Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Schwierige Prozesse

Seit rund einem halben Jahr ist ein Gesetz in Kraft, das der Justiz beim Abtragen ihrer Aktenberge helfen soll: Die so genannte elektronische Prozessakte soll es ermöglichen, die Aktenberge in elektronische Dateien zu verwandeln.

Von Klaus Herbst | 24.09.2005
    Justitia ist bereits elektronikerfahren, sagt der Referatsleiter IuK-Technik und Elektronischer Rechtsverkehr am Niedersächsischen Justizministerium. Doktor Ralph Guise-Rübe konstatiert:

    "Dass die Justiz insgesamt schon über einen sehr gut organisierten elektronischen Workflow verfügt, denn wir haben überall Fachverfahren im Einsatz. Was aber eben noch nicht gelingt, ist, die Kommunikation mit dem Bürger oder mit dem Anwalt in dieser Weise in diesen Workflow zu integrieren. Die Anwälte sehen einfach in der Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs gegenwärtig keinen Vorteil, sondern eben einen Mehraufwand."

    Trotz der angepeilten Justizrevolution durch das Justizkommunikationsgesetz kommt es in der Praxis zu aufwändigen, fehlerträchtigen und sicherheitssensitiven Medienbrüchen. Digital erfassen, ausdrucken, analog weiterleiten und beim Gericht neu erfassen, das ist weit entfernt von der elektronischen Prozessakte. Doktor Wolfram Viefhues vom Oberlandesgericht Düsseldorf und der Kommission Elektronischer Rechtsverkehr auf dem Gerichtstag nennt als Beispiel so genannte Massenverfahren - die eignen sich besonders zur Digitalisierung, weil in ihnen immer die gleichen Parameter vorkommen:
    "Ein Ehescheidungsverfahren ist, jedenfalls dann wenn das Verfahren keine zusätzlichen Probleme aufwirft, sondern sich im wesentlichen auf Scheidung und Versorgungsausgleich beschränkt, schon geeignet, elektronisch bearbeitet zu werden. Wann hat eine Person geheiratet? Bei welchem Standesamt ist das registriert worden? Welche Registernummer? Wie lange lebt die Person getrennt? Welche Versorgungsanwartschaften bestehen? - im Prinzip also recht gut strukturierte Daten, die man auch in Form einer Tabelle oder technisch eines Datensatzes zum Gericht schicken könnte."

    Neben Scheidung sind ebenfalls zum Einstieg in die digitale Revolution geeignet: Einsprüche gegen Bußgeldverfahren und eventuell auch Bauverfahren - aber nur wenn eine umfangreiche Kennziffernliste der vorkommenden Baumängel realisiert ist. Die elektronische Prozessakte soll über Internet abgerufen werden können - von allen Berechtigten gleichzeitig: von Polizei, Staatsanwaltschaft und jedem x-beliebigen Anwalt. Das eröffnet Spielraum für Hacker, der entsteht, wenn jemand im Anwaltssekretariat auf den Send-Button drückt.

    "Da steht dann nicht ‚Drucken’, sondern ‚Elektronisch abschicken’, und dann macht den Rest das Programm. Und es muss auf der anderen Seite auch dort ankommen, wo es hingehört. Das ist ja auch ein Logistikproblem. Dazu gibt es ein elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach, das aufgebaut wird. Das wird im Prinzip so laufen, dass es bundesweit einen elektronischen Gerichtsbriefkasten gibt, in den jeder Anwalt seine Post herein werfen kann elektronisch. Und dieses Gerichtspostfach kümmert sich dann um die Sicherheit, um die Verschlüsselung."

    Die Abgrenzung von Inhalts- und Verbindungsdaten, komplette Anonymisierung und geringere Pseudoanonymisierung sind ebenso branchenübliche Notwendigkeiten wie der geschützte Austausch von Verfahrensdaten. Zu beachten sind dabei die Datenschutzrichtlinien der Länder, des Bundes und der europäischen Ebene. Die auf dem 14. Deutschen EDV-Gerichtstag in Saarbrücken versammelten Experten sind sich der zahlreichen, komplizierten juristischen und Sicherheitsaspekte bewusst. Wolfram Viefhues stellt als Fortschritt und Patentlösung das bundesweite Justizportal vor, auf das sich die Länder nun geeinigt haben:
    "Die Landesjustizverwaltungen in den Pilotprojekten haben unterschiedliche technische Ansätze. Das heißt, es gibt welche, die arbeiten mit dieser Email-Lösung, und es gibt welche, die arbeiten von Anfang an mit so einer Postfachlösung. Und dieses gemeinsame Justizportal wird beides bewältigen können. Und das ist schon ein vom Technischen her ganz anspruchsvoller Ansatz."

    Fazit: Die Digitalisierung in der Rechtsprechung hat mit dem Justizkommunikationsgesetz zwar begonnen, greift aber spürbar erst langfristig. So lange müssen Anwälte und Richter schwere Aktenberge wälzen, die eigene Sicherheitsvorteile haben: Sie sind schlecht transportabel und schwer zu kopieren. Ralph Guise-Rübe:

    "Ich bin davon überzeugt, dass der elektronische Rechtsverkehr die Justizabläufe auf die Jahre gesehen erheblich verändern wird. Er wird in ganz viele Lebensbereiche eindringen. Es ist kein kurzfristiger Weg, weil neben den technologischen, organisatorischen Ansätzen wir die Menschen mitnehmen müssen, die in diesen neuen Systemen arbeiten sollen. Da müssen wir viel Überzeugungsarbeit leisten. Aber im nächsten Jahrzehnt, das ist meine feste Überzeugung, wird das Alltag sein."