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Schwerpunktthema: Zehn Jahre nach dem Schock

Das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der ersten PISA-Studie schockte das Land. Trotz Verbesserungen: Es bestehen weiterhin viele Mängel im Schulwesen. Bildungsforscher und Sozialwissenschaftler ziehen eine differenzierte Bilanz von zehn Jahren PISA-Debatte.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann | 01.12.2011
    Das Schulsystem in Deutschland hat auf den "PISA-Schock" reagiert; in allen pädagogischen Professionen wurden die Herausforderungen erkannt.

    Zehn Jahre, nachdem ihre erste Studie erschienen ist und dem hiesigen Bildungssystem ein verheerendes Zeugnis ausgestellt hat, verbreiten PISA-Forscher jetzt gute Nachrichten aus deutschen Schulen.

    "Wir haben ja jetzt gesehen im Jahre 2009, dass sich doch kontinuierlich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland verbessert haben."

    Petra Stanat, Direktorin am IQB, am Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen in Berlin, sieht seit PISA 2000 eine langsame Aufwärtsbewegung.

    "Das hat sich dann soweit gesteigert, dass wir 2009 zu den wenigen Ländern gehört haben, wo sich tatsächlich im Bereich Lesekompetenz eine signifikante Veränderung gezeigt hat."

    Dabei war es nach der ersten PISA-Studie gerade die Lesekompetenz gewesen, die Bildungsforschern Sorgen bereitete. Fast ein Viertel der 15-Jährigen in Deutschland konnte im Jahr 2000 die Texte, die ihnen im Test vorgelegt worden waren, nicht verstehen. Das führte zwangläufig auch zu einem schlechten Abschneiden in Mathematik und Naturwissenschaften, weil die Schüler bei der Lektüre der Aufgaben gar nicht begriffen, was die Prüfer von ihnen erwarteten.

    Für Jürgen Baumert, der als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung die Erhebung 2000 geleitet hatte, kam noch ein weiterer, ebenso erschreckender Befund hinzu: Sozial benachteiligte Jugendliche schnitten deutlich schlechter ab als Kinder besser gestellter Eltern.

    "Wenn man die Chancen Realschulbesuch, Gymnasialschulbesuch vergleicht, dann sind die Chancen für ein Oberschichtkind viermal so hoch im Vergleich zu einem Arbeiterkind, ein Gymnasium zu besuchen, und das hat die Fachleute richtig verblüfft."

    Denn bis dahin hatten alle geglaubt, gerade das deutsche Bildungssystem mit seinen vielfältigen Angeboten bis hin zu Fachabitur und zweitem Bildungsweg würde jedem eine Chance geben. Und immer wenn Austauschschüler aus England oder den USA zurückkehrten und vom niedrigen Niveau in den dortigen Klassen erzählten, fühlten sich deutsche Pädagogen in der Annahme bestätigt, ihr Unterricht sei deutlich erfolgreicher als in anderen Ländern.

    Auch diese Einschätzung wurde durch PISA 2000 widerlegt, so Jürgen Baumert.

    "Wir sind in der Leistungsspitze unauffällig, das heißt ein Mittelplatz in der OECD. Da können wir nicht mithalten, auch in der Spitzenleistung nicht, und zwar in allen drei Bereichen, Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften."

    Auf allen drei Feldern erreichte Deutschland 2000 im internationalen Vergleich nur einen Platz im hinteren Mittelfeld. Dieses für Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker gleichermaßen überraschende Ergebnis hat aber seither den Blick auf die Schule verändert, meint Petra Stanat.

    "Wir haben ja früher eine sehr stark auf den Input fokussierte Steuerung gehabt im Bildungswesen, das heißt, man hat sich darum gekümmert, dass Vorgaben gemacht wurden in Form von Lehrplänen. Den Lehrkräften wurde sehr engmaschig vorgegeben, was sie zu unterrichten haben. Und jetzt konzentriert sich die Steuerung stärker auf die Frage, was erreichen Schülerinnen und Schüler - und zwar in Form von Kompetenzen."

    Festgelegt werden diese Kompetenzen von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie hatte PISA in Auftrag gegeben und definiert, was 15-Jährige können sollten, um später im Berufsleben in einer globalisierten Welt mithalten zu können.

    Die in Deutschland für die Bildung zuständigen Bundesländer haben diese Kriterien inzwischen weiter ausdifferenziert und unterziehen Schüler heute nach der vierten Klasse, beim Hauptschul- und beim Mittleren Schulabschluss einem Vergleichstest. Auf diese Weise soll die Qualität der Bildung ständig geprüft und verbessert werden.

    Für Lehrer wie Schüler ist das eine zusätzliche Belastung und viele fragen sich, ob sich der Aufwand lohnt. Und ob bei diesen Tests, die häufig aus Multiple-Choice-, also aus Ankreuzaufgaben bestehen, tatsächlich Bildung abgefragt wird.

    Thomas Jahnke, der an der Universität Potsdam Didaktik der Mathematik lehrt, bezweifelt, dass bei PISA tatsächlich das Bildungsniveau gemessen wird.

    "Die Aufgabentexte bei PISA sind teilweise sehr lang, da wäre mein Hinweis an die Probanden: Lies den Text gar nicht, lies die Frage, lies die Antworten und guck noch mal kurz nach oben, welche Informationen du brauchst. Also das ist gar nicht, setze dich wirklich mit der Sache auseinander, hier geht es darum, mach das richtige Kreuz: Also es geht um Performance."

    Thomas Jahnke bestreitet nicht, dass Textverständnis und mathematisches Grundwissen zu einer guten Schulbildung gehören. Aber für ihn ändert sich mit den immer häufiger werdenden Tests schleichend der Bildungsbegriff.

    Es gehe weniger darum, eine möglichst vielseitig gebildete Persönlichkeit zu entwickeln, der musische Bildung oder auch die Auseinandersetzung mit Auschwitz ebenso wichtig sei wie etwa mathematisch-naturwissenschaftliche Fähigkeiten. Im Vordergrund stehe heute für viele Schüler, sich möglichst umfangreiches Faktenwissen anzueignen. Und zwar solches, so Jahnke, von dem Erwachsene heute meinten, dass es morgen wichtig sein werde, um konkurrenzfähig zu bleiben.

    "Schule heißt ja eigentlich Muße, also scolae, das Sich-Auseinander-setzen mit dem Gegenstand und, die Menschen stärken, die werden mit unserer Kultur in Berührung gebracht. Schule ist nicht die Formung der leistungsfähigen OECD-Bürger, die man schon mal ab dem Kindergarten testen muss, ob sie auch in der Lage sind, ich sage jetzt mal polemisch, die Atomkraftwerke zu bedienen. Also diese Muße geht verloren und das ist schon eine ganz erhebliche Verschiebung aus meiner Sicht."

    Stärker als je zuvor stehen Konkurrenzfähigkeit und Verwertbarkeit von Bildungsangeboten im Fokus. Das konstatiert auch Heinz Bude, Soziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung und an der Universität Kassel. Aber Bude führt diese Entwicklung nicht auf Bildungsforscher oder –politiker zurück.

    Urheber sind für ihn vor allem bildungsbeflissene Eltern. Also oftmals diejenigen, die die großen Gewinner des traditionellen Bildungssystems der alten Bundesrepublik waren. Die eine umfassende Bildung genießen durften, die von der Expansion des Gymnasiums seit den 60er-Jahren profitierten und anschließend eine respektable berufliche Position erreichten.
    Verständlicherweise wollen sie für ihre Kinder heute mindestens ebenso gute Chancen, wie sie sie einst besaßen, erzählt Heinz Bude. Aber nach PISA sehen sie die Zukunft ihrer Kinder gefährdet.

    "Heraus kommt eigentlich etwas sehr Merkwürdiges, eine Defizitperspektive. Denn was PISA und die Urteile von PISA besonders implizieren, sind Feststellungen darüber, was bestimmte Gruppen von Schülern noch nicht können. Es geht nicht darum, festzustellen, zu was sie in der Lage sind, wie das Profil ihrer Eigenaktivität aussieht, sondern im Gegenteil, man sagt, in einem bestimmten Maßstab fehlt es da und dort."

    Weil sie um die Konkurrenzfähigkeit ihrer Kinder fürchten, seien viele Eltern geradezu in eine Bildungspanik verfallen, schreibt Bude in seinem aktuellen Buch.
    Diese Panik äußere sich in einem Run auf Privatschulen. Wer sich die nicht leisten könne, suche wenigstens ein Gymnasium mit spezieller, zum Beispiel fremdsprachiger Ausrichtung. Oder organisiere für seine Kinder Zusatzunterricht am Nachmittag.

    "PISA hat zu einer Art Verteufelung des öffentlichen Bildungssystems beigetragen, besonders bei den bildungsbeflissenen Eltern in unserer Gesellschaft, und dass es eine untergründige Migration aus dem öffentlichen Bildungssystem gibt mit zum Teil außerordentlich fragwürdigen Angeboten von privaten Schulen, die nun alles das versprechen, was unter dem Begriff der Exzellenz heute die internationale Konkurrenzfähigkeit herstellen soll. Also man soll chinesisch lernen, weil das die kognitive Entwicklung voranbringt und gleichzeitig die Fähigkeit gibt, auf den neuen globalen Märkten später mitspielen zu können, man soll musische mit mathematischer Erziehung zusammenbringen, das ist eine Bildungspanik, die besonders in den Mittelklassen unserer Gesellschaft eine Rolle spielt."

    Diese Bildungspanik, so Heinz Bude, werde vor allem von der Vorstellung angeheizt, die eigenen Kinder würden in ihren Lernerfolgen behindert von jener Gruppe, die mit 15 noch kaum Texte verstehen konnte und die die PISA-Forscher 2000 als "Risikoschüler" bezeichnet haben.

    PISA weist darauf hin, dass das internationale Untersuchungsdesign Grenzen hat, wenn es um die Identifizierung von Wirkungszusammenhängen im Bildungssystem oder gar um kausale Ursachenanalyse geht. PISA sagt nicht, was zu tun ist, sondern nur, wo die Probleme liegen.

    So bescheiden wie in ihrem aktuellen Bericht waren die PISA-Forscher am Anfang nicht. Ihre Studien sollten steuerungsrelevantes Wissen liefern, versprachen sie, also Hinweise, wie die Bildungssysteme der einzelnen Länder optimiert werden sollten. Was das etwa für Deutschland bedeuten könnte, darüber gerieten sie dann schnell in Streit.

    Andreas Schleicher, der die PISA-Erhebungen bei der OECD in Paris koordiniert, zog aus den großen Leistungsunterschieden zwischen deutschen Schülern den Schluss, das hiesige System sei zu streng nach Haupt- und Realschule beziehungsweise Gymnasium gegliedert. Erfolgversprechender, so Schleicher, wäre ein längeres gemeinsames Lernen aller, mindestens bis zur sechsten Klasse.

    Bildungsforscher aus Deutschland wie Petra Stanat vom IQB in Berlin konnten in den PISA-Daten keinen Beleg für diese These finden.

    "Was PISA gezeigt hat, ist, dass es in gegliederten Systemen tendenziell etwas schwieriger ist, schwache Schüler gut zu fördern und das vielfach auch in Situationen, wo man sozusagen Restschulen schafft, also einen hohen Anteil von schwachen Schülern in einer Schulform. Beispielsweise die Hauptschule Berlin, nur noch neun oder zehn Prozent der Schülerschaft besuchte die Hauptschule, und in sozialen Brennpunktgebieten ist das natürlich eine Restschulsituation, wo es sehr, sehr schwierig ist, gut zu fördern."

    Diese Restschulsituation hat sich seit den späten 80er-Jahren ausgebreitet. Bis dahin galt das deutsche Bildungssystem als sehr durchlässig, weil es, im Vergleich zu anderen Ländern, ungewöhnlich viele Arbeiterkinder zu guten Abschlüssen befähigte. Doch dasselbe System versagte und versagt bis heute häufig, wenn es darum geht, Kinder aus Einwanderer- und Flüchtlingsfamilien zu integrieren, die kaum deutsch sprechen.

    Solche Kinder müssten schon sehr frühzeitig gefördert werden, fordert schon seit Jahren Jürgen Baumert, der PISA 2000 in Deutschland geleitet hat.

    "Wir investieren in der Grundschule am wenigsten. Am wenigsten Geld, am wenigsten Personal und am wenigsten Zeit. Wir müssen mehr Kreativität, mehr Mittel, mehr Zeit investieren in die Grundschule und möglicherweise auch das Fenster nach vorne verlängern, also in die Vorschule, in den Kindergartenbereich, der ja bei uns vielfach gar nicht als Bildungseinrichtung wahrgenommen wird, sondern als schlechter Ersatz für die Familie. Das ist in anderen Ländern ganz anders."

    In Deutschland wird der Kindergarten vor allem als eine kommunale Dienstleistung für Eltern betrachtet, die ihre Kinder abgeben wollen, etwa um Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bringen. So berechtigt dieses Anliegen ist – unterschätzt wird oft, wie wichtig schon in einem sehr frühen Alter qualifizierte Bildungsangebote wären.

    Doch dafür müssten viele Kindergärten besser ausgestattet und viele Erzieherinnen und Erzieher besser ausgebildet werden. Denn für viele Kinder ist die Kita der erste Ort, an dem sie die Chance hätten, richtig Deutsch zu lernen, wenn sich jemand intensiv um sie kümmern könnte.

    Insgesamt konnten sich Jugendliche mit Migrationshintergrund seit PISA 2000 signifikant verbessern. Trotz dieser Verbesserung sind auch in PISA 2009 die mit einem Migrationshintergrund verbunden Disparitäten weiterhin bedenklich groß.

    "Ich glaube, dass im Bereich der Sprachförderung noch einiges zu tun ist, der Anteil von Schülern nichtdeutscher Sprache wird größer werden. Wir haben in PISA 2009 gesehen, dass der Anteil von Schülern, die eine Schule besuchen, in der Sprachförderung angeboten wird, dass dieser Anteil in Deutschland deutlich geringer ist als in anderen Ländern."

    Mehr Deutschunterricht allein wird da nicht reichen, meint Petra Stanat. Viele Lehrer anderer Fächer seien kaum ausgebildet, um zu erkennen, wann die Lernschwierigkeiten ihrer Schüler mit Sprachproblemen zu tun hätten und nicht mit fachlichen Schwächen. Mehr Kooperation im Kollegium könnte helfen. Sie würde einen anderen Arbeitsstil erfordern. Pädagogen müssten darauf verzichten, ihren Unterricht autonom gestalten zu dürfen. Doch immer mehr sind zu solchen Experimenten und neuen Lernformen bereit, beobachtet Heinz Bude.

    "Die sind jünger, die nehmen Herausforderung an und ich sehe bei diesen jüngeren durchaus die Motivation zu zeigen, zu was das öffentliche Bildungssystem in der Lage ist. Das öffentliche Bildungssystem hat einen riesigen Vorteil, den man nicht verspielen darf, es ist vielfältig. Man muss nicht alles über einen Kamm scheren, sondern es gibt viele Schlupflöcher mit anderen Kompetenzen sogar bis zum Abitur zu kommen, das finde ein positives Merkmal unseres Bildungssystems."

    Statt eines Umbaus des Systems, der ohnehin von vielen Eltern abgelehnt werde, befürwortet Bude die kleinteilige Verbesserung des bestehenden.

    Für einen solchen Weg plädiert auch Thomas Jahnke von der Uni Potsdam. Nach dem PISA-Schock seien viel zu viele Bildungsforscher und –politiker darauf erpicht gewesen, jetzt ganz schnell Länder wie Finnland zu kopieren, das bei allen Tests Spitzenplätze belegt hatte. Inzwischen aber habe sich herumgesprochen, dass man die Bildungssysteme anderer Länder nicht einfach übernehmen könne, so Jahnke, weil alle Systeme nur im jeweiligen nationalen Kontext funktionierten.

    "Ein Geheimnis von Finnland ist ganz bestimmt, dass in Finnland eine Atmosphäre da ist, wir sind ein kleines Land, wir brauchen hier jeden. Also ein Gemeinschaftsgefühl, in dem jeder das Gefühl hat, er ist erforderlich. Und wenn Sie jetzt mal an eine Hauptschule in NRW gehen irgendwo im Ruhrgebiet, meinen Sie da hätte irgendein Jugendlicher das Gefühl, er wäre nötig für diese Gesellschaft?"

    Gerade diese oft schulmüden Jugendlichen sollte man vielleicht gar nicht mit weiteren Tests quälen, meint Heinz Bude, sondern ihnen eine praxisorientierte berufliche Grundqualifizierung anbieten. Denn gerade in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise habe sich gezeigt, dass Deutschland in der beruflichen Bildung Stärken habe, die keine PISA-Erhebung je messen könnte.

    "Wenn man auf dieser ruhigen Feststellung mal sagen könnte, ach lass uns doch mal versuchen, ein Bildungssystem weiterzuentwickeln, das der Bildungslust Raum gibt, wir haben nicht das Problem, dass unsere Kinder keine Stellen mehr kriegen werden, wir haben ganz viele Weltmarktführer im Mittelstand, das sind alles Gründe unsere Talente, die auch im deutschen System stecken, bei den deutschen Leuten stecken, auszuspielen, das sind alles Gründe, ruhiger zu sein."

    Wenn ein bisschen mehr Ruhe einkehrte, würden vielleicht auch die guten Nachrichten aus der Schule wieder besser wahrgenommen. In den vergangenen zehn Jahren war dafür wohl bei vielen der PISA-Schock zu groß.