Dienstag, 16. April 2024

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Schwierige Mehrheitsfindung im EU-Verfassungsentwurf

Klaus Remme: Am Telefon begrüße ich Thomas Fischer, er ist Projektmanager für Europapolitik bei der Bertelsmann-Stiftung, guten Morgen.

Moderator: Klaus Remme | 28.11.2003
    Thomas Fischer: Guten Morgen, Herr Remme.

    Remme: In der EU ist die Gemengelage ja oft schwierig genug. Ist ein Scheitern des Projektes gemeinsame Verfassung wirklich denkbar?

    Fischer: Nein. Ich denke, es wird im Endeffekt auf eine Nacht der langen Messer unter den Staats- und Regierungschefs hinauslaufen. Die kritische Machtfrage der Stimmgewichtung im Rat, die recht unnachgiebige Haltung von Polen und Spanien und die Frage der Kommissionszusammensetzung wird wohl nicht auf der Außenministerkonklave angegangen werden, sondern von den Staats- und Regierungschefs direkt im Dezember.

    Remme: Ist denn der Streit um den Stabilitätspakt, den wir in den vergangenen Tagen erlebt haben, wirklich eine Belastung für die Außenminister und die EU-Staats- und Regierungschefs?

    Fischer: Davon kann man wohl ausgehen. Die Befürchtung der kleinen Mitgliedstaaten Finnland und Österreich, Spanien und Polen bei der Neuregelung der Stimmgewichtung beziehungsweise der notwendigen Mehrheiten im Rat hängt damit zusammen, dass diese Länder im Grunde Einflussverluste fürchten, weil Deutschland in der Gruppe der großen Mitgliedstaaten durch die neue Stimmregelung des Konvents an Gewicht gewinnen würde. Nun hat aber Deutschland gemeinsam mit Frankreich im Falle des Stabilitätspaktes gezeigt, wie sehr es im wirtschaftlichen Eigeninteresse sein heutiges Stimmgewicht bereits einsetzen kann. Das sind keine guten Vorzeichen für eine Neuregelung der Stimmgewichtung, die das Gewicht Deutschlands weiter erhöhen wird.

    Remme: Können Sie für den Laien kurz darstellen, welches Stimmengewicht sich die Kleinen wünschen, welches steht ansonsten zur Wahl?

    Fischer: Grundsätzlich ist es so, dass wir derzeit nach dem Nizza-Vertrag eine Mehrheitsregel haben bei Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit im Rat getroffen werden, die eine dreifache Mehrheitsschwelle vorsieht. Zum einen müssen in einem System gewichteter Stimmverteilung die Mitgliedstaaten derzeit rund 72 Prozent der Stimmen erreichen, in einer EU 25 wird diese Mehrheit auf 73 Prozent ansteigen und in der EU 27 oder 28 werden es dann rund 74 Prozent sein. Die zweite Mehrheitserfordernis derzeit ist, dass die Mitgliedstaaten in eine Mehrheit bilden müssen, also die Zahl der Mitgliedstaaten, und zum dritten sieht der Nizza-Vertrag vor, dass ein einzelner Mitgliedstaat beantragen kann, dass eine 62-prozentige Bevölkerungsmehrheit notwendig ist. Einfacher kann man es leider nicht ausrücken, es ist ein fürchterliches, kompliziertes Stimmenmehrheitssystem.

    Remme: Was wollen die Großen ändern?

    Fischer: Die Großen oder korrekter gesagt der Konvent möchte das vereinfachen. Er möchte sagen: Wir brauchen künftig eine doppelte Mehrheit, das bedeutet eine Mehrheit an Mitgliedstaaten und eine Mehrheit, die drei Fünftel der EU-Bevölkerung ausmacht. Nun haben aber die Länder Polen und Spanien das Problem, dass sie derzeit in der Gruppe der sechs großen Staaten ungefähr das gleiche Stimmgewicht haben, wie Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien. Mit dem Konventsentwurf würde sich das aber ändern. Da würde das Stimmgewicht vor allem Deutschlands in der Gruppe der großen Sechs sehr stark zunehmen.

    Remme: Der Verfassungsentwurf liegt auf dem Tisch, die Außenminister, Staats- und Regierungschefs beraten darüber. Welche Szenerien kann man sich für das Geschehen in den kommenden Wochen vorstellen?

    Fischer: Es werden sehr intensive Verhandlungen auf Ebene der Außenminister stattfinden, es sind vor allem zwei Fragen, die wohl in einer Art Tauschhandel gegeneinander in Anschlag angebracht werden: Man wird über die Machtfrage ragen, die Abstimmungsregeln zum einen und zum anderen über die Zusammensetzung der Kommission. Da der Konventsentwurf vorsieht, dass künftig nicht mehr alle Mitglieder der Kommission stimmberechtigt sein sollen und da auch die kleinen Mitgliedstaaten hier ebenfalls Einflussverlusten fürchten, wird man ihnen möglicherweise anbieten, dass man, wenn man an den Abstimmungsregelungen des Konvents festhält, auch bereit ist, künftig ein Kommissionsmitglied für alle Mitgliedstaaten mit Stimmberechtigung vorzusehen. Das wird die Verhandlungsmasse in den kommenden Wochen sein, nehme ich an. Wir müssen auch sehen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Im Grunde genommen reden wir jetzt noch über zwei Wochen, wenn wirklich unter italienischer Ratspräsidentschaft die EU-Verfassung verabschiedet werden soll.

    Remme: Wir konnten uns in den vergangenen Wochen schwer vorstellen, dass Finanzminister und EU-Kommission in Sachen Stabilitätspakt einmal derart öffentlich aneinander geraten würden. Denken wir mal das Undenkbare; was wäre, wenn sich alle Seiten einfach nicht auf eine gemeinsame Verfassung einigen können?

    Fischer: Der "worst case", von dem wir gegenwärtig ausgehen würden, ist nicht eine wirkliche Katastrophe, würde aber natürlich die Entscheidungsfindung in einer EU mit 25 Mitgliedstaaten sehr erschweren, der besteht darin, dass wir beim heutigen Nizza-Vertrag blieben. Das ist keine sehr hoffnungsvolle Perspektive, wenn man an die Handlungsfähigkeit einer EU der 25 oder der 27 denkt. Wir werden dort viele Bereiche haben, wo dann einfach Sperrminoritäten im Rat vielfach Entscheidungen unmöglich machen werden.

    Remme: Wir reden immer von den Kleinen und Großen - ist diese Linie wirklich so einfach zu ziehen?

    Fischer: Nicht ganz. Speziell Spanien und Polen sind von ihrer Bevölkerungsgröße her eher mittelgroße Staaten mit rund 40 Millionen Einwohnern. Die kleinen Staaten Österreich und Finnland, die ein bisschen die Stimmführung für die kleinen Länder übernommen haben, haben natürlich andere Interessenlagen als die mittelgroßen Länder. Im Falle des Bündnisses aller vier in der Abstimmungsfrage geht es darum, dass Österreich über die Abstimmungsregelung und das Bündnis mit Spanien und Polen ein Mitglied pro Land in der Kommission durchsetzen möchte. Man sieht, schon hier überlappen sich die Dinge. Eine andere Sache ist natürlich, dass wir ebenso Konfliktlinien zwischen ärmeren und reichen Mitgliedstaaten haben, in der Frage des Gottesbezuges gibt es Konflikte zwischen dem laizistischen Staat Frankreich und den eher katholischen Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union. Es gibt also eine Vielzahl von überlappenden Interessenlagen. Es ist nicht einfach so, dass man die derzeitigen Spannungslinien in der Regierungskonferenz zwischen klein und groß aufmachen kann.