Donnerstag, 25. April 2024

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"Zelt" von Herbert Fritsch am Wiener Burgtheater
Träume auf dem Zeltplatz

Das Zelt als Herausforderung und Wundertüte steht im Mittelpunkt von Herbert Fritschs neuem Theaterabend an der Wiener Burg: eine überwältigende, grenzenlose Phantasie über das Kollektiv und über alle Kollektive im Theater.

Von Michael Laages | 29.04.2019
Herbert Fritsch inszenierte sein neues Stück "Zelt" am Wiener Burgtheater selbst.
Herbert Fritsch inszenierte sein neues Stück "Zelt" am Wiener Burgtheater selbst. (Burgtheater Wien / Reinhard Maximilian Werner)
Ganz weit oben auf der ewigen Hitparade von Jux und Dollerei im Theater steht der Kampf mit den Liegestühlen, den Christoph Marthaler, Anna Viebrock und Stefanie Carp vor über zwanzig Jahren entfesselten - für "Stunde Null" in Hamburg. Selbst wer forcierte Knallchargen-Komik gewohnt war, fiel damals von einer Kicher-Hysterie in die nächste, wenn das komplette Ensemble immer wieder zusammenbrach mit dem Gestühl. Hätte Herbert Fritsch mit dieser Sternstunde konkurrieren wollen, hätte Jeder und Jede im Burgtheater-Ensemble den ganzen Abend über Zelte aufbauen und dabei immer wieder das Scheitern zelebrieren müssen. Dass aber "Zelt" so gar keine Klamotte geworden ist um Häringe und Seile, Zelt-Stangen und Zelt-Planen, ist die größte Überraschung. Das handelsübliche Einmannzelt ist ja auch keine allzu große technische Herausforderung mehr: zwei biegsame Stangen überkreuz durch die zentralen Ösen gezogen und an den Enden festgesteckt, und fertig ist (im Wortsinn) die Laube.
Kollektives 90-Minuten-Wunder
Das Zelt ist ein Beispiel: für den Prozess der kollektiven Kreation, um den es Fritsch vor allem geht. Dieses Kollektiv bleibt stumm; nur dem Musiker und Sänger Hubert Wild, seit langem Stütze der Fritsch-Gesellschaft, ist eine Mini-Arie gestattet. Da ist das 90-Minuten-Wunder noch im Vorspiel. In Zeitlupe schrubbt das Ensemble die wie so oft bei Fritsch mit Glanzfußboden ausgelegte Bühne. 23 völlig gleich gestylte Wesen in Bunt sind mit Eimer und Wischmopp unterwegs, und nur das Werkzeug sorgt für Geräusche. Immer wieder formiert sich die Gruppe auch zur Masse; marschiert etwa mit gereckten Mopps wie zur Demo, und die Wischtücher sind die Plakate.
Diesem Vorspiel folgt das erste Zelt. Hermann Scheidleder baut es auf, und weil dieses Urgestein im Burg-Ensemble eher klein und rund und eben auch schon etwas älter ist, benutzt Scheidleder einen extra Greifarm für den Aufbau - was den Vorteil hat, dass das Publikum sehr genau sieht, wie das geht mit dem Zelt. Jetzt kann das Ensemble kommen - Stück für Stück krabbelt es aus einer Bodenluke hervor; nun bauen alle, musikalisch strukturiert von Matthias Jakisic.
Jeder Blick macht Spaß
Stöhnen, Ächzen, Jammern - mehr ist nicht drin. Wie der Musiker sind bald alle nurmehr Clowns. Und wie zuvor schon die ganze riesige leere Bühne taucht Friedrich Rom nun auch Clowns und Zelte in Träume aus Licht. Fritsch zeigt mit "Zelt" Meisterstückchen aus allen Gewerken des Theaters selbst. Kostüm und Maske setzen die Ideen von Bettina Helmi um: die Frauen alle in glänzend-bunten Stoffen, mit Puff-Ärmeln und weißen Kniestrümpfen, die Herren alle mit schwarzen Hochwasserhosen zu weißen Socken. Und unter dem Anzug trägt jeder quietsch-oranges Hemd zu grüner Krawatte. Extravagant sind alle Frisuren, und jeder Blick macht Spaß.
Wenn die Zelte fertig sind, bricht ein Konzert am Lagerfeuer los. Ein Dutzend Gitarren schrammeln da, ohne Noten, aber in treibendem Rhythmus. Und ihnen gegenüber quietschen und singen im Dauer-Legato ein Dutzend kleinere und größere Akkordeone. Das ist eine Partitur ohne Sinn und Zweck, aber mitreißend kollektiv - wie eine wirklich aufregende Free-Jazz-Improvisation. Nur eben wie auf dem Zeltplatz und am Lagerfeuer … was für ein Vergnügen das ist; augen- und ohrenscheinlich auch für’s Ensemble.
Pures Überwältigungstheater
Das Finale schließlich ist Trickkiste pur. Die Zelte bekommen Licht von innen, und sie beginnen zu schweben, jedes an einem Extra-Seil in den Zügen der Bühnen-Maschinerie; jetzt zeigt auch die, was sie kann. Minutenlang lebt dieser Traum vom Fliegen - dann setzen die Zelte wieder auf, und das Ensemble klettert in weitere Bühnenlöcher unter den Zelten. Wenn die dann wieder abheben, schauen nurmehr die lebenden Köpfe aus dem Boden. Aus den Löchern heraus klettert das Ensemble in den Schlussapplaus, und Herbert Fritsch fliegt wieder mal vom Bühnenhimmel herab.
Natürlich ist das alles pures Überwältigungstheater. Kein Ulk, eher eine grenzenlose Phantasie über das Kollektiv, über alle Kollektive im Theater. Ach ja: Und für viele wird dies ja in der Tat die letzte Premiere auf dieser Bühne gewesen sein. Aber vielleicht ja auch die schönste.