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Sehnsüchte, Vergänglichkeit, Altern und Tod

Für Freunde der russischen Literatur, denen aus der zeitgenössischen Buchproduktion so wenig geboten wird, hat der Dörlemann Verlag in seiner Reihe der Neuübersetzungen aus der klassischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine lohnende Entdeckung. Es sind zwei längere, bei uns kaum bekannte Novellen von Ivan Turgenev: "Faust" und "Ein Briefwechsel".

Von Karla Hielscher | 31.01.2008
    Für Freunde der russischen Literatur, denen aus der zeitgenössischen Buchproduktion so wenig geboten wird, hat der Dörlemann Verlag in seiner Reihe der Neuübersetzungen aus der klassischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit ihren schön gestalteten, leicht in der Hand liegenden Bänden wiederum eine lohnende Entdeckung vorgelegt. Es sind zwei längere, bei uns kaum bekannte Novellen von Ivan Turgenev: "Faust" und "Ein Briefwechsel", zwei Liebesgeschichten im traditionellen Genre der Briefform, wiederum kompetent übersetzt von Dorothea Trottenberg. Beide Texte entstanden Mitte der 50er Jahre in einer krisenhaften Umbruchsphase im Leben des noch nicht 40-jährigen Schriftstellers, als es ihm - wie er in einem Brief an Marja Tolstaja, das Vorbild der Heldin der Titelerzählung schreibt - "bitter war, alt zu werden, ohne wirkliches Glück erfahren zu haben, ohne sich ein ruhiges Nest gebaut zu haben".

    Beide Erzählungen haben nämlich einen deutlich autobiografischen Hintergrund. Die Heldin der "Faust"-Novelle, Vera Nikolaevna, die Jugendliebe des Ich-Erzählers, der er nach langen Jahren der Abwesenheit bei der Rückkehr auf sein Landgut als Frau seines Gutsnachbarn und Mutter einer kleinen Tochter wieder begegnet, trägt die Züge einer Schwester Lev Tolstojs und der Handlungsort ist - worauf Turgenev selbst in einem Brief an Theodor Storm verweist - eine ziemlich genaue Beschreibung seines eigenen Gutes Spasskoe in der idyllischen mittelrussischen Landschaft. Und die Begeisterung für Goethe und seinen "Faust", den er auswendig kannte und übersetzte, begann schon während Turgenevs Studium der deutschen idealistischen Philosophie in Berlin, das ihn tief geprägt hat.

    Die Protagonistin der Erzählung "Briefwechsel", die kluge, nachdenkliche, all ihren Freiern so überlegene und deshalb in ihrem ländlichen Gutsmilieu unglückliche junge Frau verweist auf Tatjana Bakunina, mit der Turgenev einen "philosophischen Roman" erlebt hatte. In beiden Erzählungen geht es um das große Lebensthema Turgenevs, das auch alle seine späteren sozialkritischen psychologisch-realistischen Romane durchzieht: die tragische Auffassung von Liebe als einer elementaren Kraft, der der Mensch hilflos ausgeliefert ist und die Unmöglichkeit von Glück und Erfüllung.

    Diese Thematik hat ihre Quelle natürlich in der Biografie Turgenevs, dessen ganzes Leben von seiner Liebe zu der weltberühmten verheirateten Sängerin Pauline Viardot bestimmt wurde, deren Familie er sich anschloss und ihr lebenslang überall hin folgte bis zu seinem Tode in Beaugival bei Paris. Aber natürlich liest man diese Erzählungen nicht wegen ihrer autobiografischen Bezüge.

    Besonders in der schon bei Erscheinen sehr erfolgreichen Novelle "Faust" sind die charakteristischen Züge der Prosa Turgenevs konzentriert. Handlungsort ist die geschlossene Mikrowelt eines traditionsreichen, idyllisch gelegenen "Adelsnests" mit dem dazugehörenden romantischen Ensemble von Park, See und halbverfallenem chinesischem Pavillon zwischen schönen alten Bäumen. Hier liest der Ich-Erzähler der sachlichen, in sich ruhenden, gelassenen, ja kühl wirkenden Vera, die er einst geliebt hatte, deren Mutter seine Werbung jedoch zurückgewiesen hatte, Goethes "Faust" vor. Die Begegnung mit dem künstlerischen Text überwältigt Vera, die bisher nie in ihrem Leben Gedichte oder Romane, also "erfundene Werke", wie sie es nennt, gelesen hatte, völlig und führt zu einer tiefen seelischen Veränderung. Erst durch die Kraft der großen Dichtung wird ihre schlummernde Phantasie und Einbildungskraft, ja die emotionale Seite ihres Wesens und damit ihr Menschsein in seiner ganzen Fülle erweckt. Aber gerade das führt zur Katastrophe.

    In "Ein Briefwechsel" ist in Aleksej Petrovic der für die russische Literatur des 19. Jahrhunderts so wesentliche Typ des "überflüssigen Menschen", des gebildeten, begabten Adeligen, der jedoch unter den gesellschaftlichen Bedingungen zur Untätigkeit verdammt ist und zum Zyniker wird, wie auch die starke, emanzipierte Turgenevsche Frauengestalt vorgebildet.

    In den auf den ersten Blick ein wenig altmodisch erscheinenden Erzählungen geht es um unerfüllbare , um die zeitlose Tragik des menschlichen Lebens, dessen eigentlicher verborgener Sinn in der Absage an die Träume von persönlichem Glück und der Entsagung liegt.

    Deshalb hat diese Prosa mit ihrer feinen Psychologie, ihrem lyrisch elegischen Unterton und der melancholischen Stimmung für sensible Leser ihren Zauber bis heute nicht verloren.


    Ivan Turgenev: Faust
    Zwei Novellen. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Dorothea Trottenberg
    Dörlemann, Zürich 2007
    158 Seiten