Dienstag, 16. April 2024

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"Sehr, sehr wachsam sein"

Der CSU-Europaparlamentarier Ingo Friedrich mahnt die Europäische Union angesichts der Präsidentenwahl in der Türkei zu besonderer Aufmerksamkeit. "Wir müssen die Entwicklung gerade hinsichtlich der Trennung von Staat und Religion aufmerksam und intensiv verfolgen", sagte Friedrich. Er nannte die Warnung des türkischen Militärs vor einer Islamisierung des Staates berechtigt.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 28.08.2007
    Dirk-Oliver Heckmann: Was heißt das Ganze also für die Entwicklung innerhalb der Türkei, und was heißt das für die Beitrittsgespräche zur Europäischen Union? Darüber möchte ich sprechen mit Ingo Friedrich, er ist Mitglied im Präsidium des Europäischen Parlaments und stellvertretender CSU-Parteichef. Schönen guten Morgen!

    Ingo Friedrich: Guten Morgen!

    Heckmann: Herr Friedrich, haben Sie Zweifel daran, dass heute ein ehemaliger Islamist an die Spitze des türkischen Staats gewählt werden wird?

    Friedrich: Nein, die Zeichen sind eindeutig. Die Mehrheiten stehen. Die erforderliche absolute Mehrheit reicht für Herrn Gül, so dass wir in Europa davon ausgehen müssen, dass zum ersten Mal in der Türkei beide wichtigen Ämter, die des Ministerpräsidenten und die des Staatspräsidenten, von der AK-Partei, also der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, und damit von der islamischen Partei, gestellt werden. Und damit müssen wir rechnen, und davon müssen ausgehen, wenn wir Realisten sind.

    Heckmann: Wir müssen damit rechnen, sagen Sie, das heißt zwischen den Zeilen, dass Sie damit ein Problem haben?

    Friedrich: Also, es ist sicher angebracht, dass diese Entwicklung eine verstärkte Beobachtung durch die Europäische Union erfordert. Wir müssen die Entwicklung gerade hinsichtlich der Trennung von Staat und Religion aufmerksam und intensiv verfolgen, und es gibt natürlich Indizien, eines war zum Beispiel dieses unglaubliche Ereignis vor wenigen Tagen, dass der westtürkische Gouverneur deswegen entlassen wurde von seinem Innenminister, weil er nicht verhindert hat, dass in einem Pastagericht, man höre und staune, bei einem Essen mit dem Innenminister ein Viertelliter Wein enthalten war. Dass deswegen der westtürkische Gouverneur entlassen wurde, das sind Indizien, die natürlich sehr negativ sozusagen aufscheinen, und deswegen muss Europa sehr, sehr wachsam sein, wie sich der weitere Weg der Türkei entwickelt, wenn wir, was wir unstrittig alle wollen, siehe auch die Äußerung Sarkozy, eine Wertegemeinschaft Europa sein, bleiben und auch in Zukunft bleiben wollen.

    Heckmann: Abdullah Gül gilt als hervorragender Außenminister, der sich auch klar für die Trennung von Staat und Religion ausgesprochen hat, mehrfach, wir haben es gerade eben im Bericht gehört, und der einen klar pro-europäischen Kurs fährt. Vertrauen Sie ihm nicht?

    Friedrich: Nun, in der Politik gelten nicht Worte und nicht Äußerungen, sondern die Taten müssen für sich sprechen. Und dies gilt natürlich auch für die jetzt an beiden Stellen regierende AK-Partei, insbesondere für den Staatspräsidenten Gül. Wir müssen drauf achten: Was macht der Staatspräsident nach seiner Wahl, was sind seine Taten, wie entwickelt sich die Türkei mit einem Staatspräsidenten Gül, bleibt es bei der Trennung von Staat und Religion, hält er sich an die Regel, dass kein islamischer Gottesstaat angestrebt wird? Und diese Fakten, die nach seiner Wahl sozusagen wirksam werden, die müssen für uns und die weiteren Beitrittsgespräche ausschlaggebend sein. Die Worte sind nicht entscheidend, sondern die Taten und die Fakten, was anschließend wirklich entschieden und gemacht wird.

    Heckmann: Der Chef des Generalstabs der türkischen Armee hat gestern eine Erklärung abgegeben, gestern, also am Tag vor der Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten. Darin heißt es wörtlich, täglich würden hinterhältige Pläne bekannt, die darauf abzielten, die säkularen und demokratischen Strukturen des Landes zu ruinieren. Ist das als neue, unverhohlene Drohung vor einem Militärputsch zu bewerten?

    Friedrich: Das sehe ich nicht so, sondern die Warnungen, aus welchen Kreisen in der Türkei auch immer, sind berechtigt, die Warnungen müssen gehört werden, und es ist in einer demokratischen Republik, in einem demokratischen Staat durchaus angebracht, Befürchtungen offen zu äußern. Wichtig ist aber auch, dass natürlich, wenn irgendwo bei der Generalität wirklich Putschpläne sozusagen diskutiert werden würden, dass dies die weitere Entwicklung nach Europa dramatisch negativ beeinflussen würde. Putsch irgendwelcher Militärs hat mit der Entwicklung nach Europa hin überhaupt nichts gemein, ganz im Gegenteil. Sollte es in der Türkei zu einem Putsch kommen, würde dies aus meiner Sicht unvermeidbar jegliche weitere Beitrittsverhandlung und die Eröffnung weiterer Beitrittskapitel unmittelbar stoppen. Putschen hat mit der Demokratie nichts zu tun. Es muss der demokratische Weg der Türkei weiter nach Europa sozusagen möglich sein, wobei ich persönlich erwarte, dass es nicht zu einem Beitritt letztlich der Türkei kommen wird, aber Demokratie ist die eine Seite, die ist wichtig, Werte, Trennung von Staat und Religion ist wichtig. Mit Putsch kann Europa sozusagen nichts anfangen, und es wird auch nicht akzeptiert werden.

    Heckmann: Herr Friedrich, es ist ja kein Geheimnis, dass die Union gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ist, und auch Bundeskanzlerin Merkel ist für eine privilegierte Partnerschaft, zumindest in ihrer Eigenschaft als CDU-Parteivorsitzende. Kommt Ihnen also die Wahl von Abdullah Gül möglicherweise sogar gelegen?

    Friedrich: Also, ich glaube, das sind zwei Paar Stiefel. Die demokratische Wahlentscheidung in der Türkei ist die eine Sache, der Weg der Türkei hin nach dem Westen ist die andere Angelegenheit. Wir unterstützen alle weitere Demokratie in der Türkei, wirtschaftliche Entwicklung, gute Umweltgesetze, bessere Einhaltung der Menschenrechte, Abschaffung der Folter. Dies sind Dinge, die sind im Sinne Europas, aber auch der Türkei. Das letztlich aus meiner Sicht ein Türkeibeitritt zur Europäischen Union, eine volle Mitgliedschaft, nicht möglich ist, liegt primär daran, dass Europa überfordert wäre, finanziell, organisatorisch, sprachlich und wahrscheinlich auch kulturell. Das heißt, die Entscheidung, ob Europa in der Lage ist, die Türkei wirklich aufzunehmen, ist eine ganz andere Entscheidung. Letztlich wird in 15, in 20 Jahren wahrscheinlich in Frankreich eine Volksabstimmung stattfinden, die zu einem Nein führt.

    Ich glaube, deshalb ist es realistisch, auch für die türkische Politik, davon auszugehen, dass es letztlich, in 20 Jahren, nicht zu einem Beitritt der Türkei kommt. Dass aber natürlich für alle Beteiligten eine intensive und engste Zusammenarbeit zwischen Europa und der Türkei auf allen politischen, militärischen, wirtschaftlichen, finanziellen Sektoren unverzichtbar und ganz, ganz wichtig ist für beide, das ist völlig unstrittig. Ob man das jetzt privilegierte Partnerschaft oder ganz besondere Anbindung der Türkei an die Europäische Union nennt, ist zweitrangig. Mit der Türkei soll jede Art von Zusammenarbeit intensiv sozusagen fortgesetzt werden mit Ausnahme, dass es türkische Beamte im Parlament und in der Kommission in Europa gibt, mit der Ausnahme, dass es türkische Abgeordnete gibt, und mit der Ausnahme, dass es einen türkischen Kommissar gibt. Unterhalb dieser Linie ist alles notwendig, denkbar und auch sozusagen hilfreich für die Entwicklung der Türkei und der Stabilität in Europa.

    Heckmann: Die Einschätzung war das von Ingo Friedrich, Mitglied im Präsidium des Europäischen Parlaments und stellvertretender CSU-Parteichef. Herr Friedrich, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Friedrich: Bitteschön.