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Sechs Geschichten über das Verschwinden
Vertiefte Wirklichkeit

Die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig hatte sich 2010 mit "Flamingos" einen Namen gemacht. Mit "Buch gegen das Verschwinden" ist nun ihr neuestes sechs Kurzgeschichten umfassendes Prosawerk erschienen. Geschichten, die allerdings nicht an allen Stellen überzeugen können, meint Sabine Peters.

Von Sabine Peters | 11.05.2015
    Ulrike Almut Sandig, die zunächst als Lyrikerin bekannt wurde, leitet ihren zweiten Erzählungsband mit einem Gedicht ein. Das lyrische Ich imaginiert den 11. Dezember 2217. Einen Tag, an dem es kein "ich", kein "du" und kein "es" - das Kind, das in ihr wächst - mehr geben wird. Allerdings wird "man", werden unbekannte, unpersönliche Andere an diesem Tag wieder einmal einen Venustransit beobachten können, also das Vorüberziehen des Planeten Venus vor der Sonne.
    Dieses melancholische Gedicht wird in der letzten Geschichte des neuen Buchs als Prosa entfaltet: 2117 denkt eine ans andere Ende der Welt gereiste alte Frau, eine fantasierte Urenkelin von Sandig, über Abwesenheit und Vergangenheit nach – und darüber, was an Erinnerungen bleibt.
    Programmatisch und banal zugleich
    "Buch gegen das Verschwinden": Das ist ein programmatischer, großer Titel, - und als Erzähl-Vorsatz dann auch wieder eine banale Selbstverständlichkeit. Das Verschwinden in diesem Buch kann höchst dramatisch sein; etwa, wenn ein Mann bei einer Wanderung durchs Engadin im Schneesturm verloren geht. Aber in dieser Geschichte werden allerhand Kulissen aufgetürmt, hinter denen nicht viel steckt.
    Eine andere der sechs Erzählungen beginnt harmloser, nicht gleich mit dem Kampf des Menschen gegen die Gefahren der Natur: Ein Mann, sein kleiner Sohn und seine neue Freundin machen Ferien bei einem Freund des Mannes. Der Mann wird eifersüchtig auf alles und nichts; er stößt die Freundin zu Boden, später schlägt sie ihn.
    Die Erzählerin mischt sich ein und erklärt, ihr Vater finde ihre Geschichten bedrückend. Ob denn immer Gewalt und Verlust stattfinden müsse? Die Geschichte wird fortgesetzt; jetzt geht das Kind verloren, schließlich taucht es wieder auf. Wieder kommt die Erzählerin auf ihren Vater zu sprechen. Er kritisiert die schreibende Tochter für die Kürze ihrer Geschichten – daraufhin setzt das Erzählen wieder ein: Die Freundin sagt dem Mann endlich, was der Leser und sie schon länger wissen: Sie hat zwei Herzen, sie ist schwanger. Sie spricht weiter.
    Die Metaebene mit dem Auftauchen der Erzählerin gibt vor, man könne den Entstehungsprozess des Textes nachvollziehen. Wörtlich gelesen: Der Vater fordert, und die kunstschaffende Tochter liefert. Kein sehr erfreulicher Impuls fürs Schreiben. Aber warum sollte man ihn glauben?
    Auch wenn hier die folgsame Tochter inszeniert wird: Innerhalb des Schreibspiels bestimmt der Schreibende, auch wenn er Instanzen wie Vater oder Gott einführt. Wesentlicher ist, dass Sandig mit dieser Meta-Ebene einen Verfremdungseffekt in ihre Geschichte einbaut: Der Leser soll nicht einfach mitschwimmen, sich tragen lassen. Diese Prosa schildert nicht nur Vorgänge, sie zeigt auch, d a s s sie Vorgänge zeigt.
    In einer Art Fußnotensammlung unter dem Titel "Sonntag" erklärt Sandig: Ob eine Erzählung gut endet, hängt davon ab, wo der Erzähler aufhört. Ein einfacher und doch vertrackter Kommentar. Eine Regieanweisung für andere Geschichten. In Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, endeten Märchen gut; zumindest für die Guten.
    Realistisches und Surreales
    Sandigs Geschichten haben realistische Elemente, aber dann heben sie ins Märchenhafte, in den Raum des Wünschens ab. Das Wünschen kann, wie in der "Geburtstagsgeschichte", eine grausame Selbsttäuschung sein, eine realitätsblinde Schönfärberei. Und es kann, das lässt sich kaum trennen, auch ein Trost werden, eine Herzensstärkung. In der besten Erzählung geht es um einen Witwer, der seine Frau so sehr vermisst und nur wenige Leute vom Pflegedienst sieht; aber sie werden Freunde. In seiner Wohnung bekommen die Gegenstände ein seltsames Leben; manchmal scheint es, als wäre seine Frau gerade dagewesen.
    Der Alte will zum Geburtstag seiner Frau ein Fest feiern, bereitet sich vor - alle werden staunen, wie gut er und die Ehefrau es haben. Der Leser weiß, der Mann ist krank, wohl kurz vor dem eigenen Tod, aber die Geschichte endet mit seiner leuchtenden Vorfreude auf das Fest. Schreiben als "Zuschreibung". Das Wünschen soll mal helfen, der Horizont soll offen bleiben.
    Nicht alle sechs Geschichten überzeugen insgesamt so wie diese an Rayomond Carver oder Theodor Weißenborn geschulte Erzählung. Manche einzelne Passagen wirken unmotiviert, künstlich verrätselt.
    Trotzdem ist Ulrike Almut Sandig auch im Bereich der Prosa eine gute Autorin – ihre Sätze machen kein Getue, sie sind leise, unangestrengt, melodiös. Und: Diese Prosa wird nicht prosaisch. "Wirklichkeit" lässt sich keinesfalls auf deren messbare Elemente reduzieren. Wo Unmessbares wie Angst, Verzweiflung, Traum und Wunsch entfaltet wird, gleiten die Geschichten ins Surreale. Das ist keine Fluchtbewegung. Das ist eine Möglichkeit, Wirklichkeit zu vertiefen.
    Ulrike Almut Sandig: "Buch gegen das Verschwinden. Geschichten",
    Schöffling & Co, 209 S, 18,95 Euro.