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"Seine Frau verfolgt alles, was er tut"

500 Millionen Nutzer hat Facebook, jeden Monat laden die User drei Milliarden Fotos hoch, täglich posten sie sechzig Millionen Statusmeldungen. Auch oder gerade in der Karibik, wie das neue Buch von Daniel Miller beweist, der das Facebook-Verhalten der Bewohner von Trinidad und Tobago untersuchte.

Von Matthias Eckoldt | 26.06.2012
    Mit Daniel Miller legt erstaunlicherweise kein Medientheoretiker, sondern ein Ethnologe eine umfassende Studie über Facebook vor. Wenn man sich genauer mit seinem Ansatz beschäftigt, erscheint dieser, auf den ersten Blick merkwürdige Umstand, jedoch geradezu zwingend. Miller wählt für seine Untersuchung, ganz nach dem Vorbild des Altmeisters der modernen Ethnologie Claude Lévi-Strauss, eine europaferne, möglichst abgeschlossene Kultur, die er unter einem bestimmten Aspekt untersucht. Seine erkenntnisleitende Frage lautet: Wie wirkt sich Facebook auf das Leben der Trinis aus? So nämlich titulieren sich die Bewohner der Republik Trinidad und Tobago selbst. Der Ethnologieprofessor vom University College in London recherchierte für seine Feldstudie ein Jahr lang - davon mehrere Monate vor Ort. Die Frage, warum ausgerechnet Trinidad, beantwortet Miller so:

    In meinen Augen hat die Ethnologie vor allem die Aufgabe, uns die Dinge aus anderen Blickwinkeln zu zeigen. Ich vermute, dass man in Trinidad nicht nur anders, sondern auch in mancherlei Hinsicht zukunftsweisend mit Facebook umgeht. So mag es zwar das Unternehmen Facebook sein, das die Infrastruktur des Netzwerkes vorantreibt, doch es sind die Menschen an Orten wie Trinidad, die Ideen darüber entwickeln, was sich mit dieser Infrastruktur anfangen lässt.

    So liefert Millers Buch "Das wilde Netzwerk" gleich zwei Aspekte: einerseits eine eindrückliche Schilderung einiger kultureller Eigenheiten der Trinis und andererseits eine genaue Analyse ihrer Aktivitäten im sozialen Netzwerk Facebook.

    Im Hauptteil porträtiert Miller sieben Facebook-Nutzer aus Trinidad. Dabei erweist er sich, um einen Terminus von Claude Lévi-Strauss zu verwenden, als teilnehmender Beobachter. Gleich in der ersten Fallstudie, die sich mit Marvin, dem Marketingchef einer Kakaoplantage beschäftigt, macht Daniel Miller für den Leser nachvollziehbar, wie ihm das geplante Thema aus den Augen gerät. Eigentlich wollte der Ethnologe im Gespräch mit Marvin erkunden, wie dieser Facebook für Marketingzwecke einsetzt, doch als sich die Männer im Büro gegenübersitzen, gewinnt ein ganz anderes Thema die Oberhand: Durch die Möglichkeiten und Versuchungen von Facebook steht Marvins Ehe kurz vor dem Aus.

    Seine Frau verfolgt alles, was er tut. Sie informiert sich über jede neue "Freundin" und versucht herauszufinden, ob er mit ihr was am Laufen hat. Marvin kommuniziert ständig über Facebook mit Frauen und hinterlässt dabei fast immer schriftliche Spuren, die sie verfolgen, abfragen und zum Anlass von Verdächtigungen nehmen kann. In seinen Augen lief es inzwischen darauf hinaus, dass seine eigene Frau eine Stalkerin geworden war.

    Marvins Fall ist kein Einzelfall, denn die Insulaner aus der Karibik verbindet nach Aussage von Daniel Miller eine hochgradige Anfälligkeit für Eifersucht, die letztlich die Kehrseite ihrer Lust an Skandalen und Skandälchen ist. Bacchanal nennt sich diese leicht destruktive karibische Leidenschaft, Unruhe in die Beziehungen anderer zu bringen und sich daran voyeuristisch zu ergötzen. Dafür ist Facebook ideal. Denn hier kann man unter seinen virtuellen Freunden, von denen die Porträtierten jeweils mehrere Hunderte haben, despektierliche Fotos posten und mit entsprechenden Kommentaren Eifersüchteleien anzetteln oder unumwunden amouröse Sehnsüchte anheizen. Letzteres ist die Spezialität der Anfang zwanzigjährigen Vishala.

    Ihr Profil lässt keine Fragen hinsichtlich dessen offen, was sie alles mit einem anstellen könnte, wenn sie sich entschlösse, es mit einem zu treiben. Neben reißerischen Fotos präsentiert sie dort Psychotests zu den Themen "Wie gut bist du im Bett?", Welche Stellungen magst du?", bei denen sie in der Regel als Hardcore-Liebhaberin abschneidet.
    Gewissermaßen am anderen Ende der Skala für amouröse Abenteuer befindet sich Arvind. Ihm fehlt es an Ausbildung, Job, Partnerin und Summa sumarum an Selbstbewusstsein. Daniel Miller erzählt die Geschichte von Arvinds Wandlung und macht das Facebook-Spiel FarmVille für den Aufbruch des jungen, verschüchterten Trinis verantwortlich, der darüber immer mehr Kontakte und schließlich sogar in der ersten Wirklichkeit Arbeit und Freundin findet. Auch dem Menschenrechtsanwalt Dr. Karamath hilft Facebook nach einer Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselt, aus der Isolation heraus und kann ihm ein wenig den Geschmack seines vergangenen wilden Lebens als Mittelpunkt großer, kosmopolitischer Partys zurückgeben.

    Die detailreichen und für den karibikunkundigen Leser mit viel hilfreichem Kontextwissen ausgestatteten Porträts sind spannend zu lesen. Sie ähneln weniger journalistischen oder gar wissenschaftlichen Arbeiten, sondern erinnern von der Anlage her eher an fein komponierte Erzählungen. Leider belässt es Daniel Miller nicht dabei, sondern schiebt einen zweiten Teil nach, indem er seine Vor-Ort-Recherchen auswertet. In fünfzehn Thesen über Facebook unterzieht Miller sich einem routinierten, seinen Lesern jedoch einem zähen wissenschaftlichen Exerzitium. Die vergleichende Analyse von Aufsätzen seiner Kollegen über Facebook, die zumeist nur in Special-Interest-Magazinen erschienen sind, ist schlicht ermüdend, weil ihnen genau das fehlt, was den ersten Teil des Buches so brillant machte: menschliche Schicksale und Leidenschaften im Fokus einer neuen Kommunikationstechnologie.

    Letztlich wäre wohl doch kein ganz anderes Buch entstanden, wenn Daniel Miller seine Recherchen in Europa getätigt hätte. Auch hier kann man im Prinzip die ganze Spannweite der Aktivitäten im sozialen Netzwerk antreffen, die der Autor in Trindad und Tobago erforschte. Dessen ungeachtet eröffnet aber seine Studie in der Karibik interessante Aspekte hinsichtlich einer möglichen Zukunft von Facebook. Die Trinis nämlich wünschen sich als passionierte Netzwerker, dass Facebook das Internet komplett ersetzt. Weltnachrichten, virtuellen Shops, Spiele, Unterhaltung jeder Art, E-Mail-Account und Banking sollten nach dem Motto Alles-aus-einer-Hand in das individuelle Facebook-Profil integriert werden. Damit hat Miller tatsächlich eine Perspektive herausgearbeitet, die in unseren Breiten noch nicht so recht erahnbar ist.

    Daniel Miller
    Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook.", edition unseld, 220 S., 15 Euro