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Sei froh, dass du ein Leser bist

In diesem Altbau ist einiges improvisiert, so auch unser Bad.

Von Florian Felix Weyh | 23.10.2004
    Hat das was mit Literatur zu tun?

    Einen Duschvorhang haben wir schon seit langem nicht mehr. (...) Der hat uns so ge-nervt, dass wir dann irgendwann gesagt haben, den machen wir jetzt weg.

    Das hat durchaus etwas mit Literatur zu tun. Denn hier spricht kein Bademeister oder Wanneninstallateur, sondern ein Sachbuchautor. Sachbuchautoren beschäftigen sich mit Problemen auf eher grundsätzliche Art. Das heißt, sie suchen nach letzten Ursachen, bevor sie leichtsinnigerweise irgendwo Hand anlegen und etwas bewirken, das sie nicht bis in die letzte Konsequenz ver-stehen. Gerhard Staguhn gehört dieser Spezies Mensch an.

    Wir hatten eben als Erwachsene hauptsächlich dieses nervige Problem, das jeder kennt, dass dieses nasse, klebrige Ding an der Haut festklebt.

    Problem erkannt, Lösung in Sicht – aber reicht das? Nein! Ab in die Bibliothek und Grundsatzduschologie betrieben. Das Ergebnis hört sich dann so an:

    Da Duschkabinen in der Regel sehr eng sind, hat man kaum die Möglichkeit, sich dem anhänglichen Objekt zu entziehen. Meist hilft ein simpler Trick: den Vorhang unten an der Duschwanne mit Wasser festkleben. Damit wäre das Problem praktisch gelöst. (Noch bes-ser ist freilich eine feste Kabine mit Schiebetür!) Aber wie steht es mit der theoretischen Lösung? Diese liefert die seit langem bekannte Bernoulli-Gleichung. Weil wir aber mit kom-plizierten mathematischen Gleichungen nichts zu tun haben wollen, geben wir uns mit dem zufrieden, was die Gleichung bedeutet, nämlich etwas ganz Einfaches: Die Temperatur in-nerhalb der Duschzelle ist – zumindest bei Warmduschern, zu denen wir alle gehören – höher als die Temperatur außerhalb. Aus diesem Grund – und wegen des höheren Wasserdampfgehalts – ist die Dichte der Luft drinnen geringer als draußen; es entsteht ein leich-ter Unterdruck, der den Vorhang nach innen zieht.

    Es ist natürlich nicht so, dass ich mich dann ständig gefragt haben: Wie kommt denn das zustande, dass der klebt? Sondern man kommt dann natürlich auf diese Frage, indem sie in der Zeitung zum Beispiel dann auch formuliert wird, indem Wissenschaftler tatsächlich so etwas erforschen. Man glaubt es kaum, aber da wird also auch Geld ausgegeben, um herauszufinden wieso Duschvorhänge kleben.


    Die Welt ist voller Geheimnisse, und das größte bleibt – soviel sei verraten! – auch am Ende dieser Sendung ungelöst: Warum manche Geheimnisse die For-scher magisch anziehen, andere dagegen auf ewig unbeachtet bleiben?

    Forschung wird eigentlich nur dann betrieben, wenn das Geld dafür da ist. Es wird ja nicht einfach irgendwie blind drauflosgeforscht, sondern es gibt Etats in Instituten, und dann forscht man. Nur so kann ich’s mir vorstellen. Da ist ein Etat in irgendeinem For-schungsinstitut, und der muss halt irgendwie aufgebraucht werden.

    Zum Glück für Sachbuchautoren wie Gerhard Staguhn. Zum Glück für junge Leser, denen die Wissenschaft anhand unorthodoxer, lebensnaher Beispiele vermittelt werden kann. Und zum Glück für die Wissenschaft selbst, die auf diese Weise die Neugier des potentiellen Nachwuchses am Leben erhält. Wer sich frühzeitig von Alltagsphänomen faszinieren lässt und selbständig nach Antworten sucht, wird auch als Erwachsener nicht gleich vor so simplen Problemen kapitulieren wie vor der Frage nach dem Ursprung des Weltalls – zum Beispiel. Womit wir schon beim ersten Kapitel wären.

    Ich lese was, was du nicht liest." Wie man Grundschüler und Frühgymnasiasten zum Staunen bringt.

    Zugegeben: Bücher liebenden Eltern und medienkritischen Zeitgenossen klingt das hier etwas schrill im Ohr. Doch auch sie fahren manchmal mit dem Nach-wuchs in Urlaub, und dann gibt es ein probates Mittel, für Ruhe zu sorgen, nämlich "Was-ist-was?"-Kassetten. Schon wird’s mucksmäuschenstill auf der Rückbank. Wo Hörkassetten einen solch durchschlagenden Erfolg zeitigen, nähme es Wunder, wenn die so genannte "Verwertungskette" bei ihnen ende-te. Fernsehsendungen, Videos und DVDs erwecken den Anschein restloser Abschöpfung aller potentiellen Käuferschichten. Aber man täte dem ursprüng-lichen Impuls bitter unrecht, mäße man das Projekt an seinen Auswüchsen. "Was ist was?" ist der Klassiker des Kindersachbuchmarkts. Und zum Klassi-ker wird man nicht grundlos.

    1961 stieß der Hamburger Verleger Ragnar Tessloff in Amerika auf die Buchreihe "How and why?" und adaptierte ihr Konzept auf hiesige Verhältnisse. Glücklicherweise war der im Deutschen holpernde Titel "Wie und warum?" schon vergeben, so verfiel er aufs präg-nante "Was ist was?". In über vierzig Jahren hat der Verlag 118 Bände zu allen erdenkli-chen Wissensgebieten herausgebracht: Naturwissenschaft, Technik, Geschichte, Kultur, Politik, Gesellschaft, nur die Ökonomie kommt ein bisschen zu kurz. Die angloamerikani-schen Wurzeln spielten schon in den 60er-Jahren keine Rolle mehr, denn wenige Jahre nach dem Start der Buchreihe, kaufte Tessloff die Ursprungslizenz auf und ließ die Bücher ausschließlich von deutschen Autoren und Wissenschaftlern gestalten.

    Das ist ein kleines, jedoch nicht unwichtiges Detail, wie wir noch merken wer-den. 118 Bände – vier pro Jahr, in diesem Herbst mit den beiden Themen "Bauernhof" und "Mittelalter" – lassen den Gedanken aufkommen, dass man Bücher mit einer niedrigen Reihennummer vielleicht besser nicht mehr kauft, weil sie – zehn, zwanzig, dreißig Jahre alt – kaum mehr dem aktuellen Wis-sensstand entsprechen können. Dem ist nicht so, auch wenn das Marketing des Verlags in der Vergangenheit – seltsam genug! – zu wenig marktschreie-risch darauf hinwies.

    Je nach Thema und Dringlichkeit werden die Bände neu geschrieben. So ist Band 65 – "Die Eiszeit" – in diesem Herbst ebenfalls eine komplette Neuerscheinung. Einen vierzig Jahre alten "Was-ist-was"-Band wird man nicht finden.

    Aber was hat die Reihe zum Klassiker gemacht? Allein die Tatsache, der Schnellste auf einem wachsenden Markt gewesen zu sein, reicht nicht aus. Beantworten wir die Frage gleichnishaft, indem wir einen aktuellen "Was-ist-was"-Band zu Rate ziehen. Nummer 117, "Bauernhof", verfasst von der Ag-rarwissenschaftlerin Monika Wohlert. Darin lesen wir:

    Der deutsche Chemiker Justus von Liebig formulierte das berühmte Gesetz des Minimums. Es besagt, dass alle Nährstoffe in ausreichender Menge vorhanden sein müssen, damit eine Pflanze optimal wächst. Wenn ein Stoff fehlt, nützt der Überschuss eines anderen gar nichts.

    Die Pflanze heißt "kindlicher Geist", und für sie gilt das Liebigsche "Gesetz des Minimus" nicht minder. Wiederholen wir noch einmal:

    Wenn ein Stoff fehlt, nützt der Überschuss eines anderen gar nichts.

    Das ist das Geheimnis der "Was-ist-was?"-Bücher. Sie präsentieren ein ausgewogenes Verhältnis von Bild und Text, Wissen und Verständnis, Faktentreue und Phantasieanregung. Das Wort "Sachbuch" erfährt in ihnen freilich noch immer eine Auslegung, die näher an der "neuen Sachlichkeit" von Architektur und Kunst der 50er-Jahre orientiert ist als am gefälligen Comicstil heutiger Wissensvermittlung.

    Notwendige Einschränkung: In den medialen Auswertungen – Film, DVD, Audiokassette –regiert schon eher die hysterisch-überdrehte TV-Ästhetik des 21. Jahrhunderts. Weswe-gen diejenigen, die vom Buch kommen, nicht unbedingt die Kassetten mögen – und dieje-nigen, die von den Kassetten begeistert sind, nicht zwangsläufig zum Buch zurückfinden müssen.

    "Was ist was" hat Nachahmer inspiriert, zum Beispiel "Sehen – Staunen – Wissen" im Gerstenberg-Verlag. Am neusten Band "Roboter" lässt sich der Unterschied allerdings leicht demonstrieren. "Sehen – Staunen – Wissen" wirkt wie ein später Nachfahr des Orbis sensualium pictus, jenes ersten Bild-wörterbuchs der Weltgeschichte, das mit vielen Illustrationen und wenigen Worten Bildung in ein analphabetes Volk hineinzutragen strebte. 1685 war das, aber an der Grundannahme scheint sich nicht viel geändert zu haben. Da sieht man etwa im Roboterband von "Sehen – Staunen – Wissen" einen gro-ßen mechanischen Tiger auf einem Soldaten kauern und entnimmt dann der Bildlegende:

    Das Spielzeug wurde um 1795 für den indischen Regenten Tipu Sultan gebaut, den "Ti-ger von Mysore". Wenn man die Kurbel an der Schulter des Holztigers dreht, knurrt das Raubtier beim Verspeisen des britischen Soldaten. Der Soldat hebt schwach den Arm und schreit. Die Geräusche werden von der Orgel im Innern der Tierfigur erzeugt.

    So viele beziehungslos aneinander gereihte Fakten, so wenig Hintergrundwis-sen! Warum 1795? Warum ein britischer Soldat und kein indischer? Was inte-ressiert uns der Spitzname des Herrschers? Aus welchem Grund lässt er eine solch komplizierte Puppe bauen, welch spannende Geschichte steckt eigentlich dahinter?

    Die Kinder erfahren das meiste eigentlich nur noch über Bilder. (...) Die Bilder sollten in den Köpfen entstehen, nicht so sehr auf dem Papier vorgeben sein, mit diesen mickrigen Bildtexten dazu. Das verleitet zum Durchblättern, wie eine Illustrierte. Man schaut die Bilder an, ich glaube, die Texte gehen dann meistens auch schon unter, die kurzen Texte. Ich glaube, erkennendes Wissen entsteht so nicht. Also entsteht Faktenwissen für ein paar Ta-ge, das ist dann wieder weg. (...) Also ums Verstehen geht es ja eigentlich, nicht ums Wis-sen. Und da, glaub ich, sind diese Bücher nicht geeignet.

    ...urteilt der Sachbuchautor Gerhard Staguhn einigermaßen unwirsch über sol-che Buchkonzepte, die keinen Einzelfall darstellen. Bei Gerstenberg ist selbst das komplizierte Thema "Religion" bildfähig – nachgerade im schärfsten Kon-trast zum Gebot vieler Religionen, sich kein Bildnis zu machen und den Glau-ben im Rahmen des Abstrakten zu belassen. Kindersachbücher verhalten sich selten neutral. Sie bilden eine schiefe Ebene, auf der die noch ungeübten Lese-rinnen und Leser entweder in Richtung unangestrengten Bilderkonsums herab-rutschen oder zum Aufstieg ins literarische Sprachuniversum ermuntert werden. In diesem Sinne ist "Sehen – Staunen – Wissen" ein ziemlich glitschiges Parkett. Indes riskiert Staguhn mit seiner Kritik keinen Zusammenstoß mit deutschen Kollegen, denn es handelt sich bei der Reihe um eine 1:1-Übertragung aus dem Englischen.

    Ist dagegen etwas einzuwenden?

    Eigentlich nicht ... aber irgendwie doch! Früher hätte man von "kultureller He-gemonie" gesprochen und sich gefragt, ob Sprachräume mit ihren nationalen Eigenheiten ihr Wissen und dessen populäre Aufbereitung unbedingt importie-ren müssen? Unbestritten verhalten sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse kulturneutral – nicht aber Geschichtsbücher und die vielen "weichen" Themen von Kindersachbüchern. Der Lizenzwahnsinn, der schon auf dem Erwachse-nenmarkt zu bizarren Blüten führt, macht auch vor dem Juniorsegment nicht halt. Aber bevor man aus dieser Beobachtung einen fremdenfeindlichen Schluss zieht, lässt man sich gerne eines Besseren belehren. Denn was jetzt die Bühne betritt, ist auch britischen Ursprungs. Und es wäre ein absoluter Verlust, es nicht lesen zu können.

    Wir befinden uns in der Mitte des 5. Jh. v. Chr. und du bist ein kleiner griechischer Jun-ge, der in einem Dörfchen außerhalb Athens lebt. In deiner Jugend erreicht die griechische Zivilisation ihren Höhepunkt. Vor zwanzig Jahren wehrten die Griechen erfolgreich den Einmarsch der Perser ab. In der optimistischen Stimmung, die darauf folgte, erleben nun das Theater, die Dichtkunst, Musik und Architektur eine Blütezeit. Unter der Regierung des hervorragenden Politikers Perikles ist in Athen die Demokratie gefestigt worden. Nun kann je-der Bürger mitreden, wie der Stadtstaat geführt werden soll. Dein Vater, der in den Perser-kriegen kämpfte, ist ein strenger Mann und hat ehrgeizige Pläne mit dir. Er hat sein ganzes Geld gespart, damit du in die Schule gehen kannst und eine künstlerische, musikalische, vor allem aber sportliche Ausbildung erhältst. Er will, dass du dem Familiennamen Ehre machst und Anerkennung gewinnst, indem du am größten Wettkampf von allen teilnimmst den Olympischen Spielen, die 776 v. Chr. zum ersten Mal abgehalten wurden. Das Training wird hart und die Konkurrenz scharf sein. Für einen Jungen, der ein bequemes Leben vorzieht, ist dies das Letzte, was er sein möchte – ein griechischer Athlet!

    Verneinung statt Anpreisung – das ist schon etwas Ausgefallenes bei einem Kindergeschichtsbuch. Die Reihe "Sei froh, dass du kein ... bist" trägt sie schon im Titel. In diesem Fall "Sei froh, dass du kein griechischer Athlet bist", bei der Wiener G&G-Buchvertriebsgesellschaft pünktlich zur Olympiade herausgekommen. Hier wird mit Witz und Warnung gearbeitet, etwa mit "nützlichen", aber schwer befolgbaren Hinweisen an die geduzte Leserschaft:

    Nützlicher Hinweis: Werde nicht erwachsen! Nach deinem 6. Lebensjahr ist deine Mutter nicht mehr für dich zuständig. Die Zeit des Spielens ist vorbei, dein Vater übernimmt deine Erziehung.

    Zusammen mit den ein wenig an Asterix gemahnenden Illustrationen – in al-len Bänden vom selben Zeichner, David Antram – nimmt sich diese Vermitt-lung historischer Sachverhalte selbst nicht ganz ernst und transportiert den-noch die wichtigsten Schlagworte einer Epoche. Ideal für Sechs- bis Zehnjährige, die gern mal meinen, als Pharao hätten sie ein besseres Dasein gehabt denn als Einzelkind in der europäischen Mittelschicht. Großer Irrtum, wie der Band "Sei froh, dass du keine ägyptische Mumie bist" beweist. Die Grundfrage aller Bildungspublizistik für diese Altersklasse beantwortet die freche Reihe in-des auch nicht: Kann man ein Kind – mit welchen Büchern auch immer – für Themen interessieren, für die es sich nicht sowieso schon interessiert?

    Ich lese nicht, um zu lernen, sondern weil es mir gefällt." Wie man Zusammenhänge so erzählt, dass zum Weiterlesen animieren.

    Ich hab die Erfahrung gemacht, dass Kinder im Grunde nicht anders denken, als ich sel-ber denke. Und auch im Prinzip nicht andere Fragen stelle, als ich sie mir selber stelle. (...) Und ich schreib so, dass ich’s mir selber verständlich mache. Und das hat eigentlich immer funktioniert. Das heißt, wenn ich etwas mir selber plausibel mache, in einer einfachen und klaren Sprache, dann kann ich davon ausgehen, dass es ein Vierzehnjähriger, der nicht auf den Kopf gefallen ist, es auch versteht und interessant findet. Aber einfach und klar muss man schreiben.

    Mit diesem Rezept steht Gerhard Staguhn zum Glück nicht alleine da. Eine ganze Anzahl erzählender Sachbücher zur erkennenden Wissensvermittlung ist in den vergangenen Jahren entstanden, etwa die "Kinder-Uni" von Ulrich Jan-ßen und Ulla Steuernagel im Campus Verlag, die Reihe "Science and Fun" bei Rowohlt oder eben Staguhns Bücher bei Hanser und DTV. Aktuell im Handel der zweite Band mit Alltagsrätseln: "Warum hat der Mensch kein Fell?"

    Hat er ansatzweise manchmal doch.

    Wie der erfolgreiche Erstling: "Warum fallen Katzen immer auf die Füße?" ...

    Das tun sie wirklich.

    ... ist das Buch induktiv aufgebaut, während der Autor beim Schreiben umge-kehrt, nämlich deduktiv vorging. Soll heißen: Die über siebzig Fragekapitel be-ginnen jeweils mit einer – oft verblüffenden – konkreten Situation, der dann die theoretische Erklärung nachgestellt wird. Ein eifriger Weltbeobachter, denkt man bei der Lektüre. Doch so arbeitet Staguhn nicht. Er kommt, ganz Intellektueller, eher von der Erklärung her und muss dann voller Verblüffung registrieren, dass er die zugrunde liegenden Phänomene auch ganz gut kennt:

    Ich muss ja auch viel lesen, also Wissenschaftszeitungen, dann die Wissenschaftsteile in den Tageszeitungen. Und da war diese Meldung, aus Australien glaube ich, dass Forscher eben herausgefunden haben, wieso in den Nabeln der Menschen Fussel sich ansammeln? Ich hab das bei mir schon auch immer entdeckt, und hab letztlich auch nicht darüber nach-gedacht. Es ist ja eigentlich auch gar nicht überraschend.

    Nun sind aber nicht alle Menschen Australier. Für Deutschland steht eine solche wissen-schaftlich geleitete Nabelerforschung noch aus; aber vermutlich kann man davon ausgehen, dass wir uns bei der eigenen Nabelschau nicht wesentlich von den Australiern unterschei-den würden. Also, hier sei es erstmals öffentlich ausgesprochen: Auch in deutschen Nabeln treiben jede Menge Fussel ihr Unwesen. Wenn schon die meisten Erwachsenen Fussel im Nabel haben, wie steht es dann mit den Kindern und Jugendlichen? Da man im Alter ganz allgemein mehr fusselt — und zudem haart, schuppt und sabbert —, überrascht uns die Ant-wort der australischen Nabelforscher nicht: Junge Menschen haben weniger Fussel im Na-bel. Noch viel weniger überrascht uns, dass Männernabel mehr Fussel aufweisen als Frau-ennabel. Das kann nur damit zu tun haben, dass Männer ihren Nabel seltener säubern als Frauen, weil sie sich grundsätzlich weniger waschen als diese. Nein, der eigentliche Grund ist, dass Männer mehr Haare am Bauch haben — und diese sind schuld an den Fusseln im Nabel. Denn am Bauch wachsen alle Haare zum Nabel hin. Die Kleiderflusen gleiten wie auf einer Achterbahn an ihnen entlang in den abgründigen Nabel hinein.

    Der Rezensent muss gestehen, dass ihn diese Frage seit Jahren quält, und er allein darum schon das Buch rückhaltlos empfiehlt. Gerhard Staguhn findet stets den richtigen Ton für Jugendliche wie Erwachsene, und seine eigene Vermutung, dass nicht wenige seiner Leser bereits im Berufsleben stehen, wird wohl zutreffen. Ähnliches gilt für einen Titel aus der Rowohlt-Jugendbuchreihe "Science and Fun", der schon 2003 erschien, aber unbedingt noch einmal gerühmt werden muss. Denn er schafft, was nicht viele schaffen: Ein abseitiges Thema so aufzubereiten, dass man es – Grundinteresse hin oder her – in einem Atemzug verschlingt. Leseprobe:

    Matthias Erben sitzt durchaus nicht wie ein Beamter hinter seinem Schreibtisch und war-tet darauf, dass jemand ein neues Veilchen bei ihm anmelden will. Er prüft auch, was seine Vorgänger taten. Dafür reist er nach Griechenland, Sizilien oder ins ehemalige Jugoslawien, fährt über Land, in abgelegene Ecken, kraxelt über Berghänge und sucht Fundorte, an de-nen früher einmal jemand ein bestimmtes Veilchen gefunden haben will. (...) Hin und wie-der ist Matthias Erben auch schon in ziemlich brenzlige Situationen gekommen. Gerade auf dem Balkan, wo viele Veilchen wachsen, kommt es immer noch zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Gar nicht so leicht, den Streitenden dann klar zu machen, dass er nicht spioniert, sondern ein ganz bestimmtes, drei Zentimeter hohes Kraut sucht: ein Veilchen – mehr nicht. Wozu soll das auch gut sein? Sollen doch die Pflanzen wachsen, wie und wo sie wollen. (...) Aber es gibt Nutznießer der Arbeit von Matthias Erben. Zum Beispiel Kees Sahin. Er ist Saathändler in Holland, ein bedeutender Mann, der sogar in Marokko Blumen-felder unterhält. Zu Kees Sahins Spezialitäten gehören Stiefmütterchen. Er züchtet neue Sorten. Um das immer wieder tun zu können, braucht er wilde Veilchen, die noch unbe-kannte Eigenschaften haben. Veilchen, die sozusagen frische Merkmale bringen, das ist nicht anders als bei der Hundezucht. Für Kees Sahin sind manche der Pflanzenfundstücke von Matthias Erben viel wert.

    "Die Sache mit dem grünen Daumen – Eine Zeitreise durch die Geschichte der Botanik" von Elke Radziewsky lässt auch absolute Pflanzenmuffel nicht unbe-rührt. Der Faktor "Fun" ist übrigens eher ein bisschen läppisch: Jeder Band der Reihe enthält etwas, was man neudeutsch "Gimmick" nennt: einen Bastelbogen. Dritte schiefe Ebene bei Juniorsachbüchern: Der eine gleitet zum Bild hinab, der zweite steigt zum Text auf, der dritte lenkt sich mit praktischer Arbeit vom Lesen ab. Kein Einzelfall ... aber vielleicht doch nicht ganz so be-klagenswert. Siehe nächstes Beispiel:

    Achtung: Dieses Buch enthält Anleitungen für Experimente, die aus unterschiedlichen Gründen gefährlich sein könnten: Körperteile könnten verletzt und/oder Elternteile verärgert werden. Deshalb die eindringliche Bitte von uns und unseren Anwälten: Bei den Versuchen sollte immer ein Erwachsener anwesend sein, der den einwandfreien Ablauf der Experimen-te gewährleisten kann. Das war unsere letzte Warnung.

    Folgt man dieser Warnung, werden viele Versuche garantiert nicht zustande kommen, weil ein Erwachsener wohl kaum ungerührt zusieht, wenn der Nachwuchs Mondkrater durch Aufschlagdetonationen im Kartoffelbrei simuliert. Willkommen bei "Wissen macht Ah!", der Verwandlung einer WDR-Fernsehsendung zum kunterbunten Buch. Obwohl man gegen diese Art der Metamor-phose kulturkritische Vorurteile hegen mag, muss man hier applaudieren: Das "gepflegte Klugscheißen mit Shary und Ralph" ist schon deswegen ein Aben-teuer, weil die Sendung zum Besten gehört, was man derzeit im deutschen Fernsehen als wissbegieriges Kind zu sehen bekommt.

    Wir sind hier schließlich bei ‚Wissen macht Ah!’ – unserem ganz persönlichen Rück-zugsgebiet, wenn wir von der Schlichtheit der Welt und dem restlichen Fernseh- und Buch-programm genug haben.

    ... intonieren die Autoren selbstbewusst – und haben Recht! Inhaltlich wie typographisch ist das bei Ullstein erschienene Buch selbst für ungeübte Leser ein köstlicher Appetithappen. Die schiefe Ebene einmal umgedreht, auf dass möglichst viele TV-Kids vom Durchblättern zum Lesen verführt werden. Selbst kleinste Details haben noch Pfiff, etwa die Seitenzahlen. Von 0 bis 224 birgt jede einen besonderen, manchmal absurden Wissensschatz:

    19 kg Haut verliert der Mensch im Schnitt im Laufe des Lebens durch Kratzen und Ver-letzungen." 40: "Im Englischen ist forty (40) der einzige Zahlenname, dessen Buchstaben alphabetisch geordnet sind." 61: "Ab 61 Volt gilt Strom als Starkstrom." 69: "69 ist die einzige Zahl, bei der in den Ergebnissen der zweiten Potenz (69 x 69 = 4761) und der drit-ten Potenz (69x69x69=238509) alle Ziffern von 0 bis 9 nur einmal vorkommen." 80: "Dreht man die 80 um 90 Grad linksrum, steht das Zeichen für die Unendlichkeit unter dem Zeichen für das Nichts.

    "Ah!" macht der Leser – denn Wissen macht Ah! Wissen ist etwas Tolles, wenn es zu eigenen Gedanken führt, und Wissen gebiert weitere Fragen. Man man weiß nie genug! Ein Experte, der sich mit Duschvorhängen wie Bauchfus-seln auskennt ist deshalb Ansprechpartner in Sachen ...

    Warum habe ich noch nie ein schimmlige Banane gesehen?
    Warum haben Erdbeeren keine Würmer oder Maden?


    ... und – sollen wir uns das wirklich zu fragen trauen?

    Warum schmecken Kindern Popel eigentlich so gut?

    Hah, das ist eine gute Frage! Also mir schmecken sie überhaupt nicht! Das heißt, wenn ich davon reden kann, hab ich’s auch probiert, als Kind ja auch. Aber mir haben sie auch als Kind nie geschmeckt. Ich fand das immer, dieses ... dass die dann so klebrig werden so klitschig, das fand ich äußerst unangenehm. Wieso viele Kinder, nicht alle ... also mein Sohn überhaupt nicht! Dem ekelt’s ja vor der eigenen Spucke, wenn der einen Joghurt löf-felt, dann saugt der den so ein, weil diese Spucke – seine eigene! –, die da dran ist, die macht ihm schon Ekel, und einen Popel essen, das wär für ihn unmöglich. Auf die Frage kann ich Ihnen jetzt auch keine Antwort geben.

    Besprochene und erwähnte Bücher in alphabetischer Reihenfolge

    Roger Bridgman: "Sehen – Staunen – Wissen: Roboter"
    Gerstenberg Verlag 2004, 64 Seiten, 12,90 Euro

    Ralph Caspers: "Wissen macht Ah!"
    Ullstein Verlag 2004, 224 Seiten, 14,95 Euro

    Rainer Crummenerl: "Was ist was, Bd. 65, Die Eiszeit"
    Tessloff Verlag 2004, 48 Seiten, 8,90 Euro

    Michael Ford, David Antram: "Sei froh, dass du kein griechischer Athlet bist"
    G&G Buchvertriebsgesellschaft 2004, 32 Seiten, 9,90 Euro

    Myrtle Langley: "Sehen – Staunen – Wissen: Religionen"
    Gerstenberg Verlag 2004, 64 Seiten, 12,90 Euro

    Elke von Radziewsky: "Die Sache mit dem grünen Daumen"
    Rowohlt Verlag 2003, 154 Seiten, 12,90 Euro

    Gerhard Staguhn: "Warum hat der Mensch kein Fell?"
    Hanser Verlag 2004, 234 Seiten, 15,90 Euro

    Gerhard Staguhn: "Warum fallen Katzen immer auf die Füsse?"
    DTV 2004, 220 Seiten, 8,90 Euro

    David Stewart, David Antram: "Sei froh, dass du keine ägyptische Mumie bist"
    G&G Buchvertriebsgesellschaft 2003, 32 Seiten, 9,90 Euro

    Monika Wohlert: "Was ist was, Bd. 117, Bauernhof"
    Tessloff Verlag 2004, 48 Seiten, 8,90 Euro