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Sein einziger Sohn

"Die wunderbaren Falschmünzer" heißt ein vor einigen Jahren erschienener Roman-Führer oder vielmehr Roman-Verführer. Darin schwärmt Rolf Vollmann den Lesern dermaßen kundig und begeistert von den großen Romanciers des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts vor, dass man danach alles stehen und liegen lassen möchte und ein paar Jahre Urlaub nehmen, um sie alle, alle zu lesen, die bekannten und die unbekannten, den Balzac und den Gutzkow, den Thackeray und den Gontscharow. Rolf Vollmann gräbt Schätze auch in solchen Provinzen aus, die man als Halbgebildeter für unfruchtbar, öd und leer gehalten hat. Etwa im Spanien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dort findet man, wie er meint, "einen der schönsten Romane der Welt", nämlich "Die Präsidentin" von Leopoldo Alas, 1852 bis 1901. Dies ist ein Name, der im deutschen Sprachraum auch Kennern lange Zeit gar nichts sagte; nur Universitäts-Hispanisten kannten den Mann, der unter dem nom de guerre Clarin (Trompete) für seine spanischen Zeitgenossen eine literarische und vor allem literaturkritische Institution darstellte. Die Zeitgenossen schätzten sein scharfes Urteil, fürchteten es aber auch, und bei manchen Kollegen war die Erleichterung über seinem frühen Tod 1901 spürbar. Und folgenreich: Nach seinem Tod wurde darin eine Zeitlang gründlich totgeschwiegen. Erst nach und nach wurde sein Hauptwerk, der 800-Seiten-Roman "La Regenta", in seiner ganzen Bedeutung erkannt, auch im eigenen Land, als bedeutendster spanischer Roman des 19. Jahrhunderts und einer der großen Beiträge des Landes zur Weltliteratur. Erst 1985, also 100 Jahre nach dem Original, erschien eine deutsche Übersetzung; und sie war es, die Rolf Vollmann so zum Schwärmen gebracht hatte.

Martin Ebel | 23.06.2002
    Unbekannterweise schwärmen musste Vollmann von Clarins zweitem Roman, weil der noch gar nicht übersetzt war:

    Manche sagen, er sei beinahe besser als sein erster; man kann sich das kaum vorstellen, aber wenn es doch wahr ist, dann haben wir wirklichen Enthusiasten noch etwas Wunderbares vor uns; wir wirklichen Enthusiasten sage ich, denn wenn die Großen über das schon Bewundernswerte hinaus noch jenen einen Schritt weitergehn, in das gerade nach ihm mm Unvorstellbare hinein, dann müssen ihre Leser schon ein bisschen außer sich geraten.

    Ob besser als "Die Präsidentin" oder nicht, sei dahingestellt; aber etwas Wunderbares ist "Sein einziger Sohn", der zweite Roman Clarins, zweifellos, und sein Erscheinen tatsächlich Anlass genug, ein bisschen außer sich zu geraten. Hochgelobte Debütanten wird man nach der Lektüre etwas skeptischer anschauen, und auch manch großer unserer Zeit hat es schwer, den Vergleich auszuhalten. Es müssen schon Namen wie Zola und Flaubert her, um klarzumachen, auf welchem literarischen Niveau wir uns hier befinden.

    Clarin schrieb "Su unico hijo" 1891, am Ende eines für Spanien desaströsen Jahrhunderts. Das Land hatte Kriege und Bürgerkriege erlebt sowie diverse Regimewechsel - nacheinander und durcheinander absolute und konstitutionelle Königsherrschaft, Revolution und Republik, am Ende aber wieder Restauration der Monarchie; es hatte nach und nach seine Kolonien verloren; Handel, Gewerbe und Ackerbau kümmerten dahin, Ergebnis von jahrhundertelanger Misswirtschaft, dummem Adelsstolz und Verachtung der Arbeit; der Abstand zu Europa, das sich im industriellen Aufbruch befand, wuchs. Es wuchs auch die innere Kluft zwischen Traditionalisten und Fortschrittlern, die sich immer mehr radikalisierte und im Bürgerkrieg 1936-39 eine blutige Entladung suchte.

    Ein kleiner Kreis aufgeschlossener Akademiker blickte neidvoll ins Ausland, vor allem nach Paris, und sog begierig auf, was immer von dort kam. darin, der maßgeblich zur Vermittlung des französischen Naturalismus in Spanien beitrug, gehörte dazu. Seine publizistische Bühne stand in Madrid, sein Lebensmittelpunkt allerdmgs lag in Oviedo, einer verschlafenen Provinzstadt im Norden; dort hatte er einen Lehrstuhl für Römisches Recht inne. Er hat Oviedo in "La Regenta" ein großartig deprimierendes Denkmal gesetzt. Das namenlose Städtchen, in dem "Sein einziger Sohn" spielt, der zweite Roman, ist noch kleiner, verschlafener und provinzieller als Oviedo. Seine Einwohner, soweit sie sich überhaupt mit geistigen Dingen befassen, kultivieren ihre Erinnerungen an die vierziger Jahre und einen seit mehreren Jahrzehnten überlebten "romantischen" Stil. In der Tuchhandlung der Witwe Cascos versammeln sich verarmte Gutsbesitzer und kleine Beamte, träumen alten Abenteuern nach und rezitieren gedrechselte Verse.

    Alles wurde mit Umschweifen, mit dunklen Worten ausgedrückt; und wenn die Rede von einer Liebe mit illegitimen Folgen war, sagte man zum Beispiel 'Herr X macht Frau Y den Hof.' In jedem Fall war das Leben damals sehr viel amüsanter, die Jugend feuriger, die Frauen empfindsamer. Und beim Gedanken daran seufzten die im Laden von Cascos Versammelten; von Cascos, der seiner Witwe bei seinem Tod die Stoffe, die Kundschaft und die ehemals romantischen Teilnehmer des Zirkels vererbt hatte, die allesamt schon zu sehr von Jahren und Gebrechen gebeutelt wurden, viele auch von der Fülle des Leibes, um an erhebende Gefühle zu denken.

    Einer von diesen seufzenden Romantikern ist Bonifacio Reyes. Er sucht die Ofenwärme gemeinsamer Nostalgie nicht zuletzt deshalb so gern auf, weil er seiner tyrannischen Ehefrau entfliehen will. Diese Ehefrau - sie heißt Emma wie Flauberts Madame Bovary, aber das ist der pure Hohn - hat das Zeug zum Diktator, vom Schicksal aber nur einen einzigen Untertan bekommen, den zu schikanieren ihren Lebensinhalt bildet. Sie hat sich ein paar Krankheiten zugelegt, die sorgfältiger Pflege bedürfen; diese Pflegedienste muss Bonifacio leisten, Gelegenheit genug, Fehler zu machen dafür beleidigt, angeschrieen, ja geschlagen zu werden. Gegenwehr leistet er keine.

    Nicht einmal im Geist wagte er Emma zu beleidigen, aus Furcht, sie könnte seine Gedanken erraten.

    Bonifacio, dieser verträgliche, etwas einfältige Patron, von angenehmem Äußeren, aber ohne eigenes Geld, steht also unter dem Pantoffel. Wirklich besitzt er ein paar Hausschuhe "aus imitiertem Tigerfell", an denen er ganz außerordentlich hängt. Sie sind ihm Inbegriff häuslicher Bequemlichkeit, aber auch von Sitte und Anstand; undenkbar, sich aus dem Bett zu erheben und gleich in die Stiefel zu fahren! Noch weniger denkbar wäre es ihm aber, ganz ohne diese Fußwärmer auszukommen. Zwar pflegt Bonifacio sein unwürdiges Dasein gern einmal in ausschweifenden Phantasien gegen ein glanzvolleres einzutauschen, geht er in Tagträumen als Held, als Krieger, als Heiliger auf große Fahrt; aber immer scheitern diese großen Unternehmungen an einem Detail: den Pantoffeln.

    Bonifacios Ideal war, viel zu träumen und große Leidenschaften zu haben; doch all dies unbeschadet guter häuslicher Sitten. Er liebte die Ordnung im Hause; wenn er Illustrationen in Büchern betrachtete, ließ er sich bezaubern von einer anmutigen, ernsten Greisin, die am Feuer strickte, während zu ihren Füßen, auf einem weichen Fell, still eine Katze mit dem Knäuel aus starker, dichter Wolle spielte, Symbol des Schutzes des Bürgers vor dem Winter. Er beneidete die Künstler, die kein Zuhause haben und sich zufrieden in allen fünf Teilen der Welt niederlassen, um ihren Mut, ihre Sorglosigkeit; aber diese Bewunderung kam aus der Gegensätzlichkeit seiner eigenen Vorlieben, seines unüberwindlichen Hangs zum ruhigen, sesshaften, ordentlichen materiellen Leben. Selbst um ein hochfliegender Romantiker mit schrankenloser Phantasie zu sein, war es in seinen Augen unerlässlich, zumindest was ihn betraf, dass die Befriedigung der zahlreichen, komplizierten physischen Bedürfnisse einwandfrei geregelt war. Das Symbol dieser Gefühle waren die Hausschuhe. Wenn er sich bei seinen jugendlichen Träumereien eine Felsenburg vorgestellt hatte, eine schöne Christin, die im spitzbogigen Fenster lehnte, eine seidene Leiter, eine Laute und einen Galan, der er selbst war und der die Jungfrau aus der Burg raubte, dann war ihm immer die Unwahrscheinlichkeit einer Flucht in fremde Himmelsstriche ohne seine Pantoffeln in die Quere gekommen.

    Bonifacio ist also ein Pantoffelheld, und nie ist dieser deutsche Begriff (den es so im Spanischen nicht gibt) auf schönere Weise zu literarischer Existenz gelangt. Die Spannung zwischen erbärmlicher Realität und glänzendem Ideal: Diese Spannung ist das Urthema der Romantik. In der zum Klischee herabgesunkenen falschen Romantik dieser spanischen Provinzler zerschellen die Traumballons nicht an scharfen Felsen, sondern platzen gleichsam schon beim Aufblasen. Sie zerplatzen, weil der große Ironiker darin einen Splitter in die Hülle gejagt hat, und dieser Splitter, eben das lächerliche Pantoffelpaar aus Tigerfellimitat, durchzieht wie ein running gag (diese Technik eines gerade vor der Erfindung stehenden Mediums weiß der Autor auch schon anzuwenden) den ganzen Roman.

    Wenn Bonifacio und seine Kumpane aus dem Tuchladen vom anderen Leben träumen, meinen sie natürlich die Kunst. Besonders die Musik hat es ihnen angetan. Bonifacio spielt recht ordentlich die Flöte, und alle schwärmen sie noch von dem Auftritt einer namenlosen "Primadonna", viele Jahre ist's her. Nun aber fällt die Kunst leibhaftig in die verschlafene Stadt ein: in Gestalt einer heruntergekommenen Operntruppe. Und nun geht alles drunter und drüber. Von diesen Verwicklungen handelt "Sein einziger Sohn", der mit einem Drittel des Platzes auskommt, den darin für die "Präsidentin" gebraucht hatte, und ein entsprechend höheres Tempo aufweist. Zuerst verliebt sich Bonifacio in die Sopranistin Serafina, beginnt eine Affäre mit ihr und wird von dem Direktor der Truppe dafür um größere Summen erleichtert, um Geld, das ihm gar nicht gehört, sondern seiner Frau. Durch Zufall bekommt er eine kleinere Summe zugespielt.

    Siebentausend Reales waren sehr wenig Geld, um es mit einer zärtlichen Gefährtin zu teilen. Wie arm war in Wirklichkeit sein ganzes Leben gewesen! Er hatte von Almosen gelebt... und wollte der Liebhaber einer großen Künstlerin sein, die voller Bedürfnisse nach Luxus, voll kapriziöser Launen war... Elender! Er wurde rot bei der Erinnerung an gewisse maliziöse Andeutungen seiner neidischen Freunde, Anspielungen, die so versteckt wie giftig waren.

    Soll er das Geld zurückgeben? Soll er es behalten und seine Affäre finanzieren? Im Hintergrund hört er Gitarrenklänge, sie verleihen ihm Mut, der Versuchung nachzugeben:

    Die Musik gab ihm Energie, und die Energie gab ihm den Gedanken an Rebellion, den glühenden Wunsch nach Emanzipation ein ... von was? Von wem? Von allem, von allen; von seiner Frau, von der gängigen Moral, ja, von allem, was sich seiner Leidenschaft in den Weg stellen konnte. Er hatte eine Leidenschaft, das war offensichtlich. Also war er keine Niete, zumindest nicht eine solche Niete, wie er jahrelang geglaubt hatte.

    Aber die Selbsterhöhung durch die Leidenschaft trägt nicht weit, sie ist labil und störbar. Es genügt schon ein Leiserwerden der Musik:

    Da er auf der Straße die Gitarre des Kellners nicht mehr hörte, begann ihm das Herz in die Hose zu rutschen, und statt nach Hause zurückzukehren, fand er sich, ohne zu wissen, wie, im Foyer des Theaters wieder. Es war die Stunde der Probe. Bestimmt war Serafina dort. Diese instinktive Richtungsänderung missfiel ihm ganz und gar nicht. Sie war ein weiterer Beweis dafür, dass er sehr verliebt war. Oft hatte er gelesen, dass gute Liebende in ähnlichen Fällen das gleiche taten wie er, nämlich dem geheimnisvollen Magneten der Liebe folgen. Ja, und was er brauchte, war die Sicherheit, dass er eine verhängnisvolle, unbesiegbare Leidenschaft erlebte. Wenn das feststand, dann würde er alle Folgen, auch die verhängnisvollen, für legitim erachten.

    Dem Leser ist längst aufgegangen, dass Bonifacio nicht der Mann ist, mit einer Sängerin durchzubrennen - schon wegen der ungelösten Pantoffelfrage. Es kommt ohnehin noch anders, als er denkt (und das gilt für Bonifacio und den Leser gleichermaßen). Denn auch Emma, der es langweilig geworden ist, die tyrannische Kranke zu spielen, wird vom Virus der Kunst angesteckt. Ihr hat es der Bariton Minghetti angetan, ein Filou und würdiger Nachfahre der langen Reihe spanischer Picaros. Dieser Tradition des Scheunenromans widmet der Autor gleichsam en passant ein Pastiche, das nicht weniger brillant! ist als die ständigen Anleihen beim romantischen Vokabular. Als Bonifacio einmal spät von einem Rendezvous zurückkommt, löst er bei Emma nicht den obligaten Wut- und Eifersuchtsanfall aus, sondern eine überraschende erotische Attacke. Weil ihr Mann nach Reispuder riecht wie der angeschwärmte Bariton, zieht sie ihn zu sich ins Bett - und spielt, dieser sei jener. Köstlich, wie darin die anschließenden Schuldgefühle des unerwartet ehelich Verpflichteten gegenüber seiner Geliebten ausmalt - auch in der Sünde muss Ordnung herrschen.

    Seine große Leidenschaft entschuldigte in Bonifacios Augen die unerlaubte Beziehung mit der Künstlerin, aber in dem Augenblick, wo er Serafina hinterging, indem er sich in teuflischer Weise von den welken, aber ausdrucksstarken und melancholischen, von hochkonzentriertem Feuer erfüllten Reizen seiner legitimen Ehefrau fesseln ließ, war bewiesen, dass die angebliche große Leidenschaft gar nicht so groß und folglich weniger entschuldbar war.

    Von Ordnung ist ohnehin bald nichts mehr zu spüren. Emma, in das lärmende Leben der Künstlertruppe "eingetaucht wie in ein wonnevolles Bad", finanziert schließlich deren monatelangen Aufenthalt in der Stadt, finanziert Auftritte und Feste mit jenem Teil des väterlichen Vermögens, das sich nicht schon ihr Onkel unter den Nagel gerissen hat, der offiziell als dessen Verwalter auftritt. Am Rande der Szene, die von den in ihren entliehenen Gefühlen getriebenen, völlig hilflosen Romantikern bevölkert wird, tauchen derweil die Protagonisten einer neuen, ungeschminkt materialistischen Epoche auf, darunter der deutsche Fabrikant Körner, der an die (ja auch stets deutschen) Ingenieure und Tatmenschen der großen russischen Romane erinnert. Körner paktiert mit dem Onkel; der kriegt seine blaustrümpfige Tochter, wenn er das aus Emmas Vermögen herausgezogene Geld in die gemeinsame Pulverfabrik steckt. Bonifacio riecht den Braten, ist aber zu schwach, um zu reagieren; und das ist den beiden Geschäftemachern vollkommen klar:

    "Dieser Trottel will sich scheinbar informieren", sagte Körner.- "Ja, das habe ich gemerk.t Aber haben Sie nicht gesehen, was für ein dummes Gesicht er macht? Er versteht kein Wort."

    "Sein einziger Sohn" ist ein Desillusionsroman. Als solcher steht er in zwei Traditionslinien: einer gesamteuropäischen, die von der Romantik zum Realismus führt, und einer spezifisch spanischen, die zurück ins Barock verweist, die große Epoche der spanischen Literatur mit ihren Kippfiguren von Schein und Sein. Die Raffinesse von Leopolde Alas besteht darin, Bürger und Künstler nicht gegeneinander auszuspielen, sondern aufeinander zu beziehen: Jeder gibt für den anderen die Spiegelfläche der Wunschprojektion ab. So wie Bonifacio, Emma und ihre Umgebung vom höheren Leben der Kunst träumen, so wünscht sich die Sopranistin nichts heftiger als eine biedere Kleinstadtexistenz - und glaubt, ausgerechnet der Pantoffelheld Bonifacio könne sie ihr verschaffen.

    Der jagt aber längst einer neuen Chimäre hinterher: Denn Emma ist schwanger, und von dem erwarteten Sohn, seinem einzigen Sohn (das vorangestellte Adjektiv wirkt im spanischen noch emphatischer), erhofft er eine grundlegende Erneuerung seines verfahrenen Lebens, ja eine Wiedergeburt. Die Rolle, die er künftig spielen will, ist die Rolle eines vernünftigen, praktischen, tatkräftigen Familienvaters. Überflüssig zu sagen, dass ihm nichts weniger liegt als das. In einer grandiosen Phantasie (Sigmund Freud hätte seine Freude daran gehabt) hat er diesen Sohn während eines Konzerts quasi immateriell mit der Stimme Serafinas erzeugt; Emma fungiert in dieser Phantasie lediglich als "Leihmutter". Dass es realiter vielleicht ganz anders ist, der "einzige Sohn" nämlich vom Bariton stammt, wie der Leser vermutet und böse Zungen behaupten, bleibt bis zum Schluss ungewiss. Bonifacio ist es ohnehin ganz egal. Er glaubt ganz fest an seine Vaterschaft. In einer Folge sich selbst bestätigenden, tautologischen Formulierungen schleudert er seine Gewissheit der zweifelnden Serafina entgegen:

    "Mein Sohn ist mein Sohn. Ohne diesen Glauben könnte ich nicht leben. Ich bin sicher, Serafina, mein Sohn.... ist mein Sohn. Ohnja! Mein Gott! er ist mein Sohn!"

    Und Glaube, wissen wir, kann Berge versetzen. Warum nicht auch ein paar Gene? - Bonifacio ist keine imponierende Gestalt. Seine Frau wie auch seine Geliebte nennt ihn umstandslos einen Trottel. Sein Autor aber liebt ihn, mit seinen bei Aufregung notorisch versagenden Beinen und seinem Hasenherz, mit seinen angelesenen Gefühlen und seinen zaghaften Phantasien - und mit seinen Pantoffeln. darin gelingt es, die lächerlichen Züge seines Helden zugleich anrührend erscheinen zu lassen. Das Arsenal an literarischen Mitteln, aus dem er sich bedienen kann, ist imponierend. Souverän in der Handhabung von Erzählperspektive und Erzähltempo, entscheidet er immer punktgenau, wo gerafft und wo verzögert werden muss, setzt er das von Flaubert erfundene "blanc", das Überspringen längerer Zeiträume, mit großer Meisterschaft ein, und gibt der erlebten Rede, dem Modus indirekter Einfühlung, eine Intensität, die sonst nur der innere Monolog hat. Die drei Pünktchen, in denen Bonifacios Ängste ihren typographischen Ausdruck finden, klopfen zwischen den Sätzen wie sein zaghaftes Herz. Nur für Connaisseurs ganz nachzuvollziehen (und von der guten Übersetzung naturgemäß nicht ganz nachzubilden) sind die Elemente der "Intertextualität", mit denen darin zitiert und parodiert, wo er kann. Hier lugt die Ironie aus jedem Absatz, noch die Randfiguren sind scharfund pointiert gezeichnet, und in der beiläufig gesetzten Metapher steckt Witz und Geist.

    Am Ende sehen wir Bonifacio, gehörnt und ruiniert, aber von der Flamme seines Ideals erfüllt. Und das Festhalten an diesem Ideal, über alle Dementis der Wirklichkeit, gab ja auch dem größten Helden der spanischen Literatur seine imponierende - und gar nicht mehr traurige -Gestalt. Bonifacio ist ein würdiger Nachfahre Don Quijotes. Ein kleines Jahrhundert gebiert eben ein kleines Geschlecht, und so trägt Clarins Held statt der Ritterrüstung eben Schlafrock und Pantoffeln.

    "Sein einziger Sohn" war als erster Teil einer großen Romantetralogie konzipiert, darin hat den Plan nicht weiter verfolgt, hat sich stattdessen in Zeitungsartikeln, Vorlesungen und Debatten verausgabt. Mit 49 Jahren ist er gestorben. Ach - hätten unsere großen Autoren doch haushälterischer mit ihren Kräften, mit ihrer Gesundheit umgehen können! Dann hätten wir nicht nur noch mehr von Balzac, sondern auch mehr von darin: Mehr als die zwei wundervollen Romane, die er uns hinterlassen hat.