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Seerecht für Flüchtlinge

Seit Jahresbeginn sind mindestens 1820 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben - ertrunken oder verdurstet. Hauptgrund für die Tragödien auf hoher See ist, dass Handelsschiffe ihrer Pflicht nicht nachkommen, Schiffbrüchige zu retten - weil die Behörden diese dann häufig nicht abholen.

Von Karl Hoffmann | 16.08.2011
    Am vergangenen Wochenende sind wieder über 500 afrikanische Migranten zum Teil auf Holzbooten vor der süditalienischen Insel Lampedusa gerettet worden. In den italienischen Zeitungen erschien lediglich eine kleine Notiz. Flüchtlinge, Migranten, Boat People auf dem Mittelmeer machen nur noch Schlagzeilen, wenn ihre Flucht aus dem libyschen Kriegsgebiet in einer Tragödie endet, so wie vor zwei Wochen, als mehr als Menschen starben - verdurstet, verhungert, erstickt. Dabei hätten sie gerettet werden können, sagt Laura Boldrini, die Sprecherin des UNO-Flüchtlingskommissars in Rom.

    "Ein Boot war offenbar mehrere Tage hilflos auf dem Meer getrieben. Die Überlebenden haben berichtet, dass in der Nähe ein Schiff lag. Schwer zu sagen, um welches es sich da gehandelt hat. Aber es war so nahe, dass einige Immigranten versucht haben, es schwimmend zu erreichen, dabei aber ertrunken sind."

    Es war sogar die Rede von einem Schiff der NATO-Streitkräfte, das sich nicht gekümmert habe um die sterbenden Boat People, bis endlich die italienische Küstenwacht einen Notruf erhielt und zu Hilfe eilte und Italiens Regierung daraufhin Aufklärung seitens der NATO forderte. Sterben die Migranten aus eigener Schuld, haben sie kein Recht auf Rettung? Ist das Meer ein Raum ohne Regeln?

    "Es stimmt überhaupt nicht, dass das Meer ein rechtloser Raum ist. Wahr ist allerdings, dass man auf dem Meer nur sehr schwer kontrollieren kann, ob jeder die dort geltenden Vorschriften einhält."

    Eine der fundamentalen Regeln auf hoher See ist die Verpflichtung zur Rettung von Schiffbrüchigen, erklärt der Seerechtsexperte Salvatore La Rosa, der als Anwalt für Reedereien tätig ist. Egal wer, wo und auf welche Weise in Seenot geraten ist - man muss ihm helfen so weit das möglich ist. So geschehen vor gut zwei Jahren, als der türkische Kommandant Aysik Tuygun seinen Frachter Pinar südlich von Lampedusa wendete, um einem in Not geratenen Flüchtlingsboot zu helfen.

    "Die Behörden von Malta haben mir gefunkt, ich solle in die Nähe des havarierten Bootes fahren, bis sie kommen würden, um den Immigranten zu helfen. Danach könne ich dann weiterfahren . Ich hab drei Stunden gewartet und niemand kam, da wollten die Boat People schwimmend zu mir an Bord."

    Tuygun nahm sie schließlich alle auf, am Heck ließ er die Leiche einer ertrunkenen Frau betten. Doch weder Malta noch Italien wollten nun die Immigranten und die Leiche aufnehmen, es folgte ein dreitägiges Tauziehen - bis Tuygun endlich den Hafen von Lampedusa ansteuern durfte. Kein Einzelfall, wie Laura Boldrini vom Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen bestätigt:

    "Immer wieder erlebt man, wie man sich um die Verantwortung für die Immigranten auf hoher See drückt. Da hat vor einigen Wochen ein spanisches Kriegsschiff während der Teilnahme am Libyeneinsatz etwa 100 Migranten von einem havarierten Boot gerettet und blieb dann sechs Tage lang blockiert, weil niemand die Geretteten an Land lassen wollte."

    Im Falle eines Kriegsschiffes wird der Zeitverlust im Militäretat abgebucht. Bei einem Handelsschiff kann dem Reeder die vorgeschriebene Menschenrettung teuer zu stehen kommen, wenn Anrainerstaaten ihrer Aufnahmepflicht von Schiffbrüchigen nicht umgehend nachkommen, daran besteht für den Juristen La Rosa kein Zweifel:

    "Es kann ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden entstehen, wenn solch ein Schiff anhalte, den nächstgelegen Staat informieren oder gar den Kurs ändern muss. Tagelange Verzögerungen können enorm kostspielig werden für eine Reederei. Es müssen also die Behörden der nächstgelegenen Länder die Schiffbrüchigen so schnell wie möglich abholen."

    Aber genau daran hapert es. Hauptgrund für die Tragödien auf hoher See, die in den letzten Wochen wieder Schlagzeilen gemacht haben. Die Behörden holen die Immigranten nicht ab. Und deshalb kommen Handelsschiffe ihrer Pflicht, Schiffbrüchige zu retten, nicht nach.

    Sie ändern lieber den Kurs und sehen weg, sagt die Flüchtlingsbeauftragte Laura Boldrini:

    "Solange sich die Staaten weigern, die Flüchtlinge an Land zu nehmen, besteht auch keine große Lust, solche Menschen zu retten. Deswegen ist eine Einigung unter den Ländern im Mittelmeer notwendig, die Boat People schnellstmöglich im nächstgelegenen sicheren Hafen aufzunehmen. Ohne solch eine Regelung wird das Mittelmeer zum wilden Westen, wo die schlimmsten Dinge geschehen, ohne dass dafür jemand zur Rechenschaft gezogen wird."