mythen seiner SS eine Identität zu verschaffen. Somit hatten die Grimms eine gewisse Bedeutung für die Nationalsozialisten, was die Märchen betrifft, so hat man die auch sehr eigenwillig interpretiert. Man hat versucht, zu sagen: jedes Märchen ist Kampf, beispielsweise beim Rotkäppchen, das ist der Kampf gegen das Böse, also sie sehen, man hat Aspekte aus den Märchen herausgezogen und hat sie missbraucht."

    Das hing den Grimm-Märchen noch lange nach. Heute sind ihre Märchen das meistübersetzte deutschsprachige Werk aller Zeiten. Sie werden überall auf der Welt gelesen und geliebt, sind "internationalisiert", überall "heimisch". Märchenforscher Heinz Rölleke erzählt die nette Geschichte, wie er einmal indonesische Kollegen gebeten hat, ihm ein ureigenes Nationalmärchen zu schicken, und er erhielt einen Text mit folgender Bemerkung:

    "Das ist unser indonesisches Märchen, das mein Großvater schon erzählt, immer auf indonesisch, aber es war Frau Holle, das war ganz klar. Das ist aus einer Übersetzung ins Holländische, die ist schon 1823 – Holland war ja damals Kolonialmacht – in die Lesebücher gekommen, in indonesischen Schulen, und da ist das auf holländisch den Kindern beigebracht worden, und die haben es dann, als sie wieder Kinder hatten, auf Indonesisch weiterzählt – so wandern Grimmsche Märchen durch die ganze Welt."

    Es waren einmal... - Geschichten aus Schenke und Spinnstube

    "Und bald darauf geschah es, dass sie ein Kind gebar, das war so schön, so schwarz wie Ebenholz, so weiß wie' – Schnee – und so rot wie' - Blut. – Blut! Aber bald darauf starb die Königin. Nachdem ein Jahr vergangen war,…"

    Die Erzählkultur hielt sich in Europa noch lange, auch nachdem es die Geschichten in Schriftform gab. Denn große Teile der Bevölkerung konnten nicht lesen. Haben die Brüder Grimm und andere Autoren von Märchensammlungen nun dieses Volkskulturgut gerettet und für nachfolgende Generationen bewahrt' Oder hat das Aufschreiben zugleich den Untergang dieser mündlichen Kultur befördert? Professor Holger Ehrhardt:

    "Die Grimms setzen mit ihrer Sammlung auf einer Stufe ein, als die Verschriftlichung der Kultur schon lange stattgefunden hat. Insofern kann man nicht sagen, sie haben die mündliche Kultur kaputt gemacht. Sie haben, wie sie selbst schreiben, vielleicht das letzte gerettet, was noch zu retten war, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber sie haben eher dazu beigetragen, dass die Märchen bewahrt bleiben."

    "Der Wolf zog die Decke übers halbe Gesicht, und anstatt sie gleich zu fressen wie die Großmutter, sagte der alte Sünder mit verstellter Stimme: 'Mein liebes Rotkäppchen, stelle die Sachen hin, kleide dich aus und lege dich zu mir ins Bett.'"

    So hört sich "Rotkäppchen" noch in der französischen Fassung von Charles Perrault an.

    "Also, die Märchen sind ja auch entgegen allen Annahmen keine Geschichten für Kinder gewesen."

    Erinnert Silke Fischer vom Deutschen Zentrum für Märchenkultur:

    "Die Märchen wurden erzählt auch sehr viel von Männern früher viel auch in der Schenke, man sagt ja auch der Witz ist ein Bruder des Märchens, also es waren deftige lustige Sachen, und die wurden auch erzählt in den Spinnstuben, und dann später kam dazu oder schon immer, dass die Menschen Lust hatten zum Fabulieren und zum Ausschmücken, es wurden wahre Begebenheiten mit hinein genommen und durch die JahrTausende sozusagen abgeschliffen und die Essenz blieb übrig, und die wird eben heute noch erzählt."

    "Rockenmärchen" nannte man diese Geschichten im 16. und 17. Jahrhundert; der "Rocken" war die Bezeichnung für ein stabförmiges Gerät, an dem die noch rohen Fasern zum Spinnen befestigt sind. Bei der eintönigen Arbeit in der Spinnstube waren Märchen ein willkommener Zeitvertreib, oder Reisende erzählten sie abends in den Gasthäusern, und sie waren laut Brüder Grimm "fast regelmäßige Vergnügung der Feiertage". Die Professorin für Erzählkunst, Kristin Wardetzky:

    "Der primäre Aspekt war Unterhaltung. Man wollte die langen Abende, in denen man zusammen saß und möglicherweise irgendwie Handwerksarbeiten gemacht hat, wollte man gut rumbringen, es war gemeinschaftsstiftend, und zur Unterhaltung gehört zuerst mal Spaß, und deshalb gibt's ja unendlich viele Schwankmärchen auch, und dann wurden natürlich auch pikante Geschichten erzählt, und je nachdem, welche Art von Menschen da zusammen saßen, ob das vorwiegend Frauen waren, ob das vorwiegend Soldaten waren, da unterschieden sich auch die Geschichten, die dort erzählt wurden."

    "Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das tägliche Brot nicht mehr schaffen."

    Märchen als Geschichten von armen Leuten, von Bauern, Fischern, Tagelöhnern oder wandernde Handwerkerburschen – Jahrhunderte später knüpfte die DDR-Führung gerne daran an.

    "Das ist die Sprache des einfachen Volkes, die Sehnsucht nach Glück, nach Reichtum, nach Vollkommenheit wurde in den Märchen erfüllt."

    Sagt Kristin Wardetzky. Nach 1945 waren Märchen zwar in allen vier Besatzungszonen von den Alliierten äußerst ungern gesehen, weil die Nazis sich so sehr damit identifiziert hatten. Die Westalliierten fürchteten ein Wiedererwachen dieses Geistes durch die Märchenlektüre. In der DDR aber wurden nach kurzer Zeit gerade die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm wieder gesellschaftsfähig.

    Kristin Wardetzky: "Die Ausgabe des Kinderbuchverlages war eine wenig revidierte Ausgabe, zum Beispiel solche Aspekte wie das Augenaushacken der Schwestern von Aschenputtel wurden herausgenommen, 'Der Jude im Dorn' erschien nicht oder 'Frau Trude', so ein gruseliges Märchen war da nicht mit enthalten, auch christliche Anspielungen wurden herausgenommen, aber ansonsten wurden sie auch in der Sprache der Grimms den Kindern angeboten."

    Vor allem Märchen mit sozialkritischen Aspekten wie "Der starke Hans", oder "Kaiser und Abt", wie "Die kluge Bauerstochter" oder auch "Gevatter Tod".

    Kristin Wardetzky: "Das Märchen in seinem subversivem Potenzial, der einfache Mann kommt am Schluss auf den Königsthron – damit allerdings hatte die DDR gewisse Schwierigkeiten. Man kann den Kindern keine Utopien ausmalen, die in der Monarchie angesiedelt sind."

    Betont wurden eher die "revolutionären, aufrührerischen Elemente" der Geschichten, die den Machtmissbrauch des Adels kritisierten, die "moralische Verkommenheit der höheren Stände" oder auf der anderen Seite das "Klassenbewusstsein", die Solidarität unter armen Menschen. Die subversive Kraft kann aber auch umgedreht werden, erzählt Silke Fischer vom Märchenland Berlin:

    "Ich komme aus der ehemaligen DDR und ich weiß genau, Peter Hax zum Beispiel hat ja viele Märchen geschrieben, und das war immer eine Systemkritik. Und mein Lieblingsmärchen von ihm ist "Der Schuhu und die fliegende Prinzessin", die Prinzessin wurde an einen großen Käse gekettet um nicht wegfliegen zu können, also besser kann man es nicht ausdrücken, also in Diktaturen wird das auf alle Fälle genutzt."

    Ähnliches galt wohl seit jeher.

    Silke Fischer: "Insofern hat es natürlich auch immer diese politische Kraft gehabt, und auch zu Grimms Zeiten hat jemand gesagt – ich weiß nicht mehr wer: 'Wenn du den König kritisieren willst, dann erzähle ein Märchen.'"

    Märchen sind andererseits ein Spiegel des sozialen Wandels. Schon im 18. Jahrhundert bildete sich eine neue Erzählsituation heraus – mit der Industrialisierung ging die Auflösung gemeinschaftlicher Strukturen einher. Großfamilie, Handwerkskulturen und Gemeinschaftsfeste gab es immer weniger. Zudem setzte ein Wandel ein von der einst lustvollen, oft durcheinander redenden Erzähl-Runde Erwachsener zum stillen, gehorsamen Lauschen, wenn der Familienvater vorlas. Weil nun meist Kinder die Zuhörer sind, haben die Grimms zum Beispiel die deftigen, erotischen Stellen abgeschwächt, etwa bei Rapunzel. Der Literaturwissenschaftler und Märchenforscher Heinz Rölleke:

    "Nicht nur der Hinweis auf die engen Kleidchen ist nachher bei Grimm weggefallen, sondern auch das: "Er gab Heiratens vor und nahm sie gleich". In den Grimmschen Spätfassungen ist es so: "Er hat schöne Augen, und da gab sie ihm die Hand und da wollten sie Mann und Frau sein" – das ist also sogar nach kirchlichem Recht eine Trauung, und dann geht's erst zur Sache, nicht. Das sind so hochinteressante Änderungen, die die Grimms vorgenommen haben und mit denen sie natürlich auch ganze Generationen beeinflusst haben."

    "Wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in allen Ecken herum. 'Ich will schon alles gut machen', sagte Rotkäppchen zur Mutter, und gab ihr die Hand darauf."

    Märchen sollen jetzt bürgerliche Werte vermitteln, und immer mehr werden pädagogische Botschaften mit ihnen verbunden. Anfang des 19. Jahrhunderts entsteht der Begriff "Kinderstube", da werden nun, abends vor dem Schlafengehen, Märchen vorgelesen – meist durch die Mütter, die die Erziehung übernehmen. Hier spielen die Brüder Grimm eine besondere Rolle. 1825 kommt nämlich neben der großen zweibändigen Sammlung noch eine kleine Ausgabe mit 50 Märchen heraus, berichtet Carola Pohlmann, Leiterin der Kinder- und Jugendbuchabteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin:
    "Die kleine Ausgabe war die Ausgabe, durch die die Kinder- und Hausmärchen eigentlich populär geworden sind in breiten Kreise der Bevölkerung, die auch von Eltern genutzt wurde, um die Märchen ihren Kindern vorzutragen, und insofern ist sie auch die deutlich bekanntere, und dazu haben nicht zuletzt auch die sieben Kupfer von einem weiteren Bruder der Grimms, nämlich Ludwig Emil Grimm, beigetragen, die dieses Buch dann wirklich zu einem Kinder- und Hausbuch gemacht haben."

    Es war einmal... - Der Märchenstreit der Pädagogen

    "Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, dass die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, dass es als ein Erziehungsbuch diene."

    Schreiben die Grimms. Märchen sollen Anregungen und Anleitungen für ein gelingendes Leben sowie allgemeine Werte vermitteln. Daraus entwickelt sich eine regelrechte Märchenpädagogik. Schon seit der Romantik herrschte die Auffassung, Märchen seien wertvoll für Kinder, weil sie die Fantasie anregen und damit ein Bildungselement sind.

    "Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein. / "Wenn er fett ist, so will ich ihn essen." Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: "Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist." Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte, es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich, dass er gar nicht fett werden wollte."

    In den 1920er-Jahren kam Kritik an der Märchenpädagogik auf, damals wegen ihrer "Unmoral": Viele Märchenhelden gelangen ja durch geschickte Betrügereien, Lügen und Heimtücke zum Happy end. Doch es geht in den Geschichten gar nicht um Moral, sondern um eine alltagstaugliche Handlungsethik, wie Märchenforscher Heinz Rölleke das nennt:

    "Weisheit haben sie und tiefsinnige Bilder und geben auch – ohne direkt praktische Ratschlage zu geben – Lebensregeln mit, wie man klug handelt, aber es geht nicht um gut und böse im Märchen, es geht um richtig oder falsch. Das richtige ist, Gott sei dank, oft auch das gute, aber manchmal eben auch nicht. Im Märchen wird der, der richtig handelt belohnt, und der, der falsch handelt, der wird nicht belohnt oder sogar bestraft."

    Weil aber die Grimmschen Märchen als Verkörperung nationalistischer Ideale galten, verbot zum Beispiel die Besatzungsmacht Großbritannien nach 1945 deren Gebrauch als schulisches Lehrmaterial. Nach den 20er und 40er-Jahren kam schließlich in den 1970ern eine dritte Diskussionen um die Märchenpädagogik auf. Nun ging es vor allem um die Grausamkeit in den für Kinder gedachten Geschichten.

    Marlies Ludwig: "''Die Königin sprach: Führe Schneewittchen in die Wald, dorthin wo er am tiefsten ist, und töte es. Bringe mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen dar. Der Jäger gehorchte und führte das arme Schneewittchen in den tiefen, tiefen Wald, da wo er am dunkelsten war, zog er seinen Hirschfänger – das war ein großes Messer – und wollte es töten.""

    Mord, Kannibalismus, Kindesmisshandlung und Sadismus in den Märchen – die sogenannten 68er wollten das den Kleinen nicht zumuten. Antiautoritär sowie angst- und gewaltfrei sollten sie aufwachsen. 1977 jedoch kam in Gestalt des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim so etwas wie das große Donnerwetter über die Kuschelpädagogik.

    "Märchen helfen Kindern, das Chaos in ihrem Unbewussten zu bewältigen",

    Schrieb der in Wien geborene US-Psychologe in seinem viel beachteten Buch: "Kinder brauchen Märchen".

    Das sehen Fachleute heute auch so, sagt die analytische Kinder- und Jugendtherapeutin Ulrike Held:

    "Kleine Kinder – große Gefühle, wir wissen das von den ganz Kleinen schon, wenn die wütend sind, sind die richtig wütend, und wenn die lieben, dann lieben die richtig. Und es gibt ja Märchen für ganz unterschiedliche Lebensalter, da finden sich die Themen wieder, die den ganzen menschlichen Körper ja auch betreffen, also das Essen, das Aufessen, das Gefressen-Werden, dann solche Märchen wie Schneewittchen und Rapunzel, wo die ganze pubertäre Entwicklung auch mit drin steckt, also das sind Themen, die Kinder beschäftigen, und das was sie sich vielleicht manchmal so nicht zu sagen trauen würden, das können sie dann in den Märchen erleben."

    "Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: "Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füssen fort. Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen." Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen."

    Ulrike Held: "So eine Mutter ist ja nicht immer nur gut und nett und freundlich, und wenn die nein sagt, und wenn die ärgerlich ist, dann ist die auch ein bisschen so wie so eine Hexe. Oder wenn die ganz verführerisch ist und ganz nett ist zu dem Kind, kann das Kind auch die Angst kriegen, die will mich vielleicht auffressen. Das heißt, die ganzen Ängste, die Kinder auch haben, die finden sich in den Märchen wieder. Und das ist was sehr psychohygienisches, wenn man mit Kindern dann Märchen liest."

    Ähnliches erlebt auch Kristin Wardetzky, wenn sie als Pädagogin mit Märchen arbeitet:

    "Also ich habe die Erfahrung gemacht – es gibt immer Ausnahmen, die muss man auch gelten lassen – aber in der Mehrheit wollen die Kinder den sogenannten Thrill. Die wollen gegruselt werden, die wollen sich fürchten, und wollen in den Abgrund hineinschauen in der absoluten Gewissheit, am Ende lichtet sich der Horizont und ich komme aus dem Dilemma wieder raus. Aber dieses Dilemma, wo es wirklich um Tod und Leben geht, um existentielle Fragen geht, das wollen Kinder. Die wollen nicht geschont werden, und ich glaube, es ist einfach eine falsche Auffassung von Märchen, dass man sie von Grausamkeiten befreit, einen ganz bestimmten Aspekt menschlichen Daseins eliminiert man da raus und betrügt meines Erachtens Kinder."

    Auch Silke Fischer vom Zentrum für Märchenkultur ist davon überzeugt, dass die Grausamkeit in Märchen Kinder nicht überfordert, weil sich alles – ähnlich wie später in Zeichentrickfilmen – herrlich unrealistisch wieder auflöst:

    "Der Kopf wird abgehauen und dann steht da nicht "und das Blut spritzte und er schrie und wand sich vor Schmerzen" – kein Kommentar, ganz klar, man holt das Wasser des Lebens, klebt den Kopf wieder an."

    Selbstverständlich kommt es auf die individuelle Entwicklung an, sagt die Kinder- und Jugendtherapeutin Ulrike Held:
    "Wenn man einem Kind ein Märchen vorliest, dann muss man sich auch immer überlegen, passt das schon in sein Lebensalter und passt das schon in seine psychische Entwicklung, ich würde einem Dreijährigen, vielleicht auch Vierjährigen Kind nicht unbedingt Rapunzel oder Schneewittchen vorlesen. Zum Beispiel eher so ein Märchen wie "Der süße Brei". Wo es darum geht: ich will was zu essen haben, es ist nichts da und ich kann mir selber was besorgen, ja."

    Ulrike Held ist überzeugt, dass die Eltern intuitiv wissen, welches Märchen zu ihren Kindern passt – wenn sie selbst mit Märchen vertraut sind.

    Marlies Ludwig: "Warum seid ihr jetzt hierher gekommen, um Märchen zu hören? Weil wir nämlich…"
    Kinder: "Lernen wollen."
    Marlies Ludwig: "Na dann wollen wir mal sehen, was wir von den Märchen lernen können."

    Heute werden Märchen in ihrer Bedeutung für Erziehung und Unterricht wieder gewürdigt. Dabei setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass sie nicht nur ihren wahren Zauber, sondern auch ihre psychologische und pädagogische Wirkung erst dann richtig entfalten können, wenn sie erzählt werden.

    Kristin Wardetzky hat an der Berliner Universität der Künste den Studiengang "Künstlerisches Erzählen" geleitet. Jetzt verantwortet sie das Projekt "Erzählzeit" für Märchen in der Schule. Die Theaterpädagogin schwört auf die Magie des gesprochenen Wortes:

    "Ein Mensch sitzt da, andere Menschen schauen ihn an, hören ihm zu, und da beginnt sich eine Welt zu öffnen, und die Ewigkeit bricht an, und die Bilder entstehen in den Köpfen."

    Aber haben Kinder heute denn noch den Kopf frei für eigene Fantasie? Sind sie nicht eher übervoll mit vorgefertigten Bildern von Märchenfiguren aus der Disney- oder Fernsehwelt?

    Kristin Wardetzky: "Nach unserer Erfahrung, die wir in der Schule gemacht haben, dauert es, wenn Kinder das überhaupt nicht gewöhnt sind, eine gewisse Zeit, bis diese eigenen Bilder im Kopf tatsächlich entstehen. Inwieweit das wirklich eigene Bilder sind oder inwieweit das Anleihen sind an vielen, vielen medialen Angeboten, das kann ich nicht sagen. Aber auf jeden Fall kann man ja sagen: gut wenn sie Anleihen nehmen, setzen sie aber dann diese Bilder in eigener Weise wieder zusammen."

    Und schon das ist durchaus ein Akt der Kreativität – und die zu fördern, darum geht es in der heutigen Märchenpädagogik. Kristin Wardetzky hat dazu selbst mehrere Studien gemacht:

    "Was nachweisbar ist, dass Kinder, die viele Märchen hören, über eine Art von Sprachgewandtheit verfügen, die bei anderen Kindern nicht vorhanden ist. Das ist in einer Weise verblüffend, wie sich die Märchensprache bei den Kindern ins Bewusstsein eingraviert, kann man nur sagen, und zum kreativen Gebrauch ihnen zur Verfügung steht und wie die Muster des Märchens ihnen helfen, eigene Geschichten zu erfinden. Weil, die Märchen sind in der Regel nach einem einfachen Grundmuster gebaut, und das verinnerlichen die Kinder ganz schnell, ohne es zu wissen. Und das ist ja das Erstaunliche, dass sie, sobald sie selbst Märchen erfinden, wenn sie viele Märchen gehört haben, in einer Sprache dann auch ihre eigenen Geschichten formulieren, die abgehoben ist vom Alltag und die eine Kostbarkeit enthält, wo man wirklich nur immer wieder staunen kann."

    Aber vermitteln Märchen, gerade auch die Grimmschen, nicht allzu altbackene Geschlechterrollen und Konfliktlösungsmodelle? Kristin Wardetzky sieht, in einigen Märchen jedenfalls, durchaus Potenzial zur Förderung eigenständigen Denkens und Handelns – wenn man genauer hinhört:

    "Die Königstochter fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie nicht anzurühren getraute, und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber ward zornig und sprach: 'Wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.' Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauf und setzte ihn in eine Ecke."

    Kristin Wardetzky : "Der Froschkönig ist ja in allen sieben Ausgaben immer die Nummer eins gewesen, und wenn man sich überlegt, wie ist denn das mit diesem gehorsamen Mädchen? Sie erfüllt alles, was der Vater sagt, bis zu einem bestimmten Punkt."

    "Als sie aber im Bette lag, kam er gekrochen und sprach: 'Ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du: heb mich herauf, oder ich sag's deinem Vater.' Da ward sie erst bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn aus Kräften wider die Wand. 'Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch.'"

    Kristin Wardetzky: "Für diesen Ungehorsam, denn sie widersetzt sich dem Diktat des Vaters, dafür wird sie mit einem Prinzen belohnt."

    Seit längerer Zeit werden Märchen auch in den tiefenpsychologischen Therapien eingesetzt: Vor allem die Schüler von Carl Gustav Jung betrachten Märchen als Urbilder, Archetypen menschlicher Sehnsüchte und Abgründe und nutzen sie als Einstieg in die Behandlung. Die analytische Kinder- und Jugendtherapeutin Ulrike Held:

    "Manchmal kommt es bei Kindern von ganz alleine, dass sie so ein Märchen anbieten auch, so beim Kennenlernen frage ich dann manchmal: "Hast du ein Lieblingsmärchen'" ich bin froh, dass es Kinder gibt, die immer noch Märchen kennen, ich kann mich erinnern an einen kleinen Patienten, für den war Hänsel und Gretel sehr beeindruckend, der hatte nämlich so eine Angst vor der Hexe. Und man kann die Märchen ja so verstehen, dass die Protagonisten in den Märchen verschiedene Personen auch im Leben eines Patienten, einer Patientin verkörpern. Aber jede Märchenfigur kann natürlich auch ein Teil der oder des Patienten sein. Und darin, denk ich, kann man viel Auskunft geben über die psychische Entwicklung dieses Menschen und kann sich mit diesem Märchen auch so beschäftigen, dass das therapeutisch heilsam ist."

    Und wenn sie nicht gestorben sind...

    2005 wurde das zweibändige Handexemplar der "Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm" aus den Jahren 1812 und 1815 in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen, das Verzeichnis wertvoller Bücher, Handschriften, Partituren, Bild-, Ton- und Filmdokumente, "die das kollektive Gedächtnis der Menschen in den verschiedenen Ländern unserer Erde repräsentieren".

    Marlies Ludwig mit Kindern im Chor: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Und der Spiegel antwortete: Frau Königin ihr seid die Schönste hier."

    Märchenstunden mit Erzählern, die sich das zum Beruf gemacht haben – damit versucht das "Deutsche Zentrum für Märchenkultur", Kindern die alten Geschichten auf traditionelle Art nahe zu bringen. Zum Beispiel finden alljährlich im November die "Berliner Märchentage" statt, das weltgrößte Ereignis dieser Art, für Kinder mit Festen und Lesungen von Prominenten, Politikern sowie Botschaftern aus vielen Ländern, für Erwachsene mit nächtliche Erzählrunden, Theater- und Konzertaufführungen.

    Doch nicht nur bei diesem Festival und nicht nur zum 200. Geburtstag der Grimmschen Sammlung, sondern jedes Jahr zur Weihnachtszeit gibt es im Fernsehen und im Kino eine wahren Märchen-Flut.

    1937 begann mit "Schneewittchen und die sieben Zwerge" die Ära der "Fairy tales" aus den Disney-Studios. Ein Märchenschloss bildet seither das Logo der Firma. Im Dezember 2010 erschien unter dem lustig und modern gemeinten Titel "Rapunzel - Neu verföhnt", die fünfzigste Disney-Verfilmung klassischer Märchen. Damit soll die Ära solcher Streifen abgeschlossen sein. Weil "Filme und Genres eben ablaufen", hieß es aus dem Entertainment-Konzern. Der Disney-Weihnachtsfilm 2012 etwa ist eine Geschichte aus der Welt der Computerspiele über einen Bösewicht namens Ralph, der nun zu den Guten gehören möchte.

    Ausschnitt "Ralph reichts": "Ich will einfach nicht mehr der Böse sein / wo ist dieser Randale-Ralph? / Willkommen in der Game-Centralstation. Zu allen Spielerichtungen jetzt einsteigen."

    Doch auch hier, wie in den alten Märchen, macht sich einer auf den Weg, muss Abenteuer bestehen, erlebt wundersame Dinge, trifft auf Feinde und findet Freunde. Moderne Märchen nennen viele diese, ebenfalls mittlerweile verfilmten "Fantasy-Abenteuer" wie "Herr der Ringe" oder "Harry Potter" .

    "Es ist eine Struktur, die den Menschen offensichtlich immanent ist, die sie verstehen können und die sie gerne aufnehmen, insofern haben Märchen eigentlich immer Renaissance oder sagen wir so: die Märchen sind nie gestorben, "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!"

    Meint Silke Fischer vom "Zentrum für Märchenkultur". Der Literaturwissenschaftler Heinz Rölleke sieht das etwas strenger:

    "Die haben zwar viel übernommen aus dem Märchenschatz der Weltliteratur, aber die Märchenstringenz, die fehlt diesen Geschichten – dafür sind sie auch viel zu lang."

    Allerdings: Zumindest die Märchenmotive sind heute fester Bestandteil der Umgangssprache: der "rettende Prinz" und die "gute Fee", auch der "Wolf im Schafspelz" oder der "Dornröschenschlaf" als Ausdruck für Ignoranz gegenüber der Welt.

    Geblieben ist auch der tagtäglich in Castingshows zu besichtigende Traum vom sozialen Aufstieg wie bei "Aschenputtel" oder von der Wandlung des hässlichen Entleins zur Schönheit. Während übrigens "Der Froschkönig" ursprünglich noch mit dem märchentypischen "Es war einmal" begonnen hatte, heißt es später bei den Brüdern Grimm:

    "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat... "

    Märchen erzählen ja auch meistens von Herausforderungen und Verzweiflung, aber am Ende steht doch die Hoffnung und Zuversicht.

    Heinz Rölleke: "Bei den Brüdern Grimm ist immer Happy End angesagt, die Märchenhelden bleiben auch alle so jung, wie sie am Anfang waren, und am Ende ist immer das Königreich oder großer Reichtum oder Wunderdinge oder die schönste Frau der Welt, es geht immer prima aus."

    Marlies Ludwig: "Schneewittchen und ihr König lebten lange und glücklich miteinander – und wenn sie nicht gestorben sind…"
    Mit Kindern im Chor: "… dann leben sie noch heute."