Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Schwul sein ist nach Kriegsende ein Tabu

Der Bundesrat bringt eine Initiative ein, dass auch Nachkriegsopfer des Schwulen-Paragrafen 175 rehabilitiert werden. Etwa 50.000 Männer wurden strafrechtlich verfolgt.

Von Susanne Grüter | 11.10.2012
    "Es war ein Wettlauf gegen die Polizei. Eine sturmfreie Bude hatte kaum jemand, man ging in die Trümmer. Dann haben wir uns immer zu zwei Paaren zusammengeschlossen, zwei Mann standen auf der Straße und haben gewartet. Und wir hatten verabredet, wenn die Polizei kommt, dann haben wir gerufen, seid ihr bald fertig, wir wollen weiter."

    Karl-Heinz Scherer sitzt in seinem Lieblingscafé in der Kölner City.

    "Es war eine wirklich schlimme Zeit, ewig gejagt zu werden. Und wenn man einen Polizisten entgegenkommen sah, dann dachte man, hach, hoffentlich kommt der nicht zu dir."

    Heutzutage genießt Scherer seinen Kuchen in einem Café, in dem sich viele Schwule und Lesben treffen. Nach Kriegsende undenkbar. Kontakt zu Homosexuellen - ein Tabu. Er selbst hat Glück, wird nie erwischt. In den 80ern erfährt sein Arbeitgeber, eine Versicherung, dass er schwul ist, sein Chef hält zu ihm. Lange hadert der tief gläubige Katholik mit sich selbst, geht immer wieder zur Beichte. Erst, als ihm nach Jahren ein Priester rät, er solle sich so annehmen, wie Gott ihn geschaffen habe, geht es ihm besser. Er gründet die Ökumenische Arbeitsgruppe "Homosexuelle und Kirche" mit. Dort engagiert sich auch Manfred Bruns, der 78jährige ehemalige Bundesanwalt am Bundesgerichtshof:

    "Man muss zunächst einmal sagen, dass sich die Bundesrepublik in den 50er-Jahren nicht als pluralistische Demokratie verstanden hat, sondern als einen Staat, der sich den christlich-abendländischen Wertvorstellungen verpflichtet fühlte und es als seine Aufgabe sah, im Zusammenwirken mit den Kirchen diese Vorstellungen zu verteidigen."

    Infolge trifft die Schwulen die volle Wucht des Paragrafen 175.

    "Es waren mehrjährige Gefängnisstrafen oft. Und dem Mann wurde die Fahrerlaubnis entzogen. Und, na ja, er bekam auch keine Arbeit mehr. Es sind in den 50er-Jahren verhältnismäßig viele homosexuelle Männer aus Verzweiflung über diese Verfolgungsjagd freiwillig aus dem Leben geschieden. Es ist sogar vorgekommen, dass Leute, die von den Alliierten aus den Konzentrationslagern befreit worden sind, dann zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder eingesperrt worden sind."

    Manfred Bruns geht davon aus, dass etwa 50.000 Männer strafrechtlich verurteilt worden sind. Auch auf seinem Tisch landeten solche Urteile.

    "Es hat mich sehr belastet, aber ich konnte es auch nicht ändern. Was ich ab den 80er-Jahren gemacht habe, das war auch letztlich der Anlass dafür, dass es dann zu meinem öffentlichen Coming Out kam. Ich habe mich sehr nachdrücklich für die Änderung der Strafvorschrift eingesetzt."

    Das sorgte für große Aufregung in seiner Behörde.

    "Damals war der Generalbundesanwalt Rebmann mein Vorgesetzter, ein außerordentlich konservativer Mann, der damit gar nicht umgehen konnte. Ich bin dann als Sicherheitsrisiko eingestuft worden, auf einen anderen Arbeitsplatz versetzt worden, er hat einmal Strafanzeige gegen mich erstattet und so weiter. Na ja.".

    Manfred Bruns – ein Opfer des Paragrafen 175. Die Preußen führen ihn ein, die Nationalsozialisten verschärfen ihn, die Bundesrepublik übernimmt ihn in der NS-Fassung bis 1969 und schafft ihn 1994 ab. Die während der NS-Zeit Verurteilten sind inzwischen rehabilitiert – die während der Nachkriegsjahre nicht. Die Bundesratsinitiative will das ändern. Doch bislang scheuen sich Union, FDP und SPD, rückwirkend in die Rechtsprechung einzugreifen. Viele SPD-regierte Länder wollen aber den Antrag unterstützen, wonach der Bundestag die Sache prüfen soll. Karl-Heinz Scherer, der Kölner Senior, hofft auf eine Geste, mehr nicht.

    "Was da geschehen ist, kann man im Grunde nicht wieder gutmachen. Da ist seelisches Leid, dass es Leute gibt, die sind heute seelische Krüppel, die da nicht mit fertig geworden sind, besonders die, die im Gefängnis gesessen haben. Das sind heute alte Leute, 70/80 Jahre und noch älter, wenn sie noch leben. Aber die leben so zurückgezogen."

    "Schönen Gruß an Ralph von Karl-Heinz, tschüss."

    Scherer schreibt seit 13 Jahren für das bundesweite Schwulenmagazin Box.

    "Guten Tag, Michael, ich komme, um meinen neuen Artikel abzugeben."

    Box-Chefredakteur Michael Zgonjanin erwartet ihn schon. Wenn es um den Paragrafen 175 geht, ist Karl-Heinz Schreiber ein wichtiger Zeitzeuge und Berater für die Redaktion.

    "Karl-Heinz hat ja unendlich viel dazu zu sagen, der war ja wirklich mittendrin."

    "Das war eine aufregende, erlebnisreiche Zeit, oft zum Verzweifeln und dann aber wieder auch Freude über die Erfolge, die wir erzielt haben."

    "Das finde ich auch, das kann man sagen. Man kann sich gar nicht genug bewusst machen, wie dramatisch die Veränderung in den letzten 50/60 Jahren vonstatten gegangen ist."

    "Ich habe die Hoffnung, dass der Bundesrat da Erfolg bringt. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, die Hoffnung stirbt zuletzt."