William Melvin Kelley: „Ein anderer Takt“

Wiederentdeckung eines schwarzen Schriftstellers

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Das Buchcover des Romans "Ein anderer Takt" von William Melvin Kelley zeigt u.a. drei schwarze Männer in Anzughose, Weste, mit Hut und Regenschirm sowie eine schwarze Frau, die einen Blazer über einem Kleid trägt.
Der „Ein anderer Takt“ von William Melvin Kelley aus dem Jahr 1962: Unklar bleibt, warum die aktuelle Übersetzung das N-Wort verwendet. © Hoffmann und Campe
Von Maike Albath · 21.09.2019
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Diese erfundene Geschichte aus den US-Südstaaten der frühen 1960er lohnt die Wiederentdeckung: In dem Roman "Ein anderer Takt" erzählt der damals 24-jährige schwarze Autor William Melvin Kelley aus weißer Perspektive.
Die Männer stehen auf der Veranda des Lebensmittelgeschäfts herum, so wie sie es gewohnt sind. Manche lehnen an der Wand, andere lümmeln am Geländer, wieder andere sitzen auf den Holzstufen. Darunter Farmer, Handwerker und der alte Mister Harper, ein pensionierter Offizier, der eine gewisse Autorität besitzt. Auch ein kleiner Junge ist dabei. Allesamt Weiße. Ab und zu erzählt jemand eine Geschichte, ab und zu fällt ein Kommentar, ab und zu gibt es einen Whiskey. Aber an diesem Freitag im Sommer 1957 verändert sich etwas in Sutton, irgendwo zwischen Tennessee, Alabama und dem Golf von Mexiko gelegen. Fassungslos beobachten die Veranda-Besucher, wie die schwarze Einwohnerschaft den Ort verlässt, und zwar mit großem Gepäck. Alle. Was hat das zu bedeuten?

Rassistische Klischees

"Ein anderer Takt" ist ein verblüffender Roman. Spannungsreich aufgebaut und klug komponiert, dreht der schwarze Schriftsteller William Melvin Kelley die Perspektive um und schildert einen (erfundenen) Exodus aus weißer Sicht. 1962 mit großer Resonanz erschienen als erstes Buch des damals 24-jährigen gebürtigen New Yorkers, liefert es ein Prisma der Mentalitäten und treibt rassistische Klischees auf die Spitze. Im Hintergrund wabert eine mythische Legende über einen bärenstarken Sklaven namens Caliban, der bei seiner Ankunft - noch in Ketten gelegt - mit einem Baby im Arm vom Schiff stürmte und erst Tage später durch eine Kugel niedergestreckt wurde.
Sein Nachfahre Tucker Caliban, im Dienst der Familie Willson und mittlerweile Eigentümer eines Stück Lands, versalzt an jenem Wochenende 1957 seine Felder, zündet sein Haus an und geht mit Frau und Kind fort aus Sutton. Er ist der Auslöser für die stumme Aushebelung eines Systems, das immun gegen Veränderungen ist. Dass diese Tat gesühnt werden wird, bildet den Ausgangs- und Zielpunkt von "Ein anderer Takt".

Leidenschaft für Literatur

William Melvin Kelley, 1939 geboren und 2017 gestorben, hatte in Harvard seine Leidenschaft für Literatur entdeckt. Nach der Ermordung von Malcom X 1965 verbrachte er einige Jahre außerhalb der USA, zuerst in Paris und dann in Jamaika. Obwohl weitere Bücher folgten, geriet der Schriftsteller vollkommen in Vergessenheit. Die Wiederentdeckung lohnt sich.
Verstörend für den deutschen Leser ist allerdings die Verwendung des N-Wortes. Es ist zweifellos eine bewusste Entscheidung und hängt mit dem historischen Kontext des Originals zusammen. Aber der Begriff trägt auch im Deutschen eine Blutspur in sich, und hier hätte es einer Erläuterung bedurft. Welche Bezeichnungen waren 1962 üblich, ging es um produktive Irritation, hatte die Verwendung damals einen anklagenden Effekt, wie definierten schwarze Intellektuelle das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft und mit welcher Terminologie operierte Kelley in seinen späteren Romanen?
In dem Nachwort von Kathryn Schulz, das ursprünglich im "New Yorker" erschienen ist, findet man dazu nichts. Hier hätte der deutsche Verlag dem wie gewohnt glänzenden Übersetzer Dirk van Gunsteren die Gelegenheit für eine Schlussbemerkung geben sollen. Denn Sprache als Mittel der Weltaneignung passiert innerhalb eines politischen Rahmens. Dass man darüber nachdenkt, ist ein Verdienst dieses kraftvollen Romans.

William Melvin Kelley: "Ein anderer Takt"
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hoffmann und Campe, Hamburg 2019
300 Seiten, 22 Euro

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