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Seelsorge nach Germanwings-Unglück
"Kontakt zur Realität herstellen"

Den Angehörigen der Opfer des Germanwings-Unglücks müsse in der Seelsorge nicht nur signalisiert werden, dass jemand für sie da sei, sagte der Leiter der Notfallseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, Joachim Wittchen, im DLF. Man müsse sie auch davor schützen, sich selbst zu schaden.

Joachim Wittchen im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 25.03.2015
    French emergency services workers gather in Seyne, south-eastern France, on March 24, 2015, near the site where a Germanwings Airbus A320 crashed in the French Alps. A German airliner crashed near a ski resort in the French Alps on March 24, killing all 150 people on board, in the worst plane disaster in mainland France in four decades. AFP PHOTO / BORIS HORVAT
    Französische Rettungskräfte in Seyne, nahe der Stelle des Absturzes des Germanwings Fluges (AFP / Boris Horvat)
    Tobias Armbrüster: Die Bergungsarbeiten in den französischen Alpen, die beginnen jetzt wieder, nachdem sie die Nacht über unterbrochen worden waren. Erwartet werden heute in Südfrankreich aber auch Angela Merkel, Frankreichs Präsident Hollande und auch der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy. Viele der Passagiere an Bord des Unglücks-Airbus, der Germanwings-Maschine waren nämlich spanische Geschäftsreisende.
    Viele Menschen, die gestern den Tag über verfolgt haben, was da passiert ist in den französischen Alpen, aber auch an den Flughäfen in Barcelona und in Düsseldorf, die haben wahrscheinlich versucht, sich das vorzustellen, wie das eigentlich ist, wenn man da an einem Flughafen steht und plötzlich erfährt, dass die Person, die man abholen möchte, dass die nicht mehr lebt, abgestürzt ist, irgendwo ganz weit weg. An Flughäfen arbeiten in solchen Extremsituationen deshalb Notfallseelsorger. Die waren auch gestern am Flughafen in Düsseldorf im Einsatz. Und über diese schwierige Arbeit habe ich gestern Abend mit Joachim Wittchen gesprochen, dem Leiter der Notfallseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Hannover. Er war schon in zahlreichen Katastrophenfällen mit dabei. - Schönen guten Tag, Herr Wittchen.
    Joachim Wittchen: Guten Tag.
    "Abgeschirmte, sichere Räume ganz wichtig"
    Armbrüster: Herr Wittchen, wir hören bei solchen Unglücken immer wieder, dass die Angehörigen dann am Flughafen gleich in einen abgesperrten Bereich gebracht werden, wo sich dann Seelsorger um sie kümmern. Was genau passiert dort in solchen Bereichen?
    Wittchen: Die Situation für die Angehörigen ist so, dass für die ja nichts mehr so ist, wie es eben noch war. Die reagieren erst mal geschockt auf so ein Ereignis, die können die Situation noch gar nicht fassen, und was uns oft in solchen Situationen begegnet, in kleinen oder größeren Unglücken, ist natürlich eine Fassungslosigkeit. Daher ist es wichtig, die Menschen, die betroffen sind, die gerade vom Tod eines Angehörigen erfahren haben, in einen geschützten Raum zu bringen, um erst mal überhaupt zu ihnen in Kontakt zu kommen, sie nicht allein zu lassen, ihnen auch das Gefühl von Nähe und Geborgenheit zu vermitteln, also ihnen deutlich zu machen, dass jetzt jemand für sie da ist, der da ist, mit dem sie reden können, wenn sie möchten, einen Raum zu schaffen, wo Emotionen auch zugelassen werden. Und natürlich auch die Leute im Blick zu haben, um sie gegebenenfalls vor Schaden und vor einer Selbstgefährdung zu bewahren. Darum sind diese abgeschirmten sicheren Räume ganz wichtig.
    Armbrüster: Können Sie uns das vielleicht ein bisschen konkreter erklären? Wie geht man als Seelsorger auf jemanden zu, der gerade erfahren hat, dass Vater, Mutter, Kind oder Ehefrau gestorben ist?
    Wittchen: Ich spreche die Leute an und dann werde ich ja sehen, ob ich eine Reaktion bekomme. Wichtig ist, ihnen das Gefühl zu vermitteln, ich bin jetzt für sie da, ich habe Zeit, ich halte jetzt diese ganz schlimme Situation gemeinsam mit ihnen aus und ich gehe nicht weg. Oft ist es so, dass dann in den ersten Minuten - das kann eine sehr lange Phase sein - die Menschen noch gar nichts sagen, weil sie ja noch gar nicht erfasst haben und auch im Grunde nicht verstanden haben, was da eigentlich passiert ist. So eine Reaktion ist in dieser ersten Phase sehr oft: Das kann doch alles nicht sein. Da ist die Frage, wie kommt man jetzt zu ihnen in den Kontakt. Wir setzen uns dann dazu und ganz wichtig ist in dieser Situation auch, dass man mit den Betroffenen zusammen auch erst mal Schweigen aushalten kann. Es geht nicht darum, in dieser ersten Phase jetzt viel zu reden, sage ich mal, sondern verbal und auch nonverbal zu vermitteln, ich bin jetzt da.
    "Es mit ihnen aushalten"
    Armbrüster: Ich wollte das gerade fragen. Ist das überhaupt eine Zeit, in der geredet wird, oder sagen da nicht ganz viele Leute einfach, ich will hier raus, ich will hier weg und weglaufen?
    Wittchen: In der Regel ist es so, dass die Leute erst mal dankbar darauf reagieren, dass jemand da ist. Wir erleben es ja oft so, gerade in solchen Unglücksfällen, dass da ganz viel Hektik ist, dass da ganz viele Informationen auf sie einprasseln, und sie sind in der Regel dankbar, dass da jemand da ist. Und wenn dann geschwiegen wird, dann wird eben erst mal geschwiegen, und das ist dann auch in Ordnung so. Denn die wichtigste Frage in der Notfallseelsorge ist eigentlich die, dass wir die Betroffenen fragen, was kann ich jetzt für Sie tun. Oder anders formuliert, was möchten Sie eigentlich, das ich jetzt für Sie tue, und dass ich nicht unbedingt gleich das tue, was ich in der Situation für richtig halte, sondern das muss man erst mal erfragen, gegebenenfalls erfühlen, was könnte für mein Gegenüber jetzt das Richtige sein.
    Armbrüster: Und was für Antworten bekommen Sie da?
    Wittchen: Manchmal kriege ich überhaupt keine Antworten. Dann schweigt mein Gegenüber. Dann kommt es vor, dass Menschen in Tränen ausbrechen, dass die Gefühle über sie sozusagen hereinbrechen, dass sie unter ihren Gefühlen zusammenbrechen, dass sich eine Fassungslosigkeit Raum macht, und dann kommt es wirklich darauf an, nicht wegzugehen, da zu bleiben und das mit den Betroffenen auszuhalten, und das ist in dieser ersten Stabilisierungsphase das Allerwichtigste, es mit ihnen auszuhalten.
    "Wo liegen jetzt die eigenen Ressourcen?"
    Armbrüster: Wenn dann so einige Stunden vergangen sind an so einem Tag einer Katastrophe, sind Menschen, sind solche Angehörigen dann überhaupt in der Lage, wieder nach Hause zu fahren, möglicherweise in eine dann leere Wohnung?
    Wittchen: Nach der Stabilisierungsphase kommt jetzt erst mal die sogenannte Orientierungsphase. In der Situation, wie Sie sie jetzt beschrieben haben, würden wir niemanden sofort nach Hause gehen lassen, sondern jetzt kommt erst mal die Orientierungsphase, wo dann doch ein Gespräch mit den Betroffenen über das, was hier überhaupt passiert ist, möglich wird. Es geht dann in dieser Phase darum, für die Betroffenen einen Kontakt zur Realität herzustellen. Eine Äußerung, die sehr oft kommt, zum Beispiel nach Verkehrsunfällen, ist die: Das kann doch nicht wahr sein! Oder der Betroffene ist nicht tot, obwohl er eben verstorben war. Dann geht es für die Notfallseelsorgenden darum, seinem Gegenüber zu helfen, eben diesen Kontakt zur Realität herzustellen, die Beobachtungen und die Gefühle einzuordnen, eventuelle Belastungsreaktionen einzuordnen, ganz wichtig auch die Gefühle und Emotionen zuzulassen und denen auch eine Sprache zu geben, und was in dieser Phase auch ganz wichtig ist, die Informationen, die es dann gibt über ein Unglück, die zu geben und zu vermitteln, nicht zu spekulieren, nur das zu sagen, was man auch wirklich weiß, was gesichert ist. Und wenn man diese Phase durchlaufen hat in der Betreuung, dann kommt man an den nächsten Punkt, dass man mit den Betroffenen zusammen fragt, wo liegen jetzt die eigenen Ressourcen.
    Armbrüster: Und kann man diese drei Phasen alle an einem Tag durchlaufen, oder ist das ein Prozess, der sich über mehrere Tage hinzieht?
    Wittchen: Ja. Bei jemandem kann das an einem Tag durchlaufen sein. Es kann bei anderen in wenigen Stunden durchlaufen sein und bei anderen kann es durchaus mehrere Tage dauern. Das hängt jetzt wirklich davon ab, ich sage jetzt mal, wie die Grundstabilität eines Menschen ist, die psychische Grundstabilität, wie er oder sie auf dieses Unglück reagiert hat. Das kann man jetzt nicht so theoretisch sagen. Aber wir erleben es oft so, dass irgendwann die Menschen dann auch selber sagen, jetzt möchte ich nach Hause gehen, und dann erfasst man die soziale Situation, wer ist da, wie kommen Sie dahin, wen möchten Sie gerne anrufen et cetera.
    Armbrüster: Soweit Joachim Wittchen, der Leiter der Notfallseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.