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"Second Life" im Netz

Seit es Computer und virtuelle Welten gibt, ist bei jungen Menschen der Wunsch nach einer anderen Identität gewachsen. Dahinter steckt zumeist das Bedürfnis, einer sozialen Rolle zu entweichen, um die eigenen Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeiten auszutesten.

Von Robert Schurz | 17.10.2010
    Nach Pressemeldungen ereignete sich vor einigen Monaten in irgendeinem Arbeitsamt der Republik eine denkwürdige Episode. In seinem sogenannten Eignungstest erwähnte ein junger Mann neben anderen Fertigkeiten seine ausgezeichneten Fähigkeiten als Druide. Als der Leiter des Tests nachfragte, was es genau mit dieser Qualifikation auf sich habe, erzählte der Kandidat von seiner zweiten Existenz; er verbringe etwa sechs Stunden am Tag in der sogenannten World of Warcraft, also vor seinem PC, und lebe die Hälfte seiner Wachzeit in dieser fiktiven Welt. Dabei habe dieses Computerspiel durchaus starke Verbindungen zur Realität, denn erstens gehe es dort, wie im wirklichen Leben auch, ums Kämpfen, Siegen und Überleben, und zweitens stehe er ja in einem realen akustischen Kontakt, auch noch in Echtzeit, zu seiner Gilde.

    Mittlerweile habe sich aus dieser Gilde, eine Art Spielergemeinschaft, echte Freundschaften entwickelt und er kenne überdies auch viele seiner Warcraft-Genossen von Angesicht zu Angesicht. Selbst in diesen realen Kontakten sei er nun als Druide gefragt, als Kundiger und Mittler, als Ratgeber und Geheimnishüter. Er habe sich den Charakter des Druiden richtiggehend aneignen müssen, denn um ein guter Druide zu sein, bedarf es harter Arbeit und wenn man als Druide sich in World of Warcraft behaupten könne, so wäre man auch in der Lage, in der realen Arbeitswelt zu bestehen.

    Sehr viele junge Menschen bis etwa vierzig Jahre verbringen einen guten Teil ihres Lebens in diesen fiktiven Welten, und es werden immer mehr. Aus der Spielbeschreibung:

    "Der virtuelle Charakter des Spielers wird in World of Warcraft durch Erfahrungspunkte und neue Gegenstände immer stärker. Mit steigender Spieldauer wird die eigene Figur immer wertvoller, so dass das Aufhören zunehmend schwerer fallen kann. Die Pflege und Weiterentwicklung der virtuellen Spielfigur, das Ansammeln von Erfahrungen und Ausstattung und das Erreichen höherer Rangstufen kann Gefühle von Stolz, Selbstvertrauen und Erfolg vermitteln. Durch kontinuierliches Spielen kann man die eigene Reputation aufbauen und die Respektbezeugungen anderer Mitspieler schenken Aufmerksamkeit und ermöglichen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Hierdurch entstehen emotionale Bindungen an die Spielewelt."

    Aber auch die Anzahl der fiktiven Welten nimmt zu. Vor World of Warcraft war es etwa das Spiel Second Life, das viele Menschen in seinen Bann zog und immer noch zieht. Künstliche Welten und das Internet allgemein eröffnen ungeheure Möglichkeiten, seine Identität zu wechseln, in eine andere Rolle zu schlüpfen, und die Folgen sind enorm. Um aber diese Folgen einigermaßen würdigen zu können, muss zunächst die Frage gestellt werden, was es mit diesem Bedürfnis nach einem "second life" auf sich hat. Aber geht das überhaupt, seine Identität zu wechseln?

    Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel versucht zu zeigen, dass die Erfahrung des Anderen der eigenen Erfahrungswelt prinzipiell verschlossen bleibt.

    "Unsere eigene Erfahrung liefert den Grundstoff für unsere Vorstellungskraft, deren Reichweite dementsprechend begrenzt ist. Der Versuch ist nutzlos, sich vorzustellen, man habe Häute an seinen Armen, dank derer man in der Dämmerung umherfliegen und mit dem Mund Insekten schnappen könne; man habe nur eine sehr schwache Sehkraft und nehme die Umgebung mittels eines Systems reflektierter hochfrequenter Schallsignale wahr; und den Tag verbringe man, mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehängt, auf einem Dachboden. Soweit ich mir das vorstellen kann, sagt es mir nur, wie es für mich wäre, wenn ich mich so benähme wie eine Fledermaus. Aber das ist nicht das, was ich wissen will. Wissen will ich, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein."

    Auch wenn man Insekten verspeisen und sich per Ultraschall orientieren würde, - man wird nie wissen, wie eine Fledermaus sich fühlt. Doch darum geht es letztlich beim Bedürfnis nach Second Life nicht. Auch den jungen Mann beim Arbeitstest interessiert nicht in erster Linie, wie sich ein Druide fühlt; er will vielmehr von seinen Mitspielern als Druide wahrgenommen werden. Sicher kann man auch das Bedürfnis entwickeln, die Erfahrung eines Ultra-Schall-Sinnessystem machen zu wollen, aber das impliziert noch lange nicht, dass man eine Fledermaus sein will.

    Zudem kann man Vergnügen daran finden, jemand anderen das Blut auszusaugen, und in der Tat gibt es eine Menge Rollenspiele, bei welchen die Figur des Vampirs eine zentrale Rolle einnimmt. Aber wer will schon eine Fledermaus sein? Ein Mensch wird nie deren Erfahrung machen, einfach deshalb, weil er von anderen Menschen nicht als Fledermaus behandelt wird.
    Den Reiz an der anderen Identität gibt es beileibe nicht erst, seit dem es Computer und virtuelle Welten gibt. Schon immer haben Menschen das Bedürfnis gehabt, in die Haut eines anderen zu schlüpfen, sich selber als anderen zu erfahren. Wichtig ist, dass Identität immer und ausschließlich soziale Identität bedeutet: Auch World oft Warcraft und Second Life verdanken ihre Attraktion wesentlich dem Umstand, dass sie in erster Linie auf sozialen Interaktionen aufbauen. Wer wir sind, so hat schon der französische Philosoph Jean-Paul Sartre ausführlich dargelegt, erfahren wir immer nur, indem wir etwas für Andere sind. Wir kennen uns selber nur durch das, wie andere auf uns reagieren.

    Wenn wir allein auf einer Insel wären, wäre der Begriff der Identität irrelevant. Das Bedürfnis nach Second Life ist also primär das Bedürfnis, einer sozialen Rolle zu entkommen, die die eigenen Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeiten einschränkt. Das gilt nicht nur für Menschen: Auch der Göttervater Zeus fand es amüsant, ab und zu als Schwan oder in anderer Tiergestalt sich ausgesuchten Damen zu nähern. Diese Auserwählten hätten ihn wohl, wenn er sich ihnen in seiner sozialen Identität als oberster Gott genähert hätte, zurückgewiesen.

    Zeus unterscheidet sich diesbezüglich gar nicht so sehr von einem Herrn Meier oder Herrn Müller, die sich zu Fastnacht gleichfalls ihrer sozialen Identität entledigen, um dann als Pirat oder Batman sich ebenso diversen Frauen zu nähern wie die höchste antike Gottheit. Das sexuelle Abenteuer ist ein zentrales Motiv der Verkleidung und nicht zufällig haben auch beim Computer-Spiel Second Life mittlerweile die sexuellen Inhalte überhand genommen.

    Es muss aber nicht immer Sex sein; das Ausleben kann auch andere Erfahrungen betreffen und World of Warcraft bietet zum Beispiel, um hier nur einen Teil der Möglichkeiten zu nennen, Erfahrungen als Druide, Hexenmeister, Jäger, Krieger, Magier, Paladin, Priester, Schamane, Schurke und Todesritter. Das Bedürfnis nach Erfahrungen, nach Erlebnissen und Abenteuern, die die eigene soziale Identität nicht zulässt, ist mithin ein erstes wichtiges Motiv für Second Life. Man legt sich eine andere Identität zu, um etwas auszuleben, was man innerhalb seiner eigenen sozialen Identität nicht ausleben kann, wobei dieses Ausleben immer darauf beruht, dass die jeweilige soziale Umwelt diese Identität akzeptiert, - im weiteren Sinne also getäuscht wird.

    Ein anderes Spiel betreibt Günter Wallraff, denn er will sich nicht bloß ausleben: Er hat eine Mission zu erfüllen. Der Schriftsteller nimmt die Identität eines Afrikaners an und er verfolgt damit einen anderen Zweck als der Pirat bei Fastnacht. Er will wissen, wie ein Afrikaner behandelt wird, wie man sich als Afrikaner fühlt.

    Warum ist das aber für Wallraff interessanter, als einen Afrikaner zu befragen, wie es sich so in der Bundesrepublik lebt? Nun, da gibt es Grenzen der Kommunikation, - davon geht zumindest Wallraff aus, denn er glaubt an die Hypothese, dass man gewisse Dinge selbst erlebt haben muss, um zu begreifen. In der Tat geling es ihm, von anderen wie ein Afrikaner behandelt zu werden, was sicherlich kein Genuss ist.

    Der Zweck dieser Erfahrung steht in Diensten einer Mission: nämlich der, von sozialen Ungerechtigkeiten authentisch berichten zu können. Wallraff verleiht den Afrikanern, die keinen Zugang zu den Medien haben, eine Stimme.

    In die Logik des Identitätswechsels zwecks Mission fällt übrigens auch die Spionage. Hatte der verkleidete persönliche Referent von Willy Brandt, Günther Guillaume, nicht auch eine Mission? Festzuhalten ist: Neben dem Ausleben jener Wünsche, das sich innerhalb des eigenen sozialen Kontext als unmöglich gestaltet, ist das Motiv der Mission ein zweites Motiv für Second Life. Einen weiteren wichtigen Aspekt des Identitätstausches erfahren wir bei Old Shatterhand. Eine typische Szene:

    "’Charly’, erwiderte ich, ihm meinen Vornamen nennend, der auch mein Familienname sein konnte. Ihm zu sagen, dass ich dieser Old Shatterhand sei, fiel mir nicht ein. ‚Ein richtiger Westmann sieht anders aus’, sagte Webster. ‚Wir werden euch beschützen.’ Wenn ich mich im anschloss, und er dann erfuhr, wer ich war, so waren ergötzliche Szenen zu erwarten. Dazu kam, dass mir das nützlich sein konnte."

    Dieser Held des Wilden Westens legt sich immer wieder eine Rolle zu, und zwar als Nicht-Held. Er genießt es, als scheinbares Greenhorn unterschätzt zu werden. Zwar hat das auch einen vernünftigen Grund, aber das eigentliche Motiv dieses Versteckspiels liegt woanders. Old Shatterhand triumphiert, wenn er seine wahre Identität zu erkennen gibt, denn nun kann er seine ganze Herrlichkeit ausspielen. Hier steht der Identitätswechsel im Dienste der Erhöhung des eigenen Ichs und bringt, um hier einen psychologischen Fachterminus zu benutzen, narzisstischen Gewinn oder anders gesagt: Diese Form von Second Life bedient Größenfantasien.

    Nun ist aber Old Shatterhand selber eine fiktive Identität eines armen Mannes aus Sachsen, der sich in die Rolle des Westernheldens hineingeschrieben hatte und schließlich selber die Rolle derart perfekt spielte, als er wäre er, Karl May, wirklich die von ihm erfundene Figur. Das narzisstische Spiel verdoppelt sich: Zum einen ist da das arme Würstchen Karl May, der sich das Gefühl gibt: Wenn ihr wüsstet, dass ihr den gefürchtetsten Mann des Wilden Westen vor euch habt! Und dieser Karl May erfindet einen Old Shatterhand, der sich wiederum im Wilden Westen als harmloses sächsisches Würstchen ausgibt, um dann dort als Old Shatterhand um so stärker zu triumphieren.

    Das Spiel mit der eigenen Identität ist auch Thema von Mister Hyde und Mister Jekyll: Zunächst lebt sich Mister Jekyll als Mister Hyde aus, doch dann entgleitet ihm dieses Second Life. Immer öfter verwandelt er sich, ohne dass er es stoppen kann, in den Bösewicht. Die Geschichte um Jekyll und Hyde wurde so gedeutet, dass die beiden Identitäten von vorneherein vorhanden gewesen wären, - dass also die Erzählung eine Allegorie dafür sei, dass ein Mensch immer auch eine Art Schattenidentität habe, - dass er aus mannigfachen Begierden, Leidenschaften und Charakterzügen, die zudem noch widersprüchlich-ambivalent sein können, zusammengesetzt sei.

    Aber das ist noch nicht alles: Der entscheidende Punkt dieser Geschichte ist, dass Mister Jekyll anscheinend süchtig geworden ist; er verliert die Kontrolle über seine Verwandlungskünste und seine zweite Identität macht sich selbständig. Am Ende ist es nicht mehr das Bedürfnis, etwas auszuleben oder der Ruf einer Mission oder Größenfantasien: Am Ende ist es die pure Sucht, die Jekyll zu Hyde werden lässt.

    Diese vier Aspekte des Second life: Ausleben, Mission, Narzissmus und Sucht spielen - in unterschiedlicher Gewichtung - bei allen Formen des Identitätswechsels eine Rolle. In unserer Gegenwart aber erhalten diese Motive durch die Möglichkeiten der Mikroelektronik entscheidend neue Dimensionen der Realisierung. Das führt zur Frage des Mediums: Anscheinend reicht der bloße Gedanke, die Fantasie, der Tag- oder der Nachttraum nicht aus; - der Mensch greift auf ein Medium zurück, um dem Wunschbild Gestalt zu verleihen.

    Das ursprüngliche Medium des Second Life ist der Kult, eben jenes Spektakel, in dem auch die Maske ihren Ort hat. Für das Abendland hat Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie das dionysische Mysterienspiel als Kompromiss zwischen der triebhaften Barbarei und den Anforderungen einer vergeistigen Zivilisation beschrieben, als kanalisierten Ausbruch aus den Fesseln der sozialen Identität.

    Es war einerseits ein bacchantischer Taumel entfesselter Triebe, andererseits aber auch ein reglementiertes Zeremoniell. Im dionysischen Kult sind beide Momente enthalten: das spontane, archaische Ausleben und das kultiviert-distanzierte passive Erleben. Der Kult war Theaterstück und Orgie zugleich.

    Diese beiden Momente, die heute im Computer auf neue Art und Weise vereinigt werden, haben sich im Laufe der Geschichte auseinanderentwickelt. Im bürgerlichen Theater ist das Publikum angehalten, völlig still zu sitzen und an der Handlung nur geistig teilzunehmen. Der einzelne Zuschauer mag sich als Faust, Hamlet oder Peer Gynt fühlen, und das Gefühl wird um so intensiver sein, je plastischer der Schauspieler die Rolle darstellt. Um aber dabei vollständig in eine andere Welt entrückt zu sein, muss der Zuschauer noch ein gewisses Maß an Vorstellungsarbeit leisten.

    In der Folge des Theaters war es das Kino, das diese Entrückung ein Stück vorangetrieben hat. Die Szenerie des anderen Lebens rückt näher an die Sinne, der Konsument wird quasi eingesogen ins Geschehen auf der Leinwand. Gerade dadurch, dass es nun keine leibhaften Menschen mehr sind, sondern deren Abbilder, die das andere Leben vorleben, wird es dem Zuschauer leichter gemacht, sich entsprechend hinein zu versetzen.

    Doch beim bloßen Film bleibt es nicht: Die dreidimensionalen Spielfilme unserer Gegenwart versuchen, eine realen Erlebnisraum herzustellen und schon wird mit Geruchskino experimentiert. Allein das Kino hat Grenzen, die es nicht übersteigen kann.

    Was aber dem Kino verwehrt ist, - die vollständige Simulation einer anderen Realität, - das vermag die Künstliche Intelligenz. Sie überbrückt im sogenannten Cyber-Space den Abstand zwischen vorgespielter Wirklichkeit und dem Konsumenten, indem sie dessen Körper direkt an eine Maschine anschließt. Der Zuschauer ist nun durch die Leinwand hindurchgegangen und agiert mitten im Geschehen. Er kann nun etwa, entsprechend verkabelt, eine Reise nach Patagonien erleben; die Winde, die Gerüche, die Oberfläche der Vegetation, die optischen Stimmungen: All das kann direkt von der Maschine auf die Sinnessysteme übertragen werden.

    Der Endpunkt dieser Entwicklung ist die vollständige Integration der menschlichen Wahrnehmung in eine künstliche Welt, eine Cyber-Welt. Das Erlebte wird dann insofern zur Realität, als unser Sinnessystem das einzige Werkzeug ist, das uns von einer Wirklichkeit Nachricht gibt. Zwar wissen wir, wenn wir in eine derartige Welt eintreten, dass wir es mit einer solchen zu tun haben, aber das schmälert nicht die Erlebnisqualität, wie zahlreiche Erfahrungsberichte nahe legen.

    Unsere Realität steht in der Tat kurz vor der massenhaften und kommerziellen Verbreitung solcher Erlebnisangebote in der Cyber-World. Und es bleibt nicht beim passiven Erleben: In Patagonien will man sich ja auch bewegen und schauen, wie es hundert Meter weiter vorne aussieht. Die Mikroelektronik kann nicht nur Sinnesreize vermitteln, sie kann auch die Bewegungen des Konsumenten ins künstliche Geschehen integrieren. Der sogenannte Joy-Stick ist die erste Form dieser Verdrahtung: Mit seiner Hilfe lässt sich etwa in einer fiktiven Dschungel-Welt ein virtueller Tarzan selbständig bewegen. Im nächsten Schritt kann die Maschine Bewegungen des ganzen Körpers in die aktuelle Szenerie integrieren. Man spielt heute mit einem realen Tennis-Schläger auf einem fiktiven Feld mit einem fiktiven Ball.

    Auf dem Markt sind bereits verdrahtete Ganzkörperanzüge, mit denen etwa Cyber-Sex möglich sein soll: Das heißt, ein Programm hat die Beischlafbewegungen, die Geräusche, vielleicht auch die Gerüche eines realen Aktes aufgezeichnet und überträgt nun diese Daten auf den Ganzkörper-Anzug, der entsprechende Empfindungen beim Konsumenten hervorruft. Solches Spielzeug aber benutzt vorerst nur die Avantgarde, ein Spielzeug, das wie im dionysischen Mysterienkult das aktive und das passive Moment des Second life vereinigt.

    Dieser zweite Strang von Second Life, die aktive Rollengestaltung, hat ebenfalls eine eigene Geschichte. Seit der Frühzeit der abendländischen Kultur haben sich Rollenspiele nicht nur im Umkreis von Theater und Mysterienspielen etabliert, sondern in der Form von Geheimbünden. Seit es städtische Zivilisationen gibt, so lange existieren auch Gruppen, die eine Mission verfolgen und deren Mitglieder eine doppelte Identität haben. Man bereitet einen Umsturz, eine bessere Welt vor und bis es soweit ist, muss man eben im Geheimen agieren.

    Der Deckname ist dabei ein typisches Merkmal der zweiten Identität: Lenin, Stalin, Trotzki etwa: Das waren Namen von Revolutionären, von subversiven Verschwörern, die dann im wirklichen Leben Uljanow, Dschugaschwili oder Bronstein hießen. Heute noch haben Sekten diese Struktur: Der Finanzmakler Schmidt nennt sich dann Rashni und kämpft dafür, dass ein indischer Guru endgültig die Welt beglücken kann. Die Welt der Freimaurer gehört ebenfalls hierher: Man ist im bürgerlichen Leben Bäcker oder Advokat und in diesem Second Life der Logen eben Zeremonienmeister, Schaffner oder einfach ein Lehrling. Wichtig ist hier der Aspekt der Mission: Man will in der realen Welt wirken und kann das nur, indem man seine wahre Absichten durch eine zweite Identität verdeckt.

    Das Moment der Weltveränderung tritt aber immer mehr in den Hintergrund, da die soziale Wirklichkeit sich zunehmend verhärtet gegenüber derartigen Ambitionen zeigt, und so verkommen derartige Gruppen zu bloßen Spielgemeinschaften. Heute existieren zahlreiche Gruppen, die dem Rollenspiel ohne dazwischen geschaltetes Medium frönen. So tummeln sich an entsprechenden Lokalitäten etwa Indianer oder Ritter oder sogar japanische Comic-Figuren. Die Struktur solcher Events ist jedes Mal ähnlich; da treffen sich Menschen, meist in Verkleidung und mit einen Pseudonym versehen, um zusammen ein zweites Leben zu gestalten.

    Man haust in Pfahlbauten oder Indianerzelten, frönt alten Bräuchen, singt vergessene Lieder; allein, eine Mission hat man dabei nur noch am Rande zu erfüllen. Zwar gibt es den Hauch des Modells eines besseren, naturnäheren oder sinnvolleren Lebens, aber das vorrangige Anliegen dieser Gruppen ist das reale Ausleben einer anderen Identität im Rahmen einer Gemeinschaft.

    Durch die Möglichkeit des Internets können sich solche Gemeinschaften - unabhängig von räumlichen und zeitlichen Einschränkungen - überall und jederzeit ausleben. Heutzutage gibt es unzählige solcher Gruppen im Netz, die sich an der Grenze von Realität und Virtualität konstituieren und eine eigenartige Dynamik aufweisen.

    Der einzelne Mensch kann im Netz eine beliebige Identität annehmen und hat dann zunächst eine Wirklichkeit in dieser Identität, sofern andere Menschen im Netz auf ihn reagieren. Eine Frau kann als Ralf Kontakt zu einem Mitglied der virtuellen Gemeinschaft herstellen, und dann mit einer Monika, die vielleicht in Wirklichkeit David heißt, einen Liebesbriefwechsel beginnen. Das spannende Moment dabei ist, dass Ralf und Monika reale Personen sind, die sich auch in der Wirklichkeit jenseits des Netzes treffen können.

    Der mögliche Übertritt aus der Virtualität in die reale Welt macht solche Netz-Beziehungen attraktiv und spannend, denn das Netz selber hat eine Wirklichkeit in der Realität oder besser: es durchdringt sie. So kann etwa ein Mann im Netz die Identität von Robin Hood annehmen und eine Frau becircen, wobei die Frau zwar weiß, dass es sich nicht wirklich um Robin Hood handelt, aber eben um den Robin Hood aus dem Internet.

    Der Mann kann dann die Kommunikation so weit treiben, dass er ein Treffen
    in der Realität vorschlägt. Zwar wird das meist entweder vermieden, oder es endet in einer Enttäuschung, aber das Besondere der Internet-Realität besteht eben darin, dass solche wirklichen Begegnungen jederzeit möglich sind, wobei sich virtuelle und reale Ebenen vermischen. Diese Vermischung geht so weit, dass es möglich ist, in der Second World sogar reales Geld zu verdienen. Man gründet eine virtuelle Firma, hat aber ein Konto in der Realität, das sich durch einen virtuellen Warenverkauf füllen kann.

    Was nun die Motive betrifft, so bedienen die künstlichen Welten drei davon in perfekter Weise. Da ist zunächst das Bedürfnis, etwas auszuleben. Im Cyber-Space hat man aber gegenüber dem realen Rollenspiel den Vorteil, dass man die Widerständigkeit des Mediums sozusagen einstellen kann. Musste Zeus noch damit rechnen, dass Leda den Schwan einfach wegjagt, so kann der Cyber-Spieler wählen, wie sehr sich Leda zieren soll. Es ist ein Ausleben, dass von vorneherein abgesichert ist. Der narzisstische Gewinn liegt gleichfalls auf der Hand: Man kann seine Größenfantasien beliebig bedienen und letztendlich kann man sogar die Rolle des Gottes wählen, falls man in der Lage ist, zu programmieren und die technischen Grenzen des Mediums derart auszureizen.

    Die Sucht, das dritte Motiv ergibt sich von selbst: Allein dadurch, dass der Spieler sein zweites Leben in der Regel lustvoll gestaltet, ergibt sich ein Abhängigkeitspotenzial. Die Biochemie der Sucht, die Ausschüttung von Transmittern bei Aktivierung von Lustarealen im Hirn, soll hier nicht weiter ausgeführt werden; es genügt der Hinweis auf bereits existierende Beratungszentren für Internet-Sucht und auch die WHO ist kurz davor, diese Form der Abhängigkeit als Krankheit anzuerkennen. Hinzu kommt: Das Suchtpotenzial der Cyber-Welt steigt mit dem Grad der Perfektion, mit dem sie die Realität simulieren kann.

    Das Motiv der Mission schließlich spielt im Internet kaum eine Rolle: Wenn man in einem Rollenspiel als Revoluzzer siegreich agiert, so wird das kaum Rückwirkungen auf die realen Machtstrukturen haben können. Ein traurige Ausnahme sind hier die Amokläufe an Schulen, welchen fast jedes Mal eine Gewalt-Rollenspiel-Karriere im Internet vorausgegangen war. Allgemein spielt aber die Rückkehr in die reale Welt keine Rolle, denn wer sich mit der Cyber-Welt einlässt, dem geht meistens das Interesse an unserer widerständigen Wirklichkeit verloren. Aber kann man diese Unterscheidung zwischen realer und Cyber-Welt überhaupt noch treffen? Es gibt Theorien, die das verneinen.

    "Es ist wichtig zu verstehen, dass die Vorstellung von der allgemeinverbindlichen Wirklichkeit in eine andere Kategorie gehört als die virtuelle Wirklichkeit, aber zwischen beiden gibt es Interaktionen auf vielen Ebenen. Es gibt Hoffnung, dass die virtuelle Realität vielen Menschen in der westlichen Zivilisation eine aufbauende Erfahrung mit multiplen Realitäten bieten könnte, eine Erfahrung, die ansonsten abgelehnt wird. (…) Ich hoffe, dass das auch zu mehr Toleranz und Verständnis führen wird."

    So schreibt Jaron Lanier, einer der Pioniere des Cyberspace, über die Zukunft der virtuellen Welten. Er sieht in der Möglichkeit der multiplen Realität (…) wesentliche Vorteile: (…) Allerdings ist die Frage, ob die Möglichkeit multipler Identitäten wirklich einen neuen Menschentyp erzeugt, noch längst nicht beantwortet.

    Von Sigmund Freud stammt ein Aufsatz über die "Ich-Spaltung im Abwehr-Vorgang". Darin schildert er den Fall eines kleinen Kindes, das einem Konflikt ausgesetzt ist und in einer eigenartigen Weise auf diesen reagiert:

    "Es ist also ein Konflikt zwischen dem Anspruch des Triebes und dem Einspruch der Realität. Das Kind tut aber keines von beiden, oder vielmehr es tut gleichzeitig beides, was auf dasselbe hinauskommt. (…) Einerseits weist es mit Hilfe bestimmter Mechanismen die Realität ab und lässt sich nichts verbieten, andererseits anerkennt es im gleichen Atem die Gefahr der Realität (…) und sucht sich später ihrer zu erwehren. (…) Beide streitende Parteien haben ihr Teil bekommen; der Trieb darf seine Befriedigung behalten, der Realität ist der gebührende Respekt gezollt worden."

    Second Life ist in dem Sinne auch eine Ich-Spaltung, aber auf welche Gefahr reagiert dieser kollektive Abwehrvorgang? Nun, auch das Maskenspiel, der Mysterienkult und das Theater können als Antwort auf Einschränkungen, Gefahren und Bedrohungen gedeutet werden. Wenn aber sich das Bedürfnis nach einer zweiten Identität epidemisch ausbreitet, so lohnt es sich, diese Gefahr zu spezifizieren. Heute, so lässt sich sagen, ist es das Individuum selbst, das sich bedroht wähnt. Der einzelne Mensch wird immer mehr zum bloßen Funktionsträger: Weder hat er eine Mission, noch kann er in dieser Realität seine Größenfantasien befriedigen, noch kann er in einem befriedigenden Maß jene Wünsche ausleben, die ständig von der Werbung und ähnlichen Veranstaltungen der Marktwirtschaft angeheizt werden. Zudem erlebt er sich als winziges, bedeutungsloses Rädchen in einer riesigen, anonymen Maschinerie, was wiederum unerfüllbare Größenfantasien nach sich zieht.

    Die Zunahme psychischen Leidens, gerade in den letzten 20 Jahren, also im Zeitalter des Internets und der Globalisierung, hat epidemische Ausmaße angenommen. Second Life ist eine mögliche Antwort auf die psychische Gefährdung jener Menschen, die in den westlich geprägten Zivilisationen leben, und vielleicht ist diese Antwort besser als die, sich mit Psychopharmaka zu betäuben. Aber umsonst, so schreibt ja Freud, ist der Tod. Der Preis für diese Antwort ist die Sucht und die dadurch bedingte Unfähigkeit, in der Realität sich irgendwie aktiv zu bewegen.

    In der Tat ist heute ein guter Teil der Menschen überflüssig geworden; diese aus dem Wirtschaftsprozess ausgegliederten Personen empfangen sogenannte Transferleistungen und ziehen sich in die ihnen zustehenden 40 Quadratmeter zurück. Dort leben sie über den PC: Sie unterhalten sich über das Netz, kaufen ein, lassen sich eine Pizza kommen und halten Kontakt zu den Behörden. Sie müssen ihre Wohnung nicht verlassen, um nach außen in die Realität zu gehen. Stattdessen gehen sie in elektronisch generierte Welten und erleben dort ein vielleicht lebenswerteres Leben.

    Die Motive von Ausleben, Mission und Größenfantasie werden dabei immer schwächer, weil der Wechsel zwischen den Welten immer schwerer fällt. Übrig bleibt die bloße Sucht. Und wie Freud dem Knaben prophezeit, dass der Riss in seinem Ich immer größer werden wird, so dürfte auch die Fähigkeit der User verloren gehen, den Wechsel zwischen diesen Welten nach eigenem Belieben zu gestalten und zu steuern. Aus dem Genuss wird eine Notwendigkeit.

    Zu Beginn der Überlegungen stand das menschliche Urbedürfnis, jene Wünsche auszuleben, die der sozialen Identität nicht gemäß sind. Dafür gibt es die Maske und das göttliche Vorbild der Verwandlung. Der dionysische Kult ist die große Allegorie des Maskenspiels, in der Verbotenes und Erlaubtes in eine Kompromissformel gebracht ist und den Beginn der institutionalisierten zweiten Identität markiert. Die einzelnen Motive, die diesem Urbedürfnis folgen, sind als Ausleben, als Mission, als Narzissmus und als Sucht benannt worden, wobei die Sucht schon ein Folge-Motiv darstellt.

    Zwei Stränge ziehen sich hernach durch die abendländische Zivilisation: ein passiver über Theater, Kino hin zum PC und zur Cyberworld; ein aktiver über Sekten, Geheimbünde über die modernen Freizeit-Rollenspiel-Gruppen bis zur den Gemeinschaften im Internet. Maßgeblich dabei ist, dass die zweite Identität eine eigene soziale Realität haben muss. Mit dem Internet und der Mikroelektronik ist nun eine Technologie gegeben, die das Bedürfnis nach einer zweiten Identität und die einzelnen Motive nahezu perfekt bedient.

    Diese Technologie stellt auch eine wie auch immer fragwürdige Antwort auf die zunehmende psychische Verelendung der Menschen in unserer technischen Zivilisation dar. Und noch ist das mögliche Ausmaß dieser Entwicklung nicht abzusehen. Bedenkt man, dass heute Kinder schon im Grundschulalter darin geübt werden, solche zweiten Identitäten am Computer zu inszenieren, so stellt sich letztlich die Frage, ob es das Leben selber sein wird, das ins Netz auswandert.