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Schwieriges Lavieren

Brasilien hat die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 lange verdrängt. Nun hat Präsident Lula grünes Licht für die Bildung einer Wahrheitskommission gegeben - und heftige Widerstände erzeugt. Die gesamte Führungsriege des Militärs drohen mit Rücktritt.

Von Gottfried Stein | 23.01.2010
    Parade vor dem Präsidentenpalast in Brasilia. Eigentlich genießt Brasiliens Militär hohes Ansehen, wäre da nicht der Makel der Vergangenheit: Auch in Brasilien wurde während der Diktatur von 1964 bis 1985 gefoltert und getötet, wenn auch nicht im gleichen Maß wie in Argentinien oder Chile. Jetzt wird die Geschichte neu aufgerollt. Staatspräsident Lula da Silva:

    "Es geht einfach darum, dass es 140 Familien gibt die bisher noch nicht ihre verschwundenen Angehörigen gefunden haben. Diese Menschen sollen das Recht haben die Leichen zu finden und sie zu begraben."

    Noch immer gelten 140 mit Sicherheit ermordete Oppositionelle als verschwunden. Lulas Plan, ihr Schicksal mit Hilfe einer Wahrheitskommission aufzuklären, hat sich zur politischen Zeitbombe entwickelt: Die Kommission ist Teil eines "Nationalen Menschenrechtsplanes", der salopp gesagt alle Übergriffe und Ungerechtigkeiten des Staates vor allem gegenüber Minderheiten prüfen und ausmerzen soll. Ariel de Castro Alvez, Anwalt für Menschenrechtsfragen:

    "Das sind die Schwarzen, Frauen, die Gewalt erlitten haben, sexuell ausgebeutete Kinder und Menschen in armen Verhältnissen. Dies ist unsere Sichtweise der Menschenrechte - innerhalb des Universalitätsanspruches der Menschenrechte gibt es Sektoren, die vom brasilianischen Staat und von den Menschenrechten bevorzugt werden müssen."

    Der Universalanspruch des Menschenrechtsplanes sorgt dafür, dass die Regierung aus allen Ecken attackiert wird. Die katholische Kirche wettert gegen die geplante Straffreiheit für Abtreibung, Großgrundbesitzer fühlen sich gegenüber Landlosen diskriminiert, und die komplette Militärführung und der Verteidigungsminister drohen mit Rücktritt. Menschenrechtsvertreter wie Anwalt Alvez wehren sich:

    "Leider gibt es hier immer noch eine starke faschistische Mentalität in verschiedenen Sektoren Brasiliens. Besonders in der Landwirtschaft, in Teilen der katholischen Kirche, und bei Teilen des Militärs. Deshalb werden wir alles tun, um tatsächlich die Wahrheits- und Erinnerungskommission zu bekommen."

    Zumindest die Militärs haben ein nicht von der Hand zu weisendes Argument. 1979, also noch vor Ende der Diktatur, wurde ein Amnestiegesetz verabschiedet, dass Verbrechen sowohl des Militärs als auch der Guerilla straffrei stellte, um damit den Weg zurück in die Demokratie zu bahnen. Vor Wochen hatte Präsident Lula dem Militär versprochen, am Amnestiegesetz nicht zu rütteln und keine Militärs an den Pranger zu stellen. General Gilberto Figueiredo:

    "Eigentlich sollte etwas ausgehandelt werden, das für beide Seiten akzeptabel ist. Und dann wird plötzlich einfach dieses Dekret veröffentlicht, und in diesem finden sich einige Punkte, die nichts mit dem zu tun haben, was man vorher vereinbart hatte. Ich hoffe, dass das Dekret überarbeitet und neu formuliert wird, in dem Sinn, dass es der Befriedung der brasilianischen Gesellschaft dient."

    Tatsächlich taucht die Zusage Lualas in dem Entwurf des Planes nicht mehr auf. Außerdem prüft gerade der Oberste Gerichtshof, das Amnestiegesetz eventuell zu annullieren. Viele Militärs fürchten offenbar, dass zumindest frühere Kommandanten in Strafverfahren verwickelt werden. Keine Gefahr, meint der frühere Justizminister Jose Gregorio:

    "Es gibt keinen politischen Druck und keine öffentliche Unterstützung für solch eine Position. Es ist undenkbar, dass derzeit in Brasilien, mit all den Problemen, die das Land hat, sich die Nation plötzlich mit der Frage beschäftigt, ob man alte Männer ins Gefängnis stecken soll, die damals dies oder das verbrochen haben."

    Trotzdem ist das Militär misstrauisch, und Lula steckt in der Klemme, zumal andere Minister mit Rücktritt drohen, falls er den Entwurf wieder aufweicht. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen bestürmen Lula, dem Druck des Verteidigungsministers und der Militärs nicht nachzugeben, wie der Politikwissenschaftler Amaury de Souza:

    "Alle Dokumente müssen freigegeben werden und den Menschen zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine unbedingt notwendige Maßnahme. Man kann nicht einen Teil des Gedächtnisses dieses Landes für verboten erklären. Daran besteht kein Zweifel. Und man muss sagen, wo die Verschwundenen sind, wo die Knochen liegen. Die Familien müssen sie beerdigen können."

    Präsident Lua hat sich erstmal in den Urlaub verabschiedet. Skeptiker fürchten, dass er in seinem letzten Amtsjahr vor den Neuwahlen im Oktober sein überaus positives Image mit dem brisanten Plan nicht in Gefahr bringen will und ihn deshalb auf die lange Bank schiebt. Möglicherweise verlagert sich das Problem auch ins Abgeordnetenhaus, das den Plan in insgesamt 34 Gesetze gießen muss. Justizminister Tasso Genro hofft, dass sich alles noch irgendwie in Wohlgefallen auflöst:

    "Es gibt gar kein einziges Dokument, in dem jemand seinen Rücktritt anbietet, und es gibt auch keinen unheilbaren Konflikt zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Sekretariat für Menschenrechte. Da ist alles vollkommen ruhig. Präsident Lula wird das mit seinen Verhandlungsfähigkeiten klären, wenn er aus dem Urlaub kommt."

    Aus dem Präsidentenpalast heißt es, das jetzt generell Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit von 1946 bis 1988 untersucht werden sollen, und nicht mehr speziell die der Militärdiktatur. Ob das Lavieren letztlich Erfolg hat, ist fraglich. Es könnte sein, dass das ganze Gesetzespaket erst unter dem neuen Präsidenten oder der Präsidentin auf den Weg kommt. Die Kandidatin der Lula-Partei ist Djilma Rousseff, die selbst während der Diktatur gefoltert wurde. Möglicherweise ist den Militärs eine "sanfte Version" der Wahrheitskommission unter Lula lieber, als auf eine härtere Version der möglicherweise neuen Präsidentin zu warten.