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Seelische Verheerung

Im Kriegsjahr 1944 kehrt Leutnant Dieter Thomas zu einem Heimaturlaub in die Pfalz zurück. Eine sommerliche Idylle der Ruhe und des Friedens. Doch die Erfahrungen von der Ostfront holen den jungen Wehrmachtssoldaten ein.

Von Angela Gutzeit | 11.08.2010
    Es ist sehr heiß als der junge Leutnant Dieter Thomas sein pfälzisches Heimatdorf erreicht. Die Kornfelder wiegen sich in der Sonne. Vom Zug aus erkennt er die Kirchturmspitze des Ortes hinter den Hügeln. Eine sommerliche Idylle der Ruhe und des Friedens - mitten im Kriegsjahr 1944. Dass diesem Blick des Soldaten, dem wir als Leser folgen, nicht zu trauen ist, wird in Joachim Geils Roman "Heimaturlaub" schnell klar. Denn plötzlich zerfällt das Bild und ein neues drängt sich in den Vordergrund: Die Kirchturmspitze verwandelt sich in einen Zwiebelturm, die Felder sind abgemäht, überall Rauch und an einem Baum hängt ein Pope.

    Es sind diese inneren und zunächst noch unscharfen Bilder einer seelischen Verheerung, die der Soldat Dieter Thomas während seines einwöchigen Heimaturlaubs von der Ostfront in sein Dorf, zu seinen Verwandten trägt. Schon bei der Lektüre dieser ersten Seiten ist zu spüren: Das kann nicht gut gehen. Und in der Tat spielen sich in dieser Geschichte Dramen ab, während jedoch die Oberfläche, das sommerliche Dorfleben, völlig intakt bleibt. Es ist die Kunst dieses erstaunlichen Debüts, den Bogen bis zum Schluss gespannt zu halten zwischen dem inneren Bewusstseinszustand des Protagonisten und seinem Erleben der dörflichen Realität.

    Und gerade deshalb wartet man eigentlich immer auf den Ausbruch, auf die Bluttat. Denn egal, was dieser Soldat unternimmt - ob er mit den Kindern spielt, Verwandte besucht oder mit der von ihm begehrten Heidi ins Schwimmbad geht - die Wahrnehmung dieses doch so gutmütigen Menschen, der dem Jungenalter kaum entwachsen ist, wird ständig von Gewaltfantasien zerrissen: Er sieht, wie er seine Tante zerlegt oder eine Nichte ertränkt. Warum brechen sich diese Bilder nicht Bahn? Warum flippt er niemals aus? Joachim Geil:

    " Er ist konfrontiert mit dem, was vom Krieg her in ihm arbeitet, aber er ist wie in einem Gefängnis. Er kann auch nicht aus sich raus. Er spricht ja nicht darüber, weil er erstens nicht dazu erzogen wurde, über Dinge zu sprechen, weil er auch nicht dazu erzogen wurde – wie die ganze Generation – über eigene Bedürfnisse zu sprechen, und weil er einfach mit der Kindheit und der Harmlosigkeit, die ihn mit diesen Verwandten auch verbindet, da überhaupt keine Öffnung nach außen findet. Deswegen kommen diese Gewaltphantasien, die natürlich zum einen genährt sind aus dem Krieg und zwar aus dem Nahkampf. Das heißt, er nutzt immer in diesen Fantasien, was er gerade zur Hand hat: Da steht die Axt und da ist die Tante ... . Es ist ja gar nicht der Wille dieses Menschen, zu töten. Sondern, durch die Situation, durch eine pervertierte Situation, nämlich die des Krieges, natürlich etwas zu tun, was man eigentlich nicht tun würde."
    Joachim Geil hat in seinem Roman mehrere Erzählebenen und Erlebniswelten miteinander verschlungen, die, so legt uns der Autor nahe, auf tragische Weise nicht mehr zu entflechten sind. Der Soldat hat an der Ostfront ein russisches Mädchen getötet, das er liebte. Aus diesem Trauma speist sich das Erzählte. Wie ein Bewusstseinsstrom, der diese Szenen erinnert und dabei anschwillt und alles andere mit sich reißt, treibt er das Geschehen voran: Hilflos - wie in einem Albtraum - versucht der junge Mann sich in eine ihm fremd gewordene Normalität zu fügen und versinkt doch immer mehr in seinem inneren Chaos. Lösungen kann es in diesem Strudel der seelischen Zerstörung nicht geben: Der Versuch des sterbenden Großvaters, der als einziger versuchte, dem dörflichen Einverständnis mit Naziregime und Krieg, offen Widerstand entgegenzusetzen, will dem Enkel eine Möglichkeit zur Fahnenflucht bieten. Aber die äußeren Umstände lassen eine solche Möglichkeit nicht zu.

    Joachim Geils Roman hat übrigens einen Ich-Erzähler, der allerdings zunehmend seine Funktion verliert. Dieser Ich-Erzähler, hinter dem der Autor selbst zu erahnen ist, ist ein junger Mann, der Kindheitsbriefe wie auch Feldpost dieses Dieter Thomas findet und aus der Gegenwart eines Nachgeborenen nun versucht, sich aus diesen Zeilen des gefallenen Verwandten einen Reim zu machen. Dabei, und das ist ein interessanter erzähltechnischer Kniff, wird er schlicht fortgespült von dem, was sich aus dem Bewusstsein des Briefeschreibers Bahn bricht. Der Geist, den er aus der Flasche ließ, übernimmt jetzt gewissermaßen selbst die Regie über den Erzählverlauf.

    Bleibt zu überlegen, inwieweit Joachim Geil einen historischen Roman geschrieben hat und was uns dieser Stoff heute noch zu sagen hat. Denn der Vernichtungskrieg an der Ostfront, der Glaube der verblendeten Dorfbewohner an den Endsieg und das Sprechverbot über jeglichen Zweifel - das lässt sich nicht ohne Weiteres in die Gegenwart transferieren. Im Wehrmachtssoldaten Dieter Thomas den heutigen Afghanistan-Soldaten aufscheinen zu lassen - das wäre eine allzu platte Aussage. - Was hat den Autor Joachim Geil also am Historischen gereizt?

    "Das ist eine gute Frage. Natürlich spielt der 1944. Aber wenn ich bedenke, dass es diese Haken in die Jetztzeit nicht nur über den Ich-Erzähler, den ich ja sozusagen auch dann einfach wegschicke, gibt, sondern auch über das Einfühlen in diesen jungen Mann, dessen Alter ich mittlerweile um 17 Jahre überlebt habe, (der) also auch 'Opfer' einer glücklichen Kindheit geworden ist, dann hat das etwas Beunruhigendes. Also, ich bin sehr stark davon überzeugt, dass sich das auch in diesen intergenerationellen Zusammenhängen wirklich weiter fortpflanzt. Das sich die Formen und Bilder ändern, aber Formen der Traumatisierung, Formen des Nacherlebens, die es ja gibt über die zweite und dritte Generation, nicht nur in Bezug auf Kriegsteilnehmer, Soldaten, sondern natürlich auch dieser ganze Fluchtkomplex, der zwar auch schlimm instrumentalisiert wird, politisch, - aber dass es da zu psychologischen Auswirkungen bis in die – jetzt – dritte Generation kommt, das habe ich sogar in meinem Bekanntenkreis erlebt – auf zum Teil sehr drastische Weise."
    Um das Erbe also geht es Joachim Geil in seinem Roman "Heimaturlaub" - und um die Macht der Bilder, die immer wiederkehren, von Generation zu Generation, und deren unheilvolles Wirken es durch Erzählung zu bannen gilt. Für diesen drängenden Angststrom aus den Untiefen der Geschichte hat der Autor eine einfache, fast atemlos zu nennende Sprache entwickelt, die überwiegend der Gegenwart seines Protagonisten, seinen Erinnerungsschüben und unmittelbaren Beobachtungen verhaftet bleibt. Allerdings wirkt die ästhetische Konstruktion, wörtliche Rede kursiv abzusetzen, die verschiedenen Handlungsstränge abwechselnd zu aktivieren und mit Briefen des Soldaten auch mal abrupt die Perspektive zu wechseln - hat man es einmal durchschaut - mit der Zeit etwas schematisch. Und doch erreicht der Autor mit diesem Verfahren etwas Wesentliches: Er schafft Leerstellen, die es als Leser auszuhalten gilt, das heißt Freiräume für produktive wie schmerzliche Fragen und Reflexionen über die Erbschaften eines verheerenden Krieges.


    Joachim Geil: Heimaturlaub. Roman. Steidl Verlag. 296 Seiten, 19.90 Euro